Linken-Vorsitzende Wissler im ARD-Sommerinterview: Eine politische Bankrotterklärung

Das halbstündige Sommerinterview mit der Linken-Vorsitzenden Janine Wissler, das die ARD am 16. Juli zur besten Sendezeit ausstrahlte, war eine politische Bankrotterklärung.

Die Bundesregierung organisiert die größte Aufrüstungsoffensive seit Hitler und provoziert eine nukleare Konfrontation mit Russland; sie bürdet die Kosten dafür mit inflationsbedingten Lohnsenkungen und massiven Sozialkürzungen der Arbeiterklasse auf; sie stärkt den staatlichen Unterdrückungsapparat und verdammt durch die Abschottung der europäischen Grenzen tausende Flüchtlinge zu Elend und Tod. Doch Wissler hat zu alldem buchstäblich nichts zu sagen.

Linken-Vorsitzende Martin Schirdewan und Janine Wissler auf dem Erfurter Parteitag im Juni 2022 [Photo by Martin Heinlein / Die Linke / CC BY 2.0]

Das ganze Interview macht deutlich, dass die Linkspartei, die in mehreren Bundesländern gemeinsam mit SPD und Grünen regiert, auch im Bund jederzeit bereit wäre, in die Regierung einzutreten und deren Politik des Kriegs und des sozialen Kahlschlags mitzutragen.

Millionen Beschäftigte der Bahn, des öffentlichen Diensts, der Krankenhäuser und der großen Industriekonzerne suchen nach Mitteln und Wegen, ihre Löhne und Arbeitsplätze zu verteidigen, und lassen sich dabei von den Massenprotesten in Frankreich und anderen Ländern inspirieren. Doch Wissler Kritik der Regierung, soweit sie überhaupt welche äußert, ist ausschließlich von der Sorge geprägt, dass sie und die gewerkschaftlichen Apparate die Kontrolle über die Kämpfe der Arbeiter verlieren könnten.

Sie erteilt der Ampelkoalition Ratschläge, wie sie den Klassenkampf besänftigen und eine offene Konfrontation vermeiden kann. Sie sagt nichts, was Arbeiter zum Kampf gegen die Ampel-Koalition ermutigen könnte, und verliert kein Wort über die schreiende soziale Ungleichheit und die obszönen Vermögen der Superreichen, die sich in der Finanzkrise und der Pandemie auf Staatskosten fettgefressen haben.

Ihr Blick reicht nicht über die nationalen Grenzen hinaus. Sie vermeidet sorgfältig jeden Hinweis auf die Klassenkämpfe in Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern, weil sie ebenso wie die Regierung eine solche Bewegung auch in Deutschland fürchtet.

Wissler verwendet mehr Zeit darauf, sich an ihrer Parteikollegin Sahra Wagenknecht abzuarbeiten, als die Regierung zu kritisieren. Vor einem Jahr hatte sie Wagenknecht im Sommerinterview noch verteidigt, obwohl diese gerade ein neues Buch veröffentlicht hatte, das gegen Kosmopolitismus und Weltoffenheit zu Felde zieht, für Protektionismus und einen starken Staat eintritt und Migranten und Flüchtlinge als Lohndrücker, Streikbrecher und kulturfremde Elemente denunziert.

Doch inzwischen spricht sich Wagenknecht offen gegen die Waffenlieferungen der Bundesregierung an die Ukraine und die Kriegspolitik der Nato aus. Sie tut dies nicht vom antimilitaristischen Standpunkt der internationalen Arbeiterklasse, sondern vom rechten, nationalistischen Standpunkt jener Teile der deutschen Bourgeoisie, die unabhängig von den USA aufrüsten und Krieg führen wollen. Doch der Linken-Vorsitzenden geht schon jede Infragestellung der offiziellen Kriegspropaganda entschieden zu weit.

