Diesen Vortrag hielt Tomas Castanheira, ein führendes Mitglied der brasilianischen Socialist Equality Group (GSI), im Rahmen der internationalen SEP-Schulungswoche, die vom 30. Juli bis 4. August 2023 stattfand.
Der Eröffnungsbericht des Vorsitzenden der internationalen WSWS-Redaktion, David North, mit dem Titel „Leo Trotzki und der Kampf für den Sozialismus in der Epoche des imperialistischen Kriegs und der sozialistischen Revolution“ ist am 12. August 2023 erschienen. Auch der zweite Vortrag, „Die historischen und politischen Grundlagen der Vierten Internationale“ (17. September 2023) und der dritte Vortrag, „Der Ursprung des pablistischen Revisionismus, die Spaltung in der Vierten Internationale und die Gründung des Internationalen Komitees“ (29. September 2023) wurden in deutscher Sprache publiziert. In den kommenden Wochen wird die WSWS alle weiteren Vorträge der Schulung veröffentlichen.
Einleitung
Genossinnen und Genossen, im vergangenen Juni waren es 60 Jahre seit dem schändlichen Vereinigungskongress zwischen der amerikanischen Socialist Workers Party (SWP) und ihren Anhängern in Lateinamerika und Asien und dem Internationalen Sekretariat der Pablisten.
Das so geschaffene Vereinigte Sekretariat stellte ein internationales Bündnis des Kleinbürgertums dar, mit dem Ziel, das Programm der Vierten Internationale zu verwerfen: dieses Programm, das der internationalen Arbeiterklasse die alleinige Führerschaft bei der Abschaffung des Kapitalismus zuweist.
Die Resolution dieses Kongresses von Renegaten verkündete, dass mit der Machtübernahme einer kleinbürgerlich-nationalistischen Bewegung in Kuba unter der Führung von Fidel Castro eine „neue Epoche in der Geschichte der Weltrevolution“ begonnen habe. Sie wies dem Trotzkismus die Rolle einer zweitrangigen Hilfstruppe zu, um in den Kolonialländern wie auch in den Metropolen des Kapitalismus zur „Stärkung und Bereicherung der internationalen Strömung des Castroismus“ beizutragen.[1]
Dieser Versuch, die Vierte Internationale unwiderruflich aufzulösen, wurde durch die prinzipienfeste Haltung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) unter der Führung von Gerry Healy und der Socialist Labour League (SLL) vereitelt, unterstützt von der französischen Sektion, der Organisation Communiste Internationaliste (OCI).
Der Kampf, den die SLL zwischen 1961 und 1963 führte, sicherte das Fortbestehen des Trotzkismus als eine eigenständige, internationale und historische politische Strömung. Er zählt zu den bedeutsamen Ereignissen in der Geschichte der marxistischen Bewegung.
Die Krise des Stalinismus nach der Spaltung von 1953
Nach 1953 bestätigten wichtige Ereignisse im internationalen Klassenkampf die große Bedeutung der politischen Differenzen, die im Kampf gegen den Pablismus zutage getreten waren. Vor allem in der UdSSR und in den osteuropäischen Ländern brachen Massenkämpfe gegen die Herrschaft der stalinistischen Bürokratie aus.
Diese Kämpfe gipfelten in der ungarischen Revolution, die von der sowjetischen Regierung im November 1956 brutal niedergeschlagen wurde. Das trotzkistische Programm der politischen Revolution, das das IKVI gegen die Revisionen des Pablismus verteidigt hatte, wurde so eindrucksvoll bestätigt.
Die britischen Trotzkisten zogen wichtige Lehren aus dieser Erfahrung und kamen zu dem Schluss, dass „die spontane Entwicklung der politischen Revolution sie zwar auf ein hohes Niveau bringen kann ... die ersten Beispiele der politischen Revolution im wirklichen Leben aber auch die unbedingte Notwendigkeit einer bewussten Führung unterstrichen haben“.[2]
Das Massaker in Budapest bewies, dass die von den Pablisten genährten Illusionen, die Bürokratie könne durch den Druck der Massen nach links gedrückt werden, die Arbeiterklasse nur entwaffnen und weitere blutige Niederlagen vorbereiten konnten. Doch das Internationale Sekretariat der Pablisten kam zu gegenteiligen Schlussfolgerungen.
Die wachsende Krise des Stalinismus aufgrund der Offensive der Arbeiterklasse war bereits 1956 auf dem Zwanzigsten Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion deutlich geworden. In seiner „Geheimrede“ erkannte Nikita Chruschtschow an, dass Stalin Verbrechen begangen hatte. Damit wollte Chruschtschow den massiven Widerstand, der der verzweifelten Bürokratie entgegenschlug, auf eine einzelne Person lenken.
Die Pablisten sahen darin die Verwirklichung ihrer Prophezeiungen einer friedlichen Selbstreform der Bürokratie und des Wachsens von Tendenzen innerhalb der Bürokratie, die für die Interessen der Arbeiterklasse eintreten würden.
Doch die wesentliche Bedeutung der Krise von 1956 „bestand … darin, dass sie eine tiefgreifende Veränderung des weltweiten Kräfteverhältnisses zwischen der Vierten Internationale und der entarteten stalinistischen Bürokratie einläutete“, wie David North schrieb. Er fuhr fort:
„Wie die Labour Review im Januar 1957 erklärt hatte, war die ‚große Eiszeit‘ zu Ende. Es zeichneten sich objektive Bedingungen ab, die die Lösung der historischen Krise der Führung der Arbeiterklasse begünstigten.[3]
Meinungsverschiedenheiten innerhalb des IKVI
Die Reaktion auf diese grundlegende Veränderung der politischen Situation zeigte, dass sich innerhalb der IKVI selbst deutliche Differenzen abzeichneten.
Unter Healys Führung begann die britische Sektion des IKVI eine große politische Offensive in der Arbeiterklasse, der Jugend und unter Intellektuellen, um Klarheit zu schaffen über die Geschichte und das Wesen des Kampfes der Trotzkisten gegen den Stalinismus, der nun durch die Ereignisse bestätigt wurde.
