Türkei: Wachsende Streikbewegung gegen steigende Lebenshaltungskosten

Am Montag traten 625 U-Bahn- und Straßenbahnarbeiter von Metro AŞ, dem Verkehrsbetrieb der Metropole Izmir, in den Streik und demonstrierten damit eindrucksvoll die gesellschaftliche Stärke der Arbeiterklasse. Der U-Bahnverkehr, der in Izmir – mit über vier Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Türkei – täglich von etwa 400.000 Menschen genutzt wird, kam zum Erliegen.

Streikende U-Bahn- und Straßenbahnarbeiter in Izmir [Photo: tabibturkiye/Twitter]

Der Streik hatte begonnen, weil die Arbeiter darauf bestanden hatten. Doch als seine Auswirkungen sichtbar wurden, beendete der Gewerkschaftsapparat ihn nach zwei Tagen und unterzeichnete einen Ausverkaufsvertrag.

Die Tarifverhandlungen fanden zwischen dem Sozialdemokratischen Verbund Öffentlicher Arbeitgeber (Sodem-Sen) – der die von der größten Oppositionspartei CHP geführten Kommunen vertritt – und der Gewerkschaft Demiryol-İş, einem Mitglied des Gewerkschaftsbundes Türk-İş statt. In der Auseinandersetzung, die sich über fast sieben Monate ohne Einigung hinzog, ging es um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzsicherheit und die Löhne für Neueingestellte.

Am Dienstag legten etwa 18.000 Beschäftigte der Unternehmen IZELMAN und IZENERJI, die u.a. in den Bereichen Gesundheit und Bildung aktiv sind und ebenfalls der Verwaltung von Izmir unterstehen, für einen Tag wegen ausstehender Löhne im Zusammenhang mit dem seit April gültigen Tarifvertrag ebenfalls die Arbeit nieder.

Die Streiks und Arbeitsniederlegungen in Izmir ereignen sich vor dem Hintergrund eines Auflebens der Klassenkämpfe als Reaktion auf die steigenden Lebenshaltungskosten und eine Reihe sozialer Angriffe der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die so ihr Haushaltsdefizit beseitigen und die Wirtschafts- und Finanzelite weiter bereichern will.

Am 1. und 2. August traten tausende Ärzte, Pflegekräfte und andere Gesundheitsbeschäftigte aus dem Umfeld der Plattform für Einheit und Kampf im Gesundheits- und Sozialwesen (SABIM), einem Zusammenschluss vieler Gewerkschaften und Berufsverbände, in den Streik. Die Beschäftigten des Gesundheitswesens in der Türkei haben seit Anfang 2022 immer wieder im ganzen Land für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen gestreikt.

Letzten Monat traten etwa 3.000 Beschäftigte der Elektrizitätswerke Dicle Electricity (DEDAS) in den überwiegend kurdischen Städten Diyarbakir, Urfa, Mardin, Batman, Siirt und Şırnak in spontane Streiks für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Das Unternehmen entließ daraufhin etwa 100 von ihnen.

Der Streik der Arbeiter im Corning-Werk im Industriezentrum Gebze (Provinz Kocaeli) dauert bereits seit drei Wochen an. In dem Werk des Chemiekonzerns Eti Maden in Bandirma wurde am 17. Juli eine Streikankündigung veröffentlicht, nachdem die Tarifverhandlungen gescheitert waren. Wenn die Gewerkschaft nicht noch in letzter Sekunde einen Ausverkauf durchsetzt, werden die Arbeiter am 17. August in den Streik treten.

In der Auto- und Metallindustrie laufen im September die Tarifverträge von etwa 150.000 Arbeitern aus. Diese Arbeiter, deren Löhne in den letzten Jahren dank der Kollaboration der Gewerkschaften auf das Niveau des Mindestlohns gesunken sind, wollen die Fesseln des Gewerkschaftsapparats abwerfen und Widerstand leisten.

Die Bewegung in der Türkei ist Teil einer anhaltenden Welle von Streiks in Nordamerika, Europa und der ganzen Welt. In den USA streiken zehntausende Drehbuchautoren und Schauspieler sowie 1.400 Arbeiter von National Steel Car. In den letzten Wochen gab es Streiks von Hafenarbeitern in Kanada, von italienischem Flughafen-Bodenpersonal und 20.000 britischen Eisenbahnern. In den USA und Kanada laufen Mitte September die Tarifverträge von 170.000 Automobilarbeitern aus.

Die Arbeiter verzeichnen einen ernsthaften Rückgang ihres Lebensstandards. Letztes Jahr lag die jährliche Inflation in der Türkei offiziell bei 80 Prozent, die reale sogar bei über 150 Prozent. Im Juni dieses Jahres lag sie offiziell bei 38 Prozent, doch laut der unabhängigen ENAG lag sie bei fast 110 Prozent.