Denn Wissler selbst und die Mehrheit der Linkspartei stehen hinter der Kriegspolitik der Ampel. Im Sommerinterview wiederholt sie Punkt für Punkt deren Kriegsbegründung: „Klar ist für mich, es ist ein Angriffskrieg, der ist durch nichts zu rechtfertigen. Russische Truppen haben in der Ukraine nichts zu suchen, wir fordern den Abzug aller russischen Truppen.“ Die Frage, ob dies auch deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine einschließe, beantwortet sie indirekt mit Ja: „Die Ukraine hat ein Recht auf Selbstverteidigung.“

Wissler fügt hinzu, der Krieg müsse schnellstmöglich beendet werden. Im Kern seien sich doch „alle einig, dass auch dieser Krieg am Verhandlungstisch beendet wird“ – eine Äußerung, der in dieser Allgemeinheit auch Jens Stoltenberg, Annalena Baerbock, Wolodymyr Selenskyj und andere Kriegshetzer zustimmen würden.

Auch die Nato wird inzwischen von Wissler unterstützt. Die Frage, ob der Parteitagsbeschluss der Linken, der die Auflösung der Nato fordert, noch gelte, beantwortet sie zwar mit Ja. Die teilweise völkerrechtswidrigen Kriege, welche die Nato in der Vergangenheit geführt habe, würden nicht dadurch besser und gerechter, weil Russland einen Angriffskrieg führe. Doch die „Utopie“, dass die Nato durch ein weltweites Sicherheitsbündnis abgelöst werde, in dem alle relevanten Akteure, auch Russland, vertreten sind, sei durch diesen Krieg „erst mal in weite Ferne gerückt“.

In klares Deutsch übersetzt heißt das: „Im Prinzip ja, wir sind für die Auflösung der Nato. Aber erst wenn wir Russland besiegt haben und stark genug sind, ohne die USA selbst Krieg zu führen.“

Auch in anderen zentralen politischen Fragen stellt sich Wissler offen oder indirekt hinter die reaktionäre Politik der Ampelkoalition.

Obwohl seit Anfang des Jahres allein im Mittelmeer 1875 Menschen der Abschottungspolitik der Europäischen Union zum Opfer gefallen sind und die griechische Küstenwache vor kurzem vor der Hafenstadt Pylos ein Boot mit 750 Flüchtlingen absichtlich oder fahrlässig versenkt hat, äußert Wissler kein kritisches Wort über die EU und ihre mörderische Flüchtlingspolitik. Stattdessen beschränkt sie sich darauf, von der Bundesregierung mehr finanzielle Unterstützung für die Kommunen zur Unterbringung von Flüchtlingen zu verlangen.

Zum Klimaschutz erklärt sie mehrmals, er müsse „sozial gerecht“ sein, ohne dies inhaltlich zu erläutern. Es sei eine Kraft nötig, „die Druck macht auf die Ampel, dass mehr getan wird für den Klimaschutz“. Dass Klimaschutz nicht mit der Politik der Ampel vereinbar ist, die die Profite der Reichen über die Bedürfnisse der Gesellschaft stellt, sagt sie nicht. Auch die Corona-Pandemie, in deren Verlauf die „Profite-vor-Leben“-Politik der Ampel mindestens 175.000 Todesopfer forderte, erwähnt Wissler nicht.

Selbst von der Law-and-Order-Politik der Rechten mag sich Wissler nicht offen distanzieren. Der Frage, was sie von der Forderung des neuen CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann halte, Jugendliche, die sich in Schwimmbädern prügeln, in juristischen Schnellverfahren abzuurteilen, weicht sie aus. Sie wünsche sich derartige Law-and-Order-Politik auch mal gegen kriminelle Machenschaften von Unternehmen und Managern, lautet ihre Antwort.

Wissler und Marx 21

Janine Wissler ist seit zweieinhalb Jahren Vorsitzende der Linken. Sie war im Februar 2021 gemeinsam mit Susanne Hennig-Wellsow, die seither von Martin Schirdewan abgelöst wurde, an die Spitze der Partei gewählt worden.

Die Medien hatten sich damals bemüht, Wissler als linken Gegenpol zu Hennig-Wellsow darzustellen, die als rechte Hand des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zum Regierungsflügel der Linkspartei gehört. Die damals 39-jährige Wissler war Mitglied der pseudotrotzkistischen Strömung Marx 21 und über deren Vorgängerin Linksruck und die WASG zur Linkspartei gestoßen.

