Anfang 2023 erschien die Dokumentation Die Insel von Franziska Grillmeier über das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Das Buch ist eine erschütternde Bilanz der mörderischen Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Seine Aktualität hat sich gerade in diesen Tagen bestätigt.
Am 14. Juni ertranken über 600 Menschen vor der griechischen Halbinsel Peloponnes, nachdem die Küstenwache das Boot gezielt kentern ließ. Nur wenige Tage zuvor hatten die EU-Regierungschefs beschlossen, das Asylrecht faktisch aufzuheben und die Zuflucht suchenden Menschen an den EU-Außengrenzen in Haftlagern zu internieren.
Anfang 2020 lebten laut UN-Flüchtlingshilfswerk 42.000 geflüchtete Menschen in den fünf Ägäischen Insellagern – fast die Hälfte davon auf Lesbos. Franziska Grillmeier, die als freie Journalistin unter anderem für die Zeit, taz, Spiegel, Guardian und BBC schreibt, konzentriert sich in ihren Reportagen auf das Lager Moria.
Ursprünglich als Durchgangslager für 2800 Menschen konzipiert, wurden hier zwischenzeitlich über 20.000 Menschen zusammengepfercht, nachdem die EU-Staaten, darunter Deutschland, die Aufnahme von Flüchtlingen stark eingeschränkt hatten. Ein großer Brand in der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 führte schließlich zur Schließung von Moria. Das provisorische Ersatzlager in Mavrovouni wird von örtlichen Helfern und Flüchtlingen als „Moria 2.0“ geschildert.
Die 1991 geborene Autorin begnügt sich nicht mit flüchtigen Besuchen vor Ort und ein paar oberflächlichen Interviews, wie dies so manche etablierte Medienvertreter zu tun pflegen. Ab Herbst 2017 fährt sie immer wieder auf die Insel, sucht die Nähe zu den Insassen des Lagers und mietet sich schließlich im Spätsommer 2018 auf Lesbos ein. Die kleine Wohnung sei zu ihrem „temporären Zuhause“ für fünf Jahre geworden, schreibt sie.
Ihre Motive beschreibt sie ohne großes Pathos. Bevor sie das erste Mal kommt, hat ihre Freundin Armita, die als Dolmetscherin für Asylsuchende arbeitet, die Lage „beispielhaft illustriert“ und unter anderem berichtet, dass „drei Männer an drei unterschiedlichen Tagen in ihren Zelten nicht mehr aufgewacht seien“. Sie hatten versucht, ihre nasse Kleidung mit Feuerkohle zu trocknen, und starben offensichtlich an Kohlenmonoxid-Vergiftung.
Niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. „Wie kann das sein?“ fragt Armita. „In jeder anderen europäischen Stadt bringt man Menschen bei einem Sturm innerhalb von einer Stunde in einer warmen Turnhalle unter. Hier schafft es die EU seit drei Wintern nicht.“
Dieser Frage geht Grillmeier nach. In tagebuchähnlichem Stil versucht sie den „Alltag“ im Lager einzufangen – „an einem Ort, der keinen Alltag zuließ“ – und sie lässt die Menschen, mit denen sie spricht und Freundschaften schließt, zu Wort kommen.
Dank ihrer bildhaften Sprache und ihrer sachlichen, zugleich einfühlsamen Beschreibung erwacht gleichsam die „Hölle Moria“ zum Leben. Wir lernen Mama Maryam kennen, die ehrenamtliche Sprecherin für die afghanische Gemeinde im Lager, die selbst mit ihrer Familie im Lager lebt und um ihr Asylverfahren kämpfen muss, sowie Fenet, die Brotbäckerin. Auch die erschöpfte Yasmin aus Mogadischu wie die auf Lesbos geborene Dimitra, die unter katastrophalen Bedingungen im Krankenhaus arbeiten, werden uns nahegebracht.