Wie North schrieb:
Die Stärke des Eingreifens der britischen Trotzkisten in die Krise des Stalinismus war ein Ergebnis der Klarheit, die sie aufgrund des Kampfs gegen den pablistischen Revisionismus gewonnen hatten. Gerade weil die britische Sektion jede Versöhnung oder Kapitulation gegenüber dem Stalinismus zurückgewiesen hatte, war Healy in der Lage, aus den Reihen der Stalinisten wichtige Kräfte zu gewinnen.[4]
Mit dieser Kampagne knüpften die britischen Trotzkisten neue und stärkere Bande zur Arbeiterklasse und wurden zu einer mächtigen politischen Strömung in Großbritannien. Ihre Erfolge fanden ihren Niederschlag in der Gründung der Socialist Labour League im Jahr 1959.
Eine völlig andere Haltung nahm die Socialist Workers Party (SWP) in den Vereinigten Staaten ein. Ihre Analyse der ungarischen Revolution und der Chruschtschow-Rede hatte zwar einen prinzipiellen Charakter, weil ihr internationaler Kampf gegen den Pablismus erst kurz zurücklag, doch geriet diese Linie in direkten Konflikt mit dem zunehmend opportunistischen Kurs, den die SWP in den Jahren seit 1953 mehr und mehr verfolgte.
North schrieb:
Der lange Wirtschaftsboom, die Erstarrung der Arbeiterbewegung, der Würgegriff der Bürokratie um die Gewerkschaften und die nachklingenden Folgen der antikommunistischen Hysterie übten gewaltigen Druck auf die Kader der SWP aus.[5]
Im Gegensatz zu den britischen Trotzkisten bestand die Antwort der SWP auf die Krise des Stalinismus in der Praxis darin, eine Politik der „Umgruppierung“ aufzunehmen. Diese war darauf ausgerichtet, die Partei im vergifteten Milieu des amerikanischen Mittelklasseradikalismus aufzulösen. Anstatt die politischen Prinzipien zu bekräftigen, die die trotzkistische Bewegung vom bankrotten Stalinismus schieden, versuchte die SWP, diese Unterschiede kleinzureden, um den reuigen Elementen der stalinistischen Bürokratie entgegenzukommen.
1957: Die SWP auf dem Weg zur Wiedervereinigung
Die wesentliche Bedeutung der Vorschläge, die zu diesem Zeitpunkt für eine „Wiedervereinigung“ zwischen dem Internationalen Komitee und dem Internationalen Sekretariat aufkamen, fasste North so zusammen:
Nach dem Jahr 1956 richteten sich die Bemühungen der Pablisten, um eine militärische Analogie zu verwenden, darauf, die belagerten und geschwächten Bürokratien gegen die Gefahr einer Offensive der wiedererstarkten trotzkistischen Kräfte abzuschirmen. Die Pablisten reagierten auf die Krise von 1956, indem sie unter dem Deckmantel der Wiedervereinigung (d. h. der Beendigung der Spaltung von 1953) versuchten, das Internationale Komitee zu spalten.[6]
Die anfänglichen Positionen der SWP in Bezug auf Ungarn und die UdSSR konnten eine Wiedervereinigung mit den Pablisten in keiner Weise rechtfertigen. Ihr dahingehendes Streben war „ein organischer Ausdruck ihrer Kapitulation vor dem Druck feindlicher Klassenkräfte in den Vereinigten Staaten“.[7]
Im März 1957 schrieb der nationale Vorsitzende der SWP, James P. Cannon, ohne Rücksprache mit den Genossen des IKVI einen Brief an die sri-lankischen Zentristen der Lanka Sama Samaja Party (LSSP) und akzeptierte deren Forderungen nach einer „sofortigen Vereinigung der trotzkistischen Kräfte in allen Ländern“. Die prinzipienlose Grundlage dieses Schrittes zeigte sich darin, dass Cannon politische Differenzen beiseiteschob und eine bequeme Vereinbarung für die „gemeinsame politische Aktion“ finden wollte.[8]
Healys Reaktion auf Cannons opportunistisches Manöver schuf die politische Grundlage für die Diskussionen in den folgenden Jahren zwischen den britischen Trotzkisten und der SWP über die Wiedervereinigung mit den Pablisten.
In einem Brief an Cannon vom Mai 1957 maß Healy bewusst den organisatorischen Fragen geringeres Gewicht bei und begründete dies damit, dass derartige Vorschläge „die sehr tiefgreifenden politischen Differenzen“ mit den Pablisten nicht überwinden könnten.
Dagegen hob er die Notwendigkeit hervor, den 1953 begonnenen Kampf weiterzuführen: „Entscheidend ist in der gegenwärtigen Periode die Stärkung unserer Kader, und dies ist nur möglich durch eine gründliche Ausbildung in den Fragen des Revisionismus.“ Abschließend schrieb Healy: „Die britische Sektion wird niemals etwas zustimmen, das einer Klärung wesentlicher Fragen im Weg stehen könnte.“[9]
Die Konferenz von Leeds 1958
Eine Konferenz des IKVI in Leeds im Juni 1958 analysierte die neue Entwicklung der Weltlage und bekräftigte die Grundsätze des Kampfs des IKVI gegen den Pablismus.
Als Antwort auf die Krise des Stalinismus erklärte die Konferenzresolution, dass „alle Auffassungen [zurückgewiesen wurden], nach denen der Druck der Massen die Krise der Führung lösen könne, indem er Reformen von dem bürokratischen Apparat“ in der Sowjetunion und Osteuropa erzwinge.[10]
Die Resolution räumte zwar die Möglichkeit gemeinsamer Aktionen mit Tendenzen ein, die mit den Bürokratien brechen, forderte aber, dass dies „an eine ideologischen Offensive gegen den Stalinismus, die Sozialdemokratie, den Zentrismus, die Gewerkschaftsbürokratie und die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führungen der nationalen Bewegungen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern“ geknüpft sein müsse.[11]
Die Resolution wies auch die Konzeption der Pablisten zurück, das Zentrum der Weltrevolution habe sich in die Kolonialländer verlagert: „Die Weltrevolution kann erst dann einen entscheidenden Schritt vorwärts tun, wenn sie in den kapitalistischen Metropolen durchbricht.“ Sie fügte hinzu, die „Gegenoffensive der Arbeiter in den kapitalistischen Metropolen wird [ihrerseits] der kolonialen Revolution starken Auftrieb verleihen“.[12]
Die Führung der Socialist Workers Party wies die Schlussfolgerungen der Konferenz zurück. Sie offenbarte ihr opportunistisches Konzept einer Wiedervereinigung mit den Pablisten, indem sie die Dokumente anprangerte, weil sie „eine Diskussion um die Fragen von 1953 beinhalten, die schon längst von Ereignissen überholt wurden, über die im Wesentlichen politische Übereinstimmung besteht“.[13]
Nahuel Morenos Ablehnung der Leeds-Dokumente
Auch Nahuel Moreno, der im Namen der argentinischen Sektion an der Konferenz in Leeds teilnahm, verurteilte die Dokumente. Morenos Beiträge nahmen einige der wichtigen Themen vorweg, die bald im Zusammenhang mit der kubanischen Revolution aufkommen sollten. Diese Fragen, die den Klassendruck in Lateinamerika zum Vorschein brachten, waren die Grundlage, auf der die Sektionen die Wiedervereinigung mit den Pablisten unterstützten.
