Auflösung der abtrünnigen Republik Bergkarabach sorgt für anhaltende Massenflucht

Nach der eintägigen Offensive aserbaidschanischer Streitkräfte gegen die armenische Armee in Bergkarabach am 19. September sollen Berichten zufolge mittlerweile 89.000 armenische Zivilisten aus der Region geflohen sein. Zu Beginn der Offensive lebten schätzungsweise 120.000 Menschen in der Region.

Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitierte am Freitagmorgen den Pressesprecher des armenischen Ministerkabinetts, Naseli Baghdasarjan, der erklärte, seit dem 24. September „sind 88.780 Menschen aus Bergkarabach in Armenien angekommen“.

Die Nachrichtenagentur Interfax berichtete, der armenische Premierminister Nikol Paschinjan habe am Donnerstag erklärt: „Eine Analyse der Situation zeigt, dass es in den kommenden Tagen keine Armenier mehr in Bergkarabach geben wird... Das ist ein Akt ethnischer Säuberung.“

Das aserbaidschanische Außenministerium wies den Vorwurf zurück und behauptete, die Migration sei eine „persönliche und individuelle Entscheidung“ und habe „nichts mit zwangsweiser Umsiedlung“ zu tun. Weiter hieß es, die Bevölkerung von Bergkarabach habe die gleichen Rechte wie die „Bürger von Aserbaidschan“.

Die jüngste Offensive Aserbaidschans, bei der Berichten zufolge insgesamt 400 Soldaten auf beiden Seiten getötet wurden, war der letzte Akt in einem jahrzehntelangen brudermörderischen Konflikt zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken.

Dieser Konflikt ist eine katastrophale Folge der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991 und ist im Kontext des anhaltenden Kriegs zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und Russland wieder aufgeflammt.

Er verdeutlicht die Gefahr einer geografischen Ausweitung des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine. Diese Gefahr kann nur durch die Massenmobilisierung der internationalen Arbeiterklasse in einer sozialistischen Antikriegsbewegung abgewendet werden.

Die von Armenien unterstützte Republik Arzach in Bergkarabach, die 1991 ausgerufen, aber von keinem Land anerkannt wurde, gab am Donnerstag ihre Auflösung zum Jahresende bekannt.

Der Präsident der nicht anerkannten Republik, Samwel Schahramanjan, der Anfang September durch eine indirekte Wahl an die Macht gekommen war, forderte die Bevölkerung in einem Erlass auf, sich in Aserbaidschan zu integrieren: „Die Bevölkerung von Bergkarabach, einschließlich derjenigen außerhalb der Republik sollten sich mit Inkrafttreten dieses Erlasses mit den Bedingungen der Wiedereingliederung vertraut machen, die ihnen die Republik Aserbaidschan anbietet, um eine unabhängige und individuelle Entscheidung zum Verbleib in (bzw. zur Rückkehr nach) Bergkarabach zu treffen.“

Die jüngste Militäroffensive Aserbaidschans, die zur Erklärung der vollen Kontrolle über Bergkarabach führte, hat die jahrzehntelange Krise keineswegs gelöst, sondern nur die Grundlagen für einen umfassenderen Konflikt geschaffen, an dem auch die imperialistischen Nato-Mächte und andere Staaten der Region beteiligt sein werden.

Washington hat den Konflikt und die daraus resultierende humanitäre Tragödie bereits zum Anlass genommen, seinen Einfluss in der strategisch wichtigen Region Südkaukasus auszuweiten. Das Gebiet liegt südlich von Russland und nördlich des Irans sowie in der Nähe internationaler Handelsrouten.

Die Leiterin der US Agency for International Development (USAID), Samantha Power, die sich zu Besuch in der Region aufhält, erklärte, Washington sei „zutiefst besorgt über die Sicherheit der gefährdeten Bevölkerung in Bergkarabach und der mehr als 50.000 Menschen, die nach Armenien geflohen sind“. Sie erklärte zudem, Washington stehe solidarisch zu Armenien.

Die EU erklärte am Freitag: „Es ist unerlässlich, dass eine UN-Mission in den nächsten Tagen Zugang zu dem Gebiet erhält.“ Die USA forderten die Entsendung einer „internationalen Überwachungsmission“ in die Region. Die EU hat sich jedoch wegen der Sanktionen gegen Russland zunehmend auf aserbaidschanische Gaslieferungen eingestellt. Baku kündigte am Freitag an, es werde möglicherweise „in den kommenden Tagen“ einer Gruppe von Experten der Vereinten Nationen erlauben, Bergkarabach zu besuchen.

Armenien ist zwar Mitglied der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), hat jedoch in letzter Zeit unter der Führung des Nato-freundlichen Präsidenten Nikol Paschinjan seine Beziehungen zu den USA verbessert. Im Vorfeld der jüngsten Offensive Aserbaidschans kam es zu einer Reihe von Vorfällen, die die Spannungen zwischen Jerewan und Moskau verschärft haben.