Der scheue Omar, der disziplinierte Einzelgänger Abbas, der kleine Yaser, Azim und seine Frau Maleka, die sich hochschwanger selbst in Brand setzt, um ihrem unerträglichen Dasein in Moria ein Ende zu setzen, und dafür nach ihrer Rettung wegen Brandstiftung angeklagt wird – sie und viele andere holt Grillmeier aus der Anonymität der Masse heraus. Und gerade deshalb stehen sie symbolisch, zugleich voll verletzlicher Lebendigkeit für zahllose andere Opfer der europäischen Flüchtlingspolitik.
Unerträgliche Enge, unzulängliche Lebensmittelversorgung, zu wenig Trinkwasser, im Sommer kein Schatten und keine Abkühlung, in der kalten Jahreszeit keine Trockenheit und Wärme. Immer wieder brechen Feuer aus – teilweise mit Verletzungs- und Todesfolgen, weil die Menschen gezwungen sind, auf engstem Raum über offenen Feuern zu kochen, sich zu wärmen, Wäsche zu trocknen.
Ein im Herbst 2018 auf Lesbos miterlebtes Unwetter mit Starkregen hat innerhalb von Sekunden zerstörerische Auswirkungen auf die in die Zelte gequetschten Menschen. Im Herbst und Winter ist es so nasskalt, dass „die Füße der Kinder am Morgen so verschrumpelt“ sind, als „hätte man sie über Nacht in der mit Wasser gefüllten Badewanne baumeln lassen“, berichtet eine Großmutter, ihren Enkel im Schoß. Sie weiß noch nicht, dass nach dem großen Brand 2020 die Situation im Ersatzlager Mavrovouni noch katastrophaler wird. Dort haben die Zelte nicht einmal Böden, die Menschen müssen auf völlig durchnässten Isomatten und aufgeweichter Pappe liegen.
Eine Toilette müssen sich 90 Menschen, eine Dusche – aus der nur kaltes Wasser tröpfelt – 200 Menschen teilen. Seife, Handtücher, Zahnpasta sind absolute Mangelware. Für die Tausenden im inoffiziellen Lager, in welches das „Kernlager“ übergeht und das sich in die Olivenhaine der Bauern erstreckt, gibt es überhaupt keine Dusche.
Trinkwasser und Nahrung –– dafür stehen sie mit Essensmarken dreimal am Tag bis zu anderthalb Stunden in einem eingezäunten Korridor an, umgeben von Polizisten mit Schlagstöcken. Folteropfer und Menschen mit Gefängniserfahrungen werden beständig aufs Neue traumatisiert. Sie und diejenigen, die aufgrund ihrer Verletzungen oder Erkrankungen zu schwach sind, sind vollständig von der Unterstützung ihrer Familienmitglieder oder Nachbarn abhängig.
Zum Beispiel Omar, schwer verletzt den Folterknechten im sudanesischen Gefängnis entkommen. Er hätte sofort medizinische Hilfe für seine offenen und schweren Wunden und einen Rollstuhl benötigt. Stattdessen bekommt der 21-Jährige bei seiner Ankunft nur ein Kindersommerzelt in die Hand gedrückt, ein Meter lang. Das Zelt kann er nicht ohne Hilfe aufbauen. Die Beine versagen ihm den Dienst, seine Sehkraft ist stark beeinträchtigt. Vermutlich wäre er verhungert, hätte ihn nicht eine irakische Familie im Camp unter ihre Fittiche genommen.
Viele bereiten sich auf primitiven, selbst gebauten Koch- und Backstellen ihr Essen, ziehen in den schmalen Zwischenräumen zwischen den Zelten oder vor den Zelteingängen „etwas Grünes“ oder Tomaten. Grillmeier bezeichnet die vielen Brotbacköfen als „ein Zeichen des Widerstands in Moria“, ein Versuch der Lagerinsassen, sich ihre Menschenwürde zu wahren. Auch Omar sagt später, er habe „eine einzige gute Erinnerung“ an das Lager: den „Geruch von frischem Brot“. Der Geschmack von Brot „erinnere die Menschen daran, wer sie vor der Flucht gewesen waren“, erklärt Fenet.