Morenos Hauptvorschlag auf der Konferenz war die Auflösung der einzelnen nationalen Sektionen in sogenannte „Revolutionäre Einheitsfronten“, die auf einer „völlig neuen Strategie“ für die Epoche basieren sollten. Im Kern ging dieses pablistische Programm von folgenden Prämissen aus:
Die Krise des Apparats setzt unbewusste revolutionäre Tendenzen frei ... Sie hat eine tiefe objektive Bedeutung: Sie markiert den Beginn einer neuen revolutionären Führung der Massenbewegung ...
Es ist unrealistisch, davon auszugehen, dass die unbewussten revolutionären Tendenzen, die es in der Arbeiterbewegung und in den kolonialen Massen der ganzen Welt gibt und weiterhin geben wird, sofort oder von selbst Teil der Vierten Internationale werden.[14]
Diese „unbewussten revolutionären Tendenzen“, und nicht die Partei, sollten dafür verantwortlich sein, „die dringendsten revolutionären Bedürfnisse des Landes, des Bereichs oder der Gewerkschaft, der Universität oder der intellektuellen Kreise, in denen wir agieren, zu erfüllen.“
Zurück in Argentinien, berichtete Moreno im Januar 1959 anderen lateinamerikanischen Sektionen, dass er mit den Perspektiven der Konferenz in Leeds nicht einverstanden sei. Sein Bericht mit dem Titel: „Permanente Revolution in der Nachkriegszeit“ konstatierte die „totale Ablehnung“ des folgenden Absatzes der Resolution von Leeds:
In den kolonialen und halbkolonialen Ländern besteht unsere zentrale Aufgabe darin, revolutionäre proletarische Parteien aufzubauen. Bewaffnet mit der Theorie der permanenten Revolution, werden diese an vereinten antiimperialistischen Fronten teilnehmen, um eine proletarische Führung der Massen zu etablieren. Wir lehnen alle Vorstellungen ab, die das Programm der sozialen Revolution den begrenzten Zielen der Bourgeoisie oder des Kleinbürgertums unterordnen.[15]
Moreno war gegen diese Formulierung, weil er die Theorie der permanenten Revolution vollständig ablehnte. Unter dem Vorwand, sie auf den Stand der Zeit zu bringen, präsentierte er ein diametral entgegengesetztes Konzept der historischen Entwicklung:
Die bürgerlich-demokratische Revolution und die sozialistische Revolution waren früher nur in den kolonialen und halbkolonialen Ländern eng miteinander verbunden. Aber heute stellen wir fest, dass die demokratische Revolution in den kapitalistischen Metropolen, im Herzen der Arbeiterrevolution selbst, eine Rolle ersten Ranges spielt, sie ist eng mit der Arbeiterrevolution verbunden. Das Negerproblem in Nordamerika und das der Algerier in Frankreich ist das beste Beispiel dafür. ... England wird keine Ausnahme sein und innerhalb von zwei oder drei Jahren in die Fußstapfen von Frankreich und Nordamerika treten; in England werden wir ein Rassenproblem haben, das direkt oder indirekt vom Imperialismus und seiner Wirtschaftskrise verursacht wird.[16]
Die kubanische Revolution und die Zurückweisung des Marxismus durch die SWP
Die Socialist Workers Party benutzte die kubanische Revolution zur vollständigen Revidierung ihres Programms, um es mit ihrer opportunistischen Praxis und ihrem Streben nach Wiedervereinigung mit den Pablisten in Einklang zu bringen.
Im Laufe dieses Prozesses wurde Joseph Hansen zum führenden Theoretiker der SWP. Wie das IKVI später herausfand, agierte Hansen als Agent der GPU und später des FBI. Er verkörperte die Unterwanderung der trotzkistischen Bewegung durch bewusste Agenten feindlicher Klassenkräfte.
Hansens Aufstieg zur politischen Autorität war jedoch vor allem Ausdruck der Kapitulation der SWP vor dem ideologischen Druck des Kleinbürgertums im Herzen des Imperialismus. Als sie die Perspektive der sozialistischen Revolution in den Vereinigten Staaten aufgab und die Fesseln des Marxismus abstreifen wollte, um ihren opportunistischen Weg zu gehen, war Hansen der richtige Mann für diese Aufgabe.
Der Sturz der Batista-Diktatur im Jahr 1959 durch die von Fidel Castro angeführte Bewegung des 26. Juli war Teil einer ganzen Reihe von antiimperialistischen Kämpfen und Revolutionen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Während die SWP Castros Regime anfangs als bürgerlich-nationalistisch charakterisiert hatte, änderte sie im Laufe des Jahres 1960 ihre Linie von Grund auf.
Als Castros Regime unter dem Druck der unerbittlichen Forderungen des amerikanischen Imperialismus eine Reihe von Verstaatlichungen durchführte und seine Beziehungen zur Sowjetunion festigte, behauptete Hansen, das Regime habe einen „Arbeiterstaat“ errichtet und führe in Kuba eine sozialistische Revolution durch.