Die World Socialist Web Site teilte diese Einschätzung nicht. Wir bezeichneten Wissler schon damals als „führende bürgerliche Politikerin, die in allen zentralen Fragen mit Hennig-Wellsow übereinstimmt“. Wir verwiesen dabei auf Wisslers Aktivitäten im hessischen Landtag, dem sie seit 2008 angehörte.

Sie hatte 2008 mit SPD und Grünen vereinbart, eine rot-grüne Minderheitsregierung zu unterstützen, was dann am Widerstand einiger SPD-Abgeordneter scheiterte. 2018 versuchte sie erneut, ein Regierungsbündnis mit SPD und Grünen zu schmieden. Als Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag knüpfte sie auch enge Verbindungen zu Wirtschaftsvertretern in der Finanzmetropole Frankfurt.

Wir beurteilten aber Wissler nicht nur aufgrund ihrer Praxis in der hessischen Landespolitik, sondern auch und vor allem aufgrund der internationalen Strömung, der sie seit ihrem 17 Lebensjahr angehörte und von der sie politisch ausgebildet wurde.

Linksruck war der deutsche Ableger der sogenannten „Staatskapitalisten“, die auf den britischen Sozialisten Tony Cliff zurückgehen. Cliff war 1950 aus der britischen Sektion der Vierten Internationale ausgeschlossen worden, weil er sich unter dem Druck der antikommunistischen Hysterie des Kalten Kriegs geweigert hatte, Nordkorea im Krieg mit den USA zu verteidigen.

Cliff vertrat den Standpunkt, dass die Sowjetunion „staatskapitalistisch“ sei und nicht, wie die Vierte Internationale es einschätzte, ein degenerierter Arbeiterstaat, in dem das Regime stalinistisch entartet war, die durch die Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnisse jedoch weiter bestanden. Er lehnte es ab, die Sowjetunion und deformierte Arbeiterstaaten gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen, was einer Unterstützung des Imperialismus gleichkam.

Die Formel „Weder Washington noch Moskau, sondern internationaler Sozialismus“, die zum politischen Markenzeichen der Cliff-Tendenz wurde, diente dazu, die Verbrechen des Imperialismus in der Praxis zu unterstützen und sich gleichzeitig in Worten von ihnen zu distanzieren. Die Verteidigung der rechtesten Politik unter dem Deckmantel pseudolinker Phrasen wurde auch in allen anderen politischen Fragen zum Modus Operandi der „Staatskapitalisten“ und ihrer zahlreichen Ableger.

Jahrzehntelang dienten sie sozialdemokratischen Parteien als linkes Feigenblatt. Als sich Janine Wissler als Schülerin der Gruppe Linksruck anschloss, war diese in der Parteijugend der SPD aktiv und engagierte sich als Fußtruppe für den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder. Als sich nach Schröders Agenda 2010 einige SPD- und Gewerkschaftsbürokraten aus Angst, jeden Einfluss über die Arbeiterklasse zu verlieren, von der SPD abwandten, die WASG bildeten und dann gemeinsam mit der PDS die Linkspartei gründeten, wechselte auch Linksruck den Wirt. Sie löste sich formal auf, trat in Die Linke ein und bildete dort das Netzwerk Marx 21.

Die Experten für rechte Politik in linkem Gewand wurden mit offenen Armen empfangen. Kurz davor war die aus wenigen Dutzend Mitgliedern bestehende Gruppe aufgrund interner Differenzen und Skandale beinahe kollabiert, nun öffneten sich lukrative Karrieremöglichkeiten. Wissler war nicht die einzige, die in Spitzenämter aufstieg. Christine Buchholz, Nicole Gohlke und Hubertus Zdebel saßen über mehrere Legislaturperioden im Bundestag. Buchholz, die wie Wissler aus dem hessischen Landesverband stammt, war zwölf Jahre lang Mitglied im Verteidigungsausschuss und besuchte regelmäßig im Ausland stationierte Truppen.

Marx 21 spielte eine Schlüsselrolle dabei, die rechte Politik der Linkspartei voranzutreiben. Das Netzwerk unterstützte die imperialistische Intervention in Syrien, feierte 2014 den rechten Putsch in der Ukraine als „demokratische Revolution“ und warb seitdem intensiv für einen pro-westlichen Regimewechsel in Russland.