Armenien und die USA haben vom 11. bis zum 20. September eine gemeinsame Militärübung außerhalb von Jerewan abgehalten. Die Übung diente auch dazu, die armenischen Streitkräfte „auf eine Bewertung hinsichtlich des Nato Operational Capabilities Concept, OCC, (Nato-Konzept für operative Fähigkeiten) im Rahmen des Nato-Programms Partnership for Peace Ende des Jahres“ vorzubereiten, wie es in einer offiziellen Erklärung der USA hieß.

Anfang September bestellte Moskau als Reaktion auf Paschinjans Äußerungen, die militärische Abhängigkeit von Russland sei ein „strategischer Fehler“, den armenischen Botschafter ins Außenministerium ein.

Darüber hinaus protestierte Russland in einer Mitteilung an Armenien gegen die Äußerungen von Präsident Paschinjan, er befürworte die Ratifizierung des „Römischen Statuts“ durch das armenische Parlament. Im Falle einer Ratifizierung könnte der russische Präsident Wladimir Putin bei der Einreise nach Armenien aufgrund einer Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs verhaftet werden.

Die jüngste Offensive Aserbaidschans wurde, wie schon der Krieg 2020, in Abstimmung mit der Türkei vorbereitet. Der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler empfing den aserbaidschanischen Verteidigungsminister Ende August und den aserbaidschanischen Stabschef am 11. September.

Baku und Ankara befürworten, auf der Grundlage des von Russland vermittelten Waffenstillstandabkommens von 2020, die Einrichtung eines Korridors („Sangesur-Korridor“) zwischen der Türkei und Aserbaidschan durch armenisches Staatsgebiet.

In dem Abkommen heißt es: „Vorbehaltlich einer Einigung zwischen den Parteien wird der Bau neuer Verkehrsverbindungen zwischen der Autonomen Republik Nachtschiwan und den westlichen Regionen Aserbaidschans sichergestellt.“ Armenien hat jedoch jeden Versuch abgelehnt, seine Souveränität zu verletzen.

Der Korridor, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als „strategisch wichtig“ bezeichnet hat, ist ein wichtiges Element in den Plänen der türkischen herrschenden Elite für einen „Mittleren Korridor“ von der Türkei nach China, der in Einklang mit Chinas Initiative „Neue Seidenstraße“ steht.

Die Denkfabrik Atlantic Council schrieb im Juli 2021 in einem Artikel:

Türkische Regierungsvertreter erklärten, der „Mittlere Korridor“ könnte der Türkei nicht nur helfen, zu einer der zehn größten Volkswirtschaften der Welt zu werden, sondern auch die Transitzeit zwischen China und den europäischen Märkten deutlich verringern. Der Korridor würde Frachtlieferungen innerhalb von zwölf Tagen ermöglichen. Das wäre eine deutliche Verbesserung gegenüber der 20-tägigen Transportzeit durch Russland und den mehr als 30 Tagen auf den bestehenden Seeverbindungen.

Erdoğan erklärte am Dienstag, einen Tag nach seinem Treffen mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew in Nachtschiwan, vor der Presse: „Wir geben unser Bestes, um den Sangesur-Korridor zu eröffnen. Auch aus dem Iran kommen positive Signale. Wenn Armenien die Öffnung des Sangesur-Korridors verhindert, kann er möglicherweise auch durch den Iran führen.“

Die staatliche iranische Nachrichtenagentur IRNA antwortete darauf: „Es ist das erste Mal, dass der türkische Präsident den Vorschlag des Irans begrüßt hat, Aserbaidschan könne statt armenischem iranisches Staatsgebiet für seine Lastwagenstrecke nach Nachtschiwan benutzen.“

Allerdings ist Teheran keineswegs erpicht auf einen „Sangesur-Korridor“ durch Armenien. Es befürchtet, er könnte die Grenze zu seinem nördlichen Nachbarn verändern und den Einfluss des Nato-Mitglieds Türkei sowie Aserbaidschans anderem wichtigem Verbündeten, Israel, in der Region stärken.

Die iranische Nachrichtenagentur Mehr erklärte nach einem Besuch des türkischen Außenministers Hakan Fidan am 3. September in einem Artikel:

...Teheran lehnt jede Änderung der Grenzen seiner Nachbarstaaten sowie jede Änderung der geopolitischen Landkarte der Region und die Schaffung des Korridors ab. Die islamische Republik Iran ist der Ansicht, dass die Schaffung eines solchen Korridors die geopolitischen Kapazitäten der Region zugunsten der Nato und des zionistischen Regimes ändern würde, da der Sangesur-Korridor der Nato Zugang zum Kaspischen Meer verschaffen kann.

Laut dem Stockholm International Peace Research Institute kamen 69 Prozent der wichtigsten Waffenimporte Aserbaidschans von 2016 bis 2020 aus Israel. Die Times of Israel berichtete: „Israel hat seine Waffenlieferungen an Aserbaidschan während des Bergkarabach-Konflikts 2020 verstärkt.“

Loading