Die SWP argumentierte, dass unter dem gewaltigen Einfluss neuer objektiver Bedingungen die „kleinbürgerliche Führung, die mit einem bürgerlich-demokratischen Programm antrat, der dialektischen Logik der Revolution folgte, und nicht der formalen Logik ihres eigenen Programms. Sie errichtete schließlich den ersten Arbeiterstaat in der westlichen Hemisphäre und rief ihn zum Vorbild für ganz Lateinamerika aus.“[17]
Wie Moreno behauptete auch Hansen, dass er die Theorie der permanenten Revolution lediglich aktualisieren wolle. Er argumentierte, es sei eine Bestätigung von Trotzkis Theorie, dass unbewusste kleinbürgerliche Elemente von selbst zu der Erkenntnis der Notwendigkeit der sozialistischen Revolution kämen.
Mit dieser Revision der Theorie wollte Hansen die durch die russische Revolution erbrachte und durch die katastrophalen Experimente mit der Zwei-Stufen-Theorie unter Führung der Stalinisten im Negativen bestätigte Erkenntnis widerlegen, dass das Kleinbürgertum und die Bauernschaft in der Epoche des Imperialismus keine unabhängige politische Rolle spielen können. Zwar sollte dies für die Kolonialländer gelten, doch die natürliche Schlussfolgerung war, dass das Kleinbürgertum auch in den fortgeschrittenen Ländern eine führende Rolle spielen könnte.
Hansen betrachtete Castro, Guevara und ihre Mitstreiter als politische Jungfrauen, die erst noch zu bewussten Marxisten heranreifen würden, und erklärte Kuba zum einzigen „nichtkorrumpierten Arbeiterregime“ der Welt!
Indem die SWP diese Männer der Tat lobte, die angeblich ohne klaren Plan eine Revolution initiierten und durch ihre intuitive Reaktion auf die Ereignisse den Kapitalismus besiegten und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft einleiteten, erklärte sie die leninistische Partei und die Vierte Internationale zu nutzlosen Werkzeugen.
Die politischen Implikationen der Charakterisierung Kubas als „Arbeiterstaat“
Aus der Charakterisierung des kubanischen Regimes als „Arbeiterstaat“ ergaben sich weitreichende Folgerungen für die marxistische Theorie. North erörtert sie eingehend in „Das Erbe, das wir verteidigen“:
Zur Zeit von 1939–1940, als es in der SWP eine harte Auseinandersetzung über den Klassencharakter des sowjetischen Staates gab, forderte Trotzki die Minderheit um Shachtman und Burnham heraus, klar und deutlich zu sagen, welche strategischen und programmatischen Schlussfolgerungen sich aus ihrer angeblichen Entdeckung, die Sowjetunion sei kein Arbeiterstaat mehr, ergeben würden. So machte er klar, dass es nicht einfach ein Streit um Worte war. Wenn die Minderheit ablehnte, wie die Vierte Internationale die UdSSR als Arbeiterstaat zu bezeichnen, dann mussten unweigerlich in allen Grundfragen tiefgreifende Differenzen zum Trotzkismus bestehen.
Ähnlich war die Frage von Kuba kein Streit um Worte. Hansen versuchte, einer grundsätzlichen Aussage über die Folgen, die sich aus der Definition Kubas als Arbeiterstaat für die marxistische Theorie und das Programm der Vierten Internationale ergaben, auszuweichen. Er vermied eine genaue Erklärung, welche Schlussfolgerungen die trotzkistische Bewegung aus der angeblichen Errichtung eines Arbeiterstaates unter Castros kleinbürgerlicher, nichtmarxistischer Führung ziehen sollte.[18]
Was waren diese Schlussfolgerungen?
Wenn Arbeiterstaaten durch kleinbürgerliche Guerillaführer errichtet werden konnten, die sich vorwiegend auf die Bauernschaft stützten und keine besondere historische, organisatorische und politische Verbindungen zur Arbeiterklasse hatten, und das unter Bedingungen, in denen man keine Organe der Klassenherrschaft ausfindig machen konnte, durch die die Arbeiterklasse ihre Diktatur ausübte, dann folgte daraus eine insgesamt neue Auffassung des historischen Wegs zum Sozialismus, die mit der marxistischen nicht das Geringste zu tun hatte.
Marx‘ Schriften über die Kommune und Lenins Feststellung über die universelle Bedeutung der Sowjetherrschaft als neue, vom Proletariat „entdeckte“ Form der Staatsmacht des ersten nichtbürgerlichen Staatstyps wurden damit hinfällig ...
Die Bedeutung der Bemühungen von Generationen von Marxisten, das Proletariat unabhängig von allen anderen Klassen, einschließlich der unterdrückten Bauernschaft, zu organisieren und die Arbeiterbewegung mit wissenschaftlichem sozialistischem Bewusstsein zu erfüllen, wurde offen in Zweifel gezogen.[19]
Liquidatorentum in Lateinamerika
Die liquidatorischen Standpunkte, die die SWP im Streben nach Wiedervereinigung mit den Pablisten entwickelte, wirkten sich unmittelbar und katastrophal auf die Entwicklung der trotzkistischen Bewegung in Lateinamerika aus.
Die Trotzkisten in Kuba wurden aufgefordert, sich vollständig der „bald zu bildenden einheitlichen revolutionären Partei“ unterzuordnen, „in der sie loyal, geduldig und zuversichtlich für die Umsetzung des vollständigen revolutionär–sozialistischen Programms, das sie vertreten, arbeiten können“.[20]
Schon bald darauf beschlagnahmte das Castro-Regime die Druckerei der kubanischen Trotzkisten, zerstörte den Schriftsatz für eine kubanische Ausgabe von Trotzkis Permanenter Revolution und sperrte ihre führenden Mitglieder ein.
In einer Resolution von 1962 dehnte die SWP diese kriminelle politische Orientierung auf die Revolutionäre in der gesamten Region aus:
Trotzkisten in ganz Lateinamerika sollten versuchen, alle Kräfte, unabhängig von ihrer Herkunft, zusammenzubringen, die bereit sind, bei den revolutionären Kämpfen in ihren eigenen Ländern von der kubanischen Erfahrung auszugehen.[21]
Diese Ratschläge wurden in einer Reihe von Ländern befolgt, mit katastrophalen Ergebnissen. Als die Revolutionäre Arbeiterpartei Chiles (POR) sich anschickte, sich in der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR), ein Zusammenschluss bürgerlicher Tendenzen, aufzulösen, verabschiedete sie eine Resolution, die die SWP 1961 in ihrem Organ International Socialist Review veröffentlichte. Darin heißt es:
Diese wachsenden militanten Strömungen tendieren dazu, Bewegungen zu bilden, die aus den Strukturen der alten zentristischen Formationen ausbrechen und letztlich revolutionäre Strömungen begünstigen, die die Dinge „a la cubana“ konsequent zu Ende führen wollen.
