In seiner berühmten Schrift „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“ von 1916 bezeichnete Lenin den Imperialismus als „politische Reaktion auf der ganzen Linie“. Sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik wolle „das Finanzkapital nicht Freiheit, sondern Herrschaft“. Dabei verwische sich „der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie ... gerade deshalb, weil die eine wie die andere bei lebendigem Leibe verfault.“
Lenins Analyse beschreibt treffend das reaktionäre Schauspiel, das sich am 19. Oktober im Bundestag abspielte. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gab eine Regierungserklärung ab, in der sich erneut vollständig hinter Israels völkermörderische Zerstörung des Gazastreifens stellte. Gleichzeitig drohte er der Hisbollah und dem Iran und kündigte weitere Waffenlieferungen an die Ukraine für die Ausweitung des Nato-Kriegs gegen Russland an. Seine Rede gipfelte in einem massiven Angriff auf demokratische Rechte und einer Kriegserklärung gegen Flüchtlinge und Migranten. Dafür zollten ihm Vertreter aller Fraktionen – von der rechtsextremen AfD bis hin zur Linkspartei – immer wieder Beifall.
Nach seiner Rückkehr aus Nahost begann Scholz seine Rede mit einer erneuten Unterstützungserklärung für Israel. „Nach dem furchtbaren Angriff der Hamas auf Israel“ sei es ihm „sehr wichtig“ gewesen, „vor Ort in Israel das zu unterstreichen, was viele von uns auch vergangene Woche hier im Bundestag zum Ausdruck gebracht haben: In dieser schweren Zeit ist Deutschlands Platz fest an der Seite Israels“, erklärte er.
„Fest an der Seite Israels“ zu stehen, bedeutet nach Lesart der Bundesregierung hundertprozentige Solidarität mit der rechtsextremen Netanjahu-Regierung und ihrer brutalen Kriegsoffensive gegen die Palästinenser. Dazu zählen fürchterliche Kriegsverbrechen wie die gezielte Bombardierung des Al-Ahli-Krankenhauses in Gaza-Stadt am Dienstagabend, bei der allein über 500 Menschen getötet wurden. Scholz und die Bundesregierung sind direkt in diesen Bombenterror involviert. Unmittelbar vor der Attacke stärkte der Bundeskanzler Netanjahu auf einer gemeinsamen Pressekonferenz den Rücken.
Hinter dem Rücken der Bevölkerung wird auch ein Eingreifen der Bundeswehr vorbereitet. Ebenfalls am Donnerstag traf der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius in Israel ein. Medienberichten zufolge ging es bei den Gesprächen mit seinem israelischen Amtskollegen Yoav Gallant u.a. um die „Unterstützung der israelischen Armee mit Material der Bundeswehr“. Auch deutsche Kriegsschiffe und Soldaten werden mobilisiert. Pistorius kündigte an, zusätzlich zur Fregatte Baden-Württemberg den Einsatzgruppenversorger Frankfurt am Main im Rahmen der UN-Mission UNIFIL vor dem Libanon zu platzieren. Außerdem wurden Kräfte des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr und der Polizei-Eliteeinheit GSG 9 nach Zypern verlegt.
Es wird immer klarer, dass es Israel und seinen imperialistischen Hintermännern nicht nur um den Gazastreifen geht, sondern um die Kontrolle des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Auch die USA haben bereits zwei Flugzeugträger, Kampfflugzeuge und Soldaten in die Region verlegt, und vieles deutet darauf hin, dass die Kriegsvorbereitungen gegen den Iran und seine Verbündeten in der Region – allen voran die Hisbollah-Miliz im Libanon und das Assad-Regime in Syrien – weit fortgeschritten sind. Ein solcher Krieg würde die ganze Region in ein Schlachtfeld verwandeln und Millionen Menschenleben auch in Israel selbst bedrohen.
Gleichzeitig eskalieren die Nato-Mächte den Krieg gegen Russland in der Ukraine. Auch hier spielt Deutschland eine führende Rolle. „Wir werden im Europäischen Rat darüber beraten, was wir zu tun haben, wie wir die Ukraine weiter unterstützen“, erklärte Scholz. Deutschland mache das bereits, „indem wir ein Winterpaket schnüren, das viele Aspekte beinhaltet“. Konkret verkündete Scholz die Lieferung einer zusätzlichen Patriot-Einheit, neuer IRIS-T Raketenabwehrsysteme, neuer Gepard-Flugabwehrpanzer und der „Munition, die dazu erforderlich ist“. Man werde in der Unterstützung der Ukraine „nicht nachlassen.“
Schon die Tatsache, dass der deutsche Imperialismus nach dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erneut Krieg gegen Russland führt und sich dabei in Kiew auf rechtsextreme Kräfte stützt, zeigt, an welche verbrecherischen Traditionen er wieder anknüpft. Das gleiche gilt für die Rhetorik und die Methoden der Kriegsoffensive gegen die Palästinenser: brutale Kollektivbestrafung, systematische Bombardierung und Ermordung von Zivilisten und Degradierung eines ganzen Volks zu „menschlichen Tieren“ (Gallant) entsprechen der Politik der Nazis.