Profitiert hat von dieser rechten Politik die AfD. In Ostdeutschland, wo die Linke einst ihre Hochburgen hatte, liegt sie in den Umfragen unter 10 Prozent, während die AfD mit knapp 30 Prozent stärkste Partei ist. Bundesweit liegt die Linke im jüngsten ARD-Deutschlandtrend bei vier Prozent; sie würde den Einzug in den Bundestag nicht wieder schaffen. Die drei Regierungsparteien kommen zusammen nur noch auf 38 Prozent. Die AfD liegt mit 20 Prozent an zweiter Stelle hinter der CDU und vor der Kanzlerpartei SPD.

Wissler hatte im Sommerinterview zum Niedergang der Linken und zum Aufstieg der AfD, in der es von Rechtsextremen und Neonazis wimmelt, nichts zu sagen, außer dass die Linke zu zerstritten sei und sich zu sehr mit sich selber beschäftige. Als wäre der Aufstieg der Rechtsextremen ein Kommunikationsproblem!

In Wirklichkeit sind die arbeiterfeindliche, militaristische und nationalistische Politik der Ampel und ihre Unterstützung durch die Linkspartei die Ursache für das Erstarken der AfD. Die Übernahme ihrer Politik durch die Regierung ebnet den Rechtsextremen den Weg und versetzt sie in die Lage, die Frustration und Wut kleinbürgerlicher Schichten und teilweise auch von Arbeitern in ein reaktionäres, nationalistisches Fahrwasser zu lenken.

Der Aufstieg der AfD zeigt den politischen Bankrott von Marx 21 und ähnlichen politischen Gruppierungen, die sich innerhalb und im Umfeld der Linkspartei tummeln. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine deutsche Sektion, die Sozialistische Gleichheitspartei, bekämpfen diese Tendenzen seit Jahrzehnten. Wir bezeichnen sie als „Pseudolinke“ – als rechte Parteien, die sich einen linken Deckmantel geben. Sie vertreten nicht die Arbeiterklasse, sondern privilegierte Teile der Mittelklassen, die sich durch die Verschärfung des Klassenkampfs bedroht fühlen und darauf mit einer stärkeren Integration in Regierung und Staat reagieren.

Das IKVI hat eine Politik, die sich im Namen einer breiten linken Einheit den bürokratischen Apparaten unterordnet, stets abgelehnt. Wir kämpfen für die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von den Apparaten und ihren pseudolinken Anhängseln. Nur eine internationale Partei, die sich auf große historische Prinzipien stützt und diese verteidigt, ist in Zeiten revolutionärer Umbrüche in der Lage, dem politischen Druck der Herrschenden zu widerstehen und das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen.

Und solche Zeiten entwickeln sich jetzt. Der Vertrauensverlust in die etablierten Parteien, der Niedergang der bürgerlichen Demokratie, die beispiellose Kluft zwischen Arm und Reich, die Rückkehr von Faschismus und Krieg, die allgemeine Krise des Kapitalismus sind nur erste Vorzeichen gewaltiger revolutionärer Umbrüche, in denen die Massen – wie Leo Trotzki über die Russische Revolution schrieb – direkt in die historischen Ereignisse eingreifen werden.

Die Linke, Marx 21 und alle anderen pseudolinken Gruppen sind dabei ein Hindernis. Sie bereiten die Arbeiterklasse nicht auf den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft vor, sondern tun alles, um sie daran zu hindern. Deshalb wenden sie sich angesichts der tiefsten sozialen Krise immer weiter nach rechts.

Wer ernsthaft gegen Krieg, gegen Faschismus und für eine sozialistische Gesellschaft kämpfen will, muss die Sozialistische Gleichheitspartei aufbauen. Die Bedeutung ihres Kampfs für Prinzipien wird nun sichtbar: Das internationale sozialistische Programm des Internationalen Komitees der Vierten Internationale trifft mit einem mächtigen Aufschwung des Klassenkampfs zusammen, während sich die Linkspartei und ihre pseudolinken Anhängsel in zutiefst reaktionäre und militaristische Kräfte verwandelt haben.

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