Die neuen Kräfte, die durch die kubanische Revolution freigesetzt werden, ebnen den Weg für den Zusammenschluss verschiedener revolutionärer Gruppen, unabhängiger militanter Sektoren und linker Tendenzen, während es unter den erwähnten zentristischen Formationen zu Spaltungen kommt. Die Aufgabe der Trotzkisten ist es daher, all diese militanten und intuitiv revolutionären Strömungen zu ermutigen und zu entwickeln und gleichzeitig jede antiimperialistische Mobilisierung zu unterstützen.[22]
Dieses liquidatorische Vorgehen beraubte die chilenische Arbeiterklasse in der entscheidenden revolutionären Situation, die in den folgenden Jahren entstand, einer marxistischen Führung. Das besiegelte ihre Niederlage und führte 1973 zur Errichtung der brutalen Militärdiktatur unter Pinochet.
In einem Brief an Hansen von 1961 kommentierte ein völlig demoralisierter Jim Cannon die opportunistischen Perspektiven der SWP für Lateinamerika so:
Merkwürdig ist, dass diese eindeutigen Vorschläge zu einigen sektiererischen Tendenzen in Widerspruch stehen, nicht nur bei unseren eigenen lateinamerikanischen Gesinnungsgenossen, sondern auch bei den lateinamerikanischen Pablisten. Aber eine klare und eindeutige Darlegung unserer Position im Sinne der obigen Vorschläge von der SWP, die die kubanische Revolution unter den schwierigsten Umständen konsequent verteidigt hat, sollte eine beträchtliche Autorität haben.
Sie könnte den Weg für eine bessere Konsultation und Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Trotzkisten beider Lager öffnen.[23]
Wie er selbst erkannte, hatten Cannon und seine Partei zu diesem Zeitpunkt die Perspektiven des Pablismus vollständig übernommen, und in einigen Fällen gingen sie dabei noch weiter als die Pablisten.
Die Trotzkisten gehen in die Offensive
Eine entscheidende Initiative der SLL Anfang 1961 brachte die orthodoxen Trotzkisten im Kampf gegen den Revisionismus erneut in die Offensive.
In einem Schreiben an die Führung der SWP im Januar 1961 wies die SLL den Versuch der Amerikaner, die Bedeutung der Spaltung von 1953 auf organisatorische Probleme zu reduzieren, entschieden zurück. Die britischen Trotzkisten bekannten sich zu den Grundsätzen von Cannons „Offenem Brief“ und konfrontierten die amerikanische Führung direkt mit der Frage, ob sie noch dazu stehe.
Die SLL bewertete die Bedeutung des Pablismus vom Standpunkt der revolutionären Aufgaben, vor denen die trotzkistische Bewegung stand, und schrieb:
Gerade weil die Möglichkeiten, die sich dem Trotzkismus eröffnen, so gewaltig sind, und daher die Notwendigkeit politischer und theoretischer Klarheit so groß ist, müssen wir uns nachdrücklich gegenüber dem Revisionismus in allen seinen Formen abgrenzen. Es ist an der Zeit, die Periode zu beenden, in der der pablistische Revisionismus als eine Strömung innerhalb des Trotzkismus betrachtet wurde.[24]
In einem Folgebrief vom 8. Mai 1961 wandte sich die SLL gegen die revisionistische Linie, die zu Castros Regime entwickelt wurde. Sie erklärte: „Auch wenn die bürgerliche Revolution in Kuba durch die Politik der USA gezwungen wurde, über die normalen Grenzen der sozialen Maßnahmen einer bürgerlichen Revolution hinauszugehen … rechtfertigt dieses ‚außergewöhnliche Ergebnis einer besonderen Situation‘ keine Revision unserer Definition eines Arbeiterstaats.“
Weiter heißt es in dem Brief:
Selbst wenn Castro und sein Kader sich „bekehren“ würden, würde die Revolution dadurch proletarisch? ... Wenn schon die Bolschewiki nicht ohne die bewusste Unterstützung der Arbeiterklasse die Revolution führen konnten, wie dann Castro? Davon ganz abgesehen müssen wir politische Tendenzen auf einer Klassengrundlage einschätzen, danach, wie sie sich über lange Perioden hinweg in Beziehung zur Bewegung der Klassen im Kampf entwickeln. Keine proletarische Partei, und schon gar keine proletarische Revolution, wird in irgendeinem rückständigen Land aus bekehrten kleinbürgerlichen Nationalisten hervorgehen, die „natürlich“ oder „zufällig“ über die Bedeutung von Arbeitern und Bauern stolpern. ...
Die maßgeblichen imperialistischen Politiker in den USA und in Großbritannien wissen sehr genau, dass der Besitz und die strategischen Bündnisse des internationalen Kapitals in Asien, Afrika und Lateinamerika nur aufrechterhalten werden können, wenn sie Führern dieser Art die politische „Unabhängigkeit“ geben oder ihren Sieg über feudale Elemente wie Faruq und Nuri as-Said akzeptieren.[25]
Die SLL fasste zusammen: „Trotzkisten sind nicht dazu da, die Rolle solcher nationalistischer Führer aufzuwerten.“
Da die SWP-Führung sich bereits eindeutig für den Weg des Liquidatorentums entschieden hatte, waren diese Bedingungen für sie offensichtlich inakzeptabel. Die britischen Trotzkisten dagegen waren entschlossen, die internationale Bewegung geduldig über das Wesen der erneuten politischen Spaltung aufzuklären, die sich deutlich abzeichnete.
Im Streit der Ideen während der beiden folgenden Jahre war die SLL im Vorteil. Während die SWP mit ihren Argumenten ihre Gegner einschüchtern und ihre unmittelbaren und engstirnigen fraktionellen Ziele durchsetzen wollte – „kein einziger einsamer Trotzkist in ganz Lateinamerika“ werde „die SLL-Position zu Kuba auch nur diskutieren wollen“, rief Hansen aus – verstanden Healy und seine Genossen diesen theoretischen Kampf als entscheidend für die Verwirklichung ihrer revolutionären historischen Ziele.