Der Gipfel des Zynismus besteht darin, dass diese faschistische Politik im Namen des Kampfs gegen den Antisemitismus verfolgt wird. „Hier ist eine klare Kante gefragt, und wir zeigen sie gemeinsam in Deutschland“, drohte Scholz und forderte: „Die Versammlungsbehörden müssen klar sein und dürfen Versammlungen nicht zulassen, bei denen solche Straftaten anstehen und befürchtet werden muss, dass antisemitische Parolen gebrüllt werden.“
Tatsächlich geht es der herrschenden Klasse – die unter den Nazis sechs Millionen Juden ermordet hat und heute mit der AfD erneut eine faschistische Partei aufbaut – nicht um das Schicksal der Juden. Auch im Nahen und Mittleren Osten verfolgt der deutsche Imperialismus geostrategische und wirtschaftliche Interessen und ist bereit, dafür einen alles vernichtenden Krieg zu riskieren. In Deutschland selbst dient der Vorwurf des Antisemitismus der Errichtung einer Diktatur. Als „Antisemit“ und „Terrorist“ gilt jeder, der sich gegen Israels Genozid an den Palästinensern ausspricht – auch jüdische Kriegsgegner werden verfolgt. Unter diesen Vorzeichen würde selbst Hitler die offizielle Kampagne gegen „Antisemitismus“ unterstützen.
Dass die faschistische AfD, deren Führer das Holocaust-Mahnmal in Berlin als Denkmal der Schande und die Nazizeit als „Fliegenschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnen, das Vorgehen Israels und der Bundesregierung begeistert feiert, spricht ebenfalls Bände. Scholz und die Ampel-Parteien setzen ihrerseits die rassistische und menschenverachtende Flüchtlingspolitik der extremen Rechten in die Tat um.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Neben der Abschottung der europäischen Außen- und Binnengrenzen verkündete Scholz in seiner Regierungserklärung ein „großes Rückführungspaket, das die Bundesregierung jetzt berät und in den Deutschen Bundestag einbringen wird und das dieses Jahr noch beschlossen werden soll“.
Der Name des Pakets ist Programm. Die Bundesregierung plant die massenhafte Deportation von Flüchtlingen. Das Paket werde „es leichter machen, Abschiebungen durchzuführen“, verkündete Scholz. „Es wird es leichter machen, Identitäten festzustellen. Es wird es leichter machen, mit denen umzugehen, die immer wieder neu kommen und versuchen, neue Anträge zu stellen. Es wird Abschiebungen leichter durchsetzbar machen, auch durch eine Verlängerung des Gewahrsams.“
Zwischen der Kriegsoffensive und dem Terror gegen Flüchtlinge besteht ein direkter Zusammenhang. Je aggressiver die herrschende Klasse ihre verbrecherische Kriegspolitik und den damit verbundenen Sozialkahlschlag forciert, desto enger schließt sie die Reihen und setzt auf Diktatur und Faschismus, um die wachsende soziale und politische Opposition im Inneren zu unterdrücken. Das Verbot von Palästina-Demonstrationen und der Krieg gegen Flüchtlinge richten sich gegen alle Arbeiter. Die herrschende Klasse ist alarmiert über die weltweiten Massenproteste und fürchtet die Explosion des Klassenkampfs auch in Deutschland.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und die World Socialist Web Site unterstützen die internationale Streik- und Protestbewegung. Sie muss auf der Grundlage eines revolutionären sozialistischen Programms entwickelt und ausgeweitet werden. In einem aktuellen Statement der WSWS-Redaktion schreiben wir:
Die Arbeiter müssen einen sofortigen Stopp der israelischen Bombardierung des Gazastreifens sowie die Demobilisierung aller israelischen Truppen und deren Rückzug von der Grenze zum Gazastreifen fordern. Die Belagerung des Gazastreifens muss beendet werden, und Lebensmittel, Wasser, Strom, medizinische Versorgung und alle anderen lebensnotwendigen Güter müssen sofort zur Verfügung gestellt werden.
Der Internationale Strafgerichtshof muss ein Verfahren gegen Netanjahu, Scholz, Biden und alle führenden Vertreter der USA und der anderen Nato-Mächte einleiten, die den israelischen Völkermord gegen Gaza unterstützen.
Nur durch das Eingreifen der arbeitenden Massen und der Jugend auf der ganzen Welt kann dieser sich entfaltende Völkermord gestoppt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.