Gleichzeitig hat die Erdoğan-Regierung eine Reihe von umfangreichen sozialen Angriffen begonnen. Die Zentralbank hat die Zinssätze erhöht, wodurch sich die Arbeitslosigkeit erhöhen wird. Auf diese Weise sollen die Lohnforderungen der Arbeiter unterdrückt werden. Letzten Monat wurden immense zusätzliche Steuern eingeführt, hauptsächlich zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung. Die Preise für einen Liter Heizöl stiegen von 26 türkischen Lira Anfang Juli auf 36 Lira (1,22 Euro) Ende des Monats. Dieser Anstieg um fast 40 Prozent geht hauptsächlich auf Steuern zurück.

Der regierungsnahe Gewerkschaftsbund Türk-IS kündigte an, die Armutsgrenze einer vierköpfigen Familie sei Ende Juni auf 37.974 Lira (1.117 Euro) verlaufen, die Hungergrenze (monatliche Lebensmittelausgaben für eine vierköpfige Familie) lag bei 11.658 Lira (342 Euro).

Ein Großteil der Belegschaft bezieht nur den offiziellen Mindestlohn von 11.402 Lira (388 Euro) oder geringfügig mehr. Das gilt auch für die U-Bahn- und Straßenbahnarbeiter in Izmir.

Ein streikender Arbeiter erklärte gegenüber der Tageszeitung Evrensel: „Ich habe letzten Monat 9.200 Lira bekommen. Meine Wohnung kostet 5.000 Lira Miete. Wenn man Strom, Wasser und andere Ausgaben dazurechnet, wie soll man da über die Runden kommen?... Wir wollen nicht jeden Tag ärmer werden.“

Die Reaktion der Stadtverwaltung seit Beginn des Streiks hat einmal mehr gezeigt, dass sich die CHP beim Einsatz von Streikbrechern und in ihrer Feindseligkeit gegenüber Arbeitern durch nichts von der Erdoğan-Regierung unterscheidet.

Während Präsident Erdoğan in den letzten zwei Jahrzehnten zahllose Streiks aus Gründen der „nationalen Sicherheit“ – d.h. der Interessen der Konzerne – verboten hat, reagierten die CHP-geführten Kommunen auf Streiks, indem sie Streikbrecher anheuerten und die Bevölkerung gegen die Streikenden aufhetzten.

Der Bürgermeister von Izmir Tunc Soyer erklärte zu Beginn des Streiks, es sei wegen der notwendigen „Investitionen“ inakzeptabel, dass Arbeiter höhere Löhne fordern, auch wenn diese nahe der Armutsgrenze sind. Mit „Investitionen“ meint er die Umverteilung von Geldern der Gemeinden an die Unternehmen. Die kapitalistischen Parteien sehen die Löhne der Arbeiter, die für die Aufrechterhaltung ihres Lebens in den Städten nötig sind, als unnötige Ausgabe.

Die Stadtverwaltung versuchte, den Streik zu brechen, indem sie den Urlaub anderer Verkehrsarbeiter absagte und Busse auf den Straßenbahnlinien einsetzte. Daneben wurde Lügenpropaganda verbreitet, die Straßenbahner würden die Bevölkerung durch ihre Forderung nach inakzeptablen Löhnen schikanieren.

Der Streik der U-Bahn- und Straßenbahner in Izmir ist ein schweres Armutszeugnis für die pseudolinken Organisationen. Eine beträchtliche Schicht dieser Kräfte hatte Soyer in der Kommunalwahl 2019 unterstützt und sich im Mai hinter CHP-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu gestellt.

Der Streik bestätigt die reaktionäre Rolle der Gewerkschaftsbürokratie. Soyer erklärte nach dem Streik, die Gewerkschaftsfunktionäre hätten das Angebot der Stadtverwaltung so akzeptiert, wie es war: eine Erhöhung der Zusatzleistungen um nur sieben Prozent.

Aber dafür waren die Arbeiter nicht in den Streik getreten. Laut der Tageszeitung Evrensel reagierten die Arbeiter auf den Ausverkauf, der ihnen ohne Abstimmung aufgezwungen wurde, mit Sprechchören „Sie haben uns ausverkauft!“ Die Bürokratie der Gewerkschaft Demiryol-İş, die den Streik 2021 in letzter Minute abgesagt hatte, könnte dieses Jahr angesichts der wachsenden Entschlossenheit der Arbeiter zum Kampf nicht noch einmal so handeln. Doch solange die Arbeiter nicht mit eigenen Aktionskomitees die Kontrolle über den Tarifverhandlungsprozess übernehmen, kann der Apparat hinter verschlossenen Türen einen weiteren Ausverkauf aushandeln.

Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, um die wachsende Streikbewegung in der Türkei und überall auf der Welt vorwärts zu tragen. Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) liefert die Mittel dazu, die Arbeiter über die Grenzen von Betrieben, Sektoren und Ländern gegen die Zusammenarbeit zwischen der Regierung, den Unternehmen und dem Gewerkschaftsapparat zu vereinen.

Loading