Wie Cliff Slaughter während der Diskussion feststellte:
In einer Zeit einer revolutionären Entwicklung in der Arbeiterbewegung ist höchste Klarheit und Eindeutigkeit der politischen Linie unbedingt notwendig. Das erreicht man nur durch die Auseinandersetzung mit falschen Vorstellungen, um zu einem genauen Abbild der realen Situation zu gelangen; es erfordert einen Kampf gegen den Revisionismus, der immer den Druck der herrschenden Klasse widerspiegelt. Dafür muss man die Geschichte unserer Bewegung selbst wissenschaftlich untersuchen. Gerade um den revolutionären Elementen in der Arbeiterklasse eine internationale marxistische Strategie an die Hand zu geben, ist es notwendig, jeglichen Revisionismus mit letzter Konsequenz zu bekämpfen und unsere eigene gegenwärtige Position als Ergebnis von Konflikten zu verstehen, die wir bewusst gelöst haben.[26]
In diesem Sinne fühlten sich die britischen Trotzkisten bestätigt, als die Socialist Workers Party in dem Dokument „Problems of the Fourth International and the Next Steps“ (Probleme der Vierten Internationale und die nächsten Schritte), das sie im Juni 1962 verabschiedete, „die prinzipiellen Fragen, die die SWP und die SLL gegenwärtig trennen, ausdrücklich anerkannte“.[27]
Verrat am Trotzkismus
In der Antwort der SLL in „Trotskyism Betrayed“ (Verrat am Trotzkismus) heißt es, dass ihre grundlegenden methodischen Differenzen mit der SWP „sich um die grundlegenden Fragen des Leninismus drehen, wie man eine internationale revolutionäre Partei aufbauen muss“. Weiter heißt es dort:
Dass diese Diskussion jetzt in ein neues Stadium eingetreten ist, ist selbst Teil einer neuen Etappe im Aufbau dieser revolutionären Parteien der Vierten Internationale, wofür der Sieg über den Revisionismus notwendig ist.[28]
In dem Dokument wird erklärt:
Die Arbeiter der fortgeschrittenen Länder treten in große Kämpfe ein. Diese werden zu immer neuen Niederlagen führen, wenn sie nicht zu Kämpfen um die Staatsmacht werden, für die eine marxistische Führung notwendig ist. …
Rechtfertigungen für die nichtmarxistischen Führungen, Behauptungen, dass kleinbürgerliche Führungen durch die Stärke der „objektiven Kräfte“ zu „natürlichen“ Marxisten werden können – all das droht die Arbeiterklasse zu entwaffnen, indem es die marxistische Führung desorientiert. ...
Wenn die Revisionisten jetzt vor den Zentristen kapitulieren und die Arbeiterklasse daran hindern, mit der sozialdemokratischen, stalinistischen und gewerkschaftlichen Bürokratie zu brechen, dann werden sie die Verantwortung für enorme Niederlagen der Arbeiterklasse tragen.[29]
Die SLL verurteilte die SWP, weil sie die Auffassung von der Krise der revolutionären Führung aufgegeben und die objektivistische Sichtweise des Pablismus übernommen hatte:
Das Gerede, die „Gesetze der Geschichte“ würden diesen Prozess zum Abschluss bringen, ohne dass die Partei aufgebaut werde, entfernt sich von der marxistischen Position zur Beziehung zwischen „objektiv“ und „subjektiv“. ...
Es erfordert den bewussten Aufbau dieser Partei, damit die Arbeiterklasse die Macht übernehmen und den Sozialismus aufbauen kann.“[30]
Die SLL legte dar, dass die Differenzen in Bezug auf Kuba „nur ein Teil dieser allgemeinen und grundlegenden Meinungsverschiedenheiten“ waren. Damit entkräftete sie die Behauptung der SWP, ihre Charakterisierung Kubas als Arbeiterstaat stehe in der Kontinuität von Trotzkis Analyse der Sowjetunion, als völligen Betrug:
Trotzki bestand darauf, dass seine Überlegungen zur Definition der UdSSR historisch und in Bezug auf den weltweiten Kampf zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse zu verstehen seien. ... Die Methode der SWP ist das Gegenteil: Sie erörtern eine bestimmte Manifestation des revolutionären Kampfes in einem Teil der Welt als ein besonderes Stadium der Entwicklung der Weltrevolution und leiten daraus „Kriterien“ ab. Diese wenden sie dann eine Generation später auf einen anderen Teil der Welt an, auf einen bestimmten Sektor in einem bestimmten Stadium des Kampfes.
So reichen Verstaatlichungen und die Existenz von Arbeitermilizen aus, um Kuba zu einem „Arbeiterstaat“ und die kubanische Revolution zu einer sozialistischen Revolution zu machen. Diese „normative“ Methode ist der theoretische Deckmantel für die Praxis, vor der gegenwärtigen instabilen und vorübergehenden Phase des Kampfes – dem Sieg der kleinbürgerlichen revolutionären Nationalisten – auf die Knie zu fallen, anstatt von der Perspektive und den Aufgaben der Arbeiterklasse auszugehen.[31]
Die SLL fragte:
Was bedeutet ein „Arbeiterstaat“ konkret? Er bedeutet die „Diktatur des Proletariats“ in der einen oder anderen Form. Gibt es die Diktatur des Proletariats in Kuba? Wir antworten kategorisch: Nein!
Das Castro-Regime hat keine qualitativ neue und andere Art von Staat geschaffen als das Batista-Regime. Die von Castro durchgeführten Verstaatlichungen ändern nichts an dem kapitalistischen Charakter des Staates.[32]
Und als Antwort auf die Behauptungen von Hansen und den Pablisten, dass die Entwicklung Kubas „die Theorie der permanenten Revolution bestätigt“, erklärte die SLL:
Tatsächlich liefert Kuba eine negative Bestätigung der permanenten Revolution. Wo die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, die Bauernmassen anzuführen und die kapitalistische Staatsmacht zu zerschlagen, springt die Bourgeoisie ein und löst die Probleme der „demokratischen Revolution“ auf ihre Weise und zu ihrer eigenen Zufriedenheit.[33]
Selbst an diesem Punkt der Diskussion hielt die SLL noch an ihrem Vorschlag fest, in allen Sektionen des IS und des IK Diskussionen über Prinzipien zu führen:
Unser Vorschlag zielt nicht darauf ab, zwischen den führenden Komitees des IK und des IS eine Vereinbarung zu erzielen, vielmehr wollen wir, dass in der Mitgliedschaft aller Sektionen beider Organisationen der Kampf gegen den Revisionismus unvermindert weitergeführt wird.[34]
Opportunismus und Empirismus
Um die SLL zu isolieren, beantwortete Hansen im November 1962 die prinzipiellen Angriffe der britischen Trotzkisten mit dem Dokument „Cuba-the Acid Test: A Reply to the Ultraleft Sectarians“ (Lackmustest Kuba: Eine Antwort auf die ultralinken Sektierer). Es war ein bösartiger Versuch, die SLL zu verleumden, indem er ihre Positionen als idealistische und dogmatische Leugnung der objektiv en Realität darstellte.
Hansen behauptete:
Die trotzkistische Weltbewegung hat nun zwei lange und ereignisreiche Jahre darauf gewartet, dass die SLL die Fakten über die kubanische Revolution anerkennt. ... Warum diese hartnäckige Weigerung, konkrete Ereignisse zuzugeben? Das Erstaunlichste ist, dass die Führer der SLL im Wissen um ihre Weigerung, die Fakten anzuerkennen, diese zu einer Tugend und sogar zu einer Philosophie erhoben haben.[35]
Hansen sprach hier von der Unterscheidung zwischen Marxismus und Empirismus in Slaughters Buch „Lenin on Dialectics“ (Lenin über Dialektik). Slaughter argumentiert darin, dass „einige ‚Marxisten‛ davon ausgehen, dass die marxistische Methode denselben Ausgangspunkt hat wie der Empirismus: Das heißt, sie beginnt mit ‚den Fakten‛.“
Es lohnt sich, Slaughter ausführlich zu zitieren. Er fährt fort:
Natürlich basiert jede Wissenschaft auf Fakten. Aber dabei ist entscheidend, wie die „Fakten“ definiert und festgestellt werden. Eine Wissenschaft entsteht ja unter anderem gerade dadurch, dass sie ihr Gebiet und dessen Gesetzmäßigkeiten abgrenzt und definiert: In der Erfahrung wird der Nachweis erbracht, dass ein objektiver und gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen den betreffenden „Fakten“ besteht, und zwar dergestalt, dass die Wissenschaft von diesen Fakten eine sinnvolle und nützliche Grundlage für die Praxis ist.
Von einem solchen Zustand sind unsere „empirischen“ Marxisten auf dem Gebiet der Gesellschaft und der Politik weit entfernt. Ihr Vorgehen besteht darin, zu sagen: Wir hatten ein Programm, das auf den Fakten von 1848 oder 1921 oder 1938 beruhte; jetzt sind die Fakten offensichtlich andere, also brauchen wir ein anderes Programm …
Es ist eine falsche und nichtmarxistische Auffassung der „Fakten“, die zu diesen revisionistischen Ideen führt. Wenn unsere „Objektivisten“ verkünden, dass „die Geschichte auf unserer Seite“ ist, dann meinen sie Folgendes: Man schaue sich die aktuellen großen Kämpfe an, addiere sie auf, ohne sie zu analysieren, gehe von seinen Eindrücken über ihre Bedeutung aus und packe das alles zusammen – und schon hat man „die Fakten“. Koloniale Revolutionen sind hier, da und dort erfolgreich; und schon ist der Erfolg der kolonialen Revolution eine Tatsache.
Nationalistische Führer wie Nkrumah, Mboya und Nasser halten „antiimperialistische“ Reden und führen sogar Verstaatlichungen durch; daraus ergibt sich die unumkehrbare und unaufhaltsame Neigung der Geschichte, nichtproletarischen Politikern eine sozialistische Richtung aufzuzwingen. Aber ein solcher „Objektivismus“ ist eine Ansammlung von Eindrücken und keine gehaltvolle, dialektische Analyse des Gesamtbilds, dessen Teile zueinander in Beziehung gesetzt werden.
Eine wirklich objektive Analyse geht von den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Klassen im Weltmaßstab und innerhalb der Nationen aus. Sie geht von einer Analyse der Beziehungen zwischen den Bedürfnissen dieser Klassen und ihrem Bewusstsein und ihrer Organisation aus. Darauf stützt sie ihr Programm für die Arbeiterklasse international und in jedem nationalen Sektor.
Eine Aufzählung der „progressiven Kräfte“ ist keine objektive Analyse! Sie ist das Gegenteil, nämlich eine bloße Sammlung oberflächlicher Eindrücke, ein Hinnehmen des bestehenden unwissenschaftlichen Bewusstseins im gegenwärtigen Klassenkampf, wie es von den Teilnehmern – vor allem von kleinbürgerlichen Politikern an der Spitze der nationalen Bewegungen und bürokratisierten Arbeiterbewegungen – vertreten wird.
Diesen theoretischen Unfug mit der Behauptung zu überdecken, Castro und andere seien „natürliche“ Marxisten (wie von Hansen und der SWP behauptet), bestätigt nur, dass sich die betreffenden „Theoretiker“ gar nicht klarmachen, wie weit sie gegangen sind. Sie legen offenbar nahe, dass in Perioden maximaler revolutionärer Spannung die Teilnehmer am Massenkampf leicht und spontan zu revolutionären Auffassungen gelangen. Dabei ist im Gegenteil gerade in solchen Zeiten das wissenschaftliche Bewusstsein, die über einen langen Zeitraum im Kampf entwickelte Theorie und Strategie, besonders wichtig.[36]
Die SLL zeigte an Hansens Verteidigung der empirischen Methode (welche die „systematisch durchgeführte Empirie“ zu Unrecht mit Marxismus gleichgesetzte) den prinzipienlosen Charakter der opportunistischen Politik der SWP auf. Sie enthüllte die historische und Klassenbasis der antimarxistischen philosophischen Methode, auf die sie sich stützte.
Im März 1963 veröffentlichte die SLL die ebenfalls von Slaughter verfasste Schrift „Opportunismus und Empirismus“. Darin heißt es:
Hansen führt die Tendenz an, die eine „Vereinigung“ mit einer revisionistischen Tendenz auf der Grundlage einer lediglich praktischen politischen Übereinstimmung über unmittelbare Aufgaben fordert. Von diesem Standpunkt aus lehnt er eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Spaltung und den Unterschieden zwischen den Tendenzen ab ...
Worin besteht die methodische Grundlage von Hansens Ansatz hier? Die vorherrschende Frage ist für ihn immer „Was funktioniert am besten?“ – immer gefragt aus der engen Perspektive der unmittelbaren politischen Gegebenheiten.[37]
Die SLL legte die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Marxismus und der objektivistischen Methode dar, die SWP und Pablisten gemeinsam war:
All diese Argumente, dass „die Fakten“ die objektive Realität sind, und dass wir „von ihnen ausgehen“ müssen, dienen letztlich der Rechtfertigung einer Politik der Anpassung an Führungen, die nicht die Arbeiterklasse repräsentieren.
Da der Empirismus „mit den Fakten beginnt“, kann er nie über sie hinausgehen und muss die Welt so akzeptieren, wie sie ist. Diese bürgerliche Denkmethode betrachtet die Welt vom Standpunkt des „isolierten Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft“.
Anstatt die objektive Situation als ein Problem anzugehen, das im Lichte der historischen Erfahrung der Arbeiterklasse, die in der Theorie und Praxis des Marxismus verallgemeinert wurde, gelöst werden muss, muss sie „die Tatsachen“ nehmen, wie sie sind. Sie werden durch Umstände geschaffen, die wir nicht beeinflussen können.
Der Marxismus wappnet die Avantgarde der Arbeiterklasse in ihrem Kampf für die unabhängige Aktion der Arbeiterbewegung; der Empirismus bewirkt, dass sie sich an die bestehenden Verhältnisse, an den Kapitalismus und seine Agenturen in den Organisationen der Arbeiterklasse anpasst.[38]
Die britischen Trotzkisten hatten das Wesen des Konzepts einer „neuen Realität“ aufgezeigt, die der SWP als Grundlage für ihre Wiedervereinigung mit den Pablisten diente. Es bestand in der Rechtfertigung und Anpassung an die bürgerliche Realität und die weitere Vorherrschaft des Imperialismus über die Welt.
Fazit
Als die Wiedervereinigung vollzogen war, schrieb Healy einen letzten Brief an das Nationalkomitee der SWP. Wie North bemerkte, enthielt er eine „vernichtende Kritik der Betrügereien und Täuschungen vor dem Wiedervereinigungskongress der SWP mit den Pablisten. In den letzten Absätzen des Briefes verlieh Healy seiner Verachtung für den politischen Verrat der SWP den schärfsten Ausdruck.“[39]
Healy schrieb:
Natürlich, Ihr habt keine Zeit für die „sektiererische SLL“. Unsere Genossen kämpfen tagaus, tagein gegen Reformismus und Stalinismus, in den besten Traditionen der trotzkistischen Bewegung. Doch sie sprechen noch nicht auf öffentlichen Versammlungen zu Zehntausenden von Menschen wie Ben Bella, Castro und wie bei der sogenannten Maiversammlung von Ceylon. In Euren Augen sind wir lediglich kleine, „linksradikale Spinner“. …
Ihr habt dazu einige Zeit gebraucht (wie das Sprichwort sagt: „Diejenigen, die spät zu Christus kommen, kommen am sichersten.“) Es ist jetzt ungefähr 12 Jahre her, seit George Clarke sich mit Pablo zusammentat und die Botschaft des berüchtigten Dritten Kongresses in The Militant und in der damaligen Zeitschrift Vierte Internationale veröffentlichte. Damals habt Ihr Pablo nicht durchschaut, und dann hatten wir die Spaltung von 1953. Cannon feierte die Spaltung mit den Worten, dass wir „niemals mehr zurück zum Pablismus“ gehen werden. Bis vor kurzem war er wirklich stur gegen die pablistischen Bekehrer. Aber Ihr habt es schließlich doch geschafft. Jetzt habt ihr überall Verbündete, angefangen von Fidel Castro bis hin zu Philipp Goonawardene und Pablo.
Wir wollen nur noch eines sagen, und darin war unser Kongress einstimmig einer Meinung. Wir sind stolz auf den Standpunkt, den unsere Organisation gegen eine derart schändliche Kapitulation vor den reaktionärsten Kräften eingenommen hat, wie sie die Mehrheitsführung Eurer Partei so vollständig vollzogen hat.“[40]
Was ist von all den „neuen Kräften“ und den „stumpfen Instrumenten“ übrig geblieben, diesen „Tatsachen“, von denen die SWP und die Pablisten behaupteten, sie hätten das Fundament der Vierten Internationale hinfällig gemacht?
Sie haben sich als völlig unfähig erwiesen, ihre eigenen Länder oder irgendeinen Teil der Welt vom Kapitalismus zu befreien. Entsprechend der Hauptaussagen der Theorie der permanenten Revolution, deren Gültigkeit Trotzki vor langer Zeit nachgewiesen hat, haben diese bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führungen die Arbeiterklasse verraten und entwaffnet und so den Weg für faschistische Militärdiktaturen und die Wiederherstellung des Gleichgewichts innerhalb des Imperialismus bereitet.
Hunderttausende Jugendliche, Arbeiter und Bauern, die dem Aufruf zu verhängnisvollen Guerillakämpfen folgten oder Opfer der damit verbundenen Niederlagen wurden, bezahlten den Preis für den pablistischen Opportunismus mit ihrem Leben.
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W. Sinclair, „Under A Stolen Flag“, 22. Mai 1957, Trotskyism versus Revisionism, Bd. 3 (aus dem Englischen)
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David North, „Gerry Healy und sein Platz in der Geschichte der Vierten Internationale“, Essen 1992, S. 47–48
David North, „Das ‚Umgruppierungs‘-Fiasko der SWP“, in: ders., Das Erbe, das wir verteidigen, 2. Aufl. März 2019, S. 420
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