Das Schlimmste sei jedoch die Ungewissheit, „das Warten auf eine Entscheidung“, betont die Großmutter. Niemand sagt, wie lange noch die Prüfung des Asylantrags dauere und man hier ausharren müsse. Dies lässt die Menschen physisch und psychisch zusammenbrechen. „Wir sehen Psychosen, Depressionen, akute Suizidalität“ unter allen Altersgruppen, berichten Ärzte und Helfer. Die Suizidgefahr sei extrem hoch. Kinder verstummen. Ein Arzt berichtet, dass viele Kinder sich „selber verletzen“, den Kontakt „zu anderen Menschen abbrechen“, „versuchen sich umzubringen“. 42 Prozent der Moria-Insassen im Jahr 2020 sind Kinder.
Die im Notfallkrankenhaus arbeitende Dimitra steht „vor einem Scherbenhaufen unbehandelter Krankheiten und Traumata – vor den Folgen der Inhaftierung Tausender Geflüchteter auf engstem Raum“. Ihr Fazit: Die Menschen in Moria werden „gezwungenermaßen verrückt“.
Die konkrete Schilderung der Lagerbedingungen werden in Grillmeiers Buch mit Hintergrundinformationen über die verschiedenen Asyl-Abkommen der EU und die Rolle der griechischen Syriza-Regierung sowie ihrer konservativen Nachfolgerin unter Mitsotakis ergänzt. Jegliche Illusion über eine angeblich linke Politik unter Syriza-Chef Alexis Tsipras wird dabei zunichte gemacht.
Ab Juli 2019 hat die Syriza-Regierung Asylsuchenden sowie Menschen ohne Papiere den Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung entzogen. Seither dürfen Krankenhäuser nur noch Notfälle behandeln. Ein Bericht von „Ärzte ohne Grenzen“ besagt, dass seit Januar 2020 über eine halbe Million Geflüchtete in Griechenland keinen Anspruch mehr auf medizinische Betreuung haben – eine humanitäre Katastrophe, nicht nur vor dem Hintergrund der beginnenden Corona-Pandemie!
Immer häufiger flammen Proteste auf. Die brutale polizeiliche Unterdrückung dieser Proteste eskaliert am 3. Februar 2020. Grillmeier wird von Mama Maryam angerufen: Dieses Mal wollen sich „alle“ auf den Weg zur Hauptstadt Mytilini machen, um gegen die Lagerbedingungen zu protestieren. Die Autorin dokumentiert den Zusammenstoß zwischen den hochgerüsteten Spezial- und Militärkräften und den rund 2000 Menschen aus dem Lager in knappen Worten.
„In der Luft liegt ein beißender Gestank von verbranntem Plastik, juckendem Tränengas, nassem Rauch“, notiert Grillmeier. Die Menschen versuchten, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen, „von der Angst getrieben, im Tränengaskessel gefangen zu sein“. Grillmeier stößt auf bewusstlose Menschen mit Schaum vor dem Mund, darunter ein Baby, von der verzweifelten Mutter schreiend hochgehalten.
Die Bilder über die polizeiliche Brutalität gegen die wehrlosen Menschen lösten in Europa eine Welle der Empörung aus. Doch sie waren gewollt und dienten der Abschreckung. Die Krokodilstränen der EU-Politiker waren an Zynismus kaum zu überbieten. Auf ihre Versprechen über Verbesserungen folgten die verstärkte Abschottung der Grenzen und Verschlechterung der Lagerbedingungen.
Die Lager gleichen inzwischen Gefängnissen. Es besteht nächtliches Ausgangsverbot, am Tag braucht man eine Erlaubnis für stundenweises Verlassen des Geländes. Zugang zu rechtlicher Beratung ist fast völlig unterbunden. Die „beschleunigten Asylprüfungsverfahren“ haben sich als beschleunigte Ablehnungsverfahren erwiesen. Journalisten erhalten zu den vollständig geschlossenen und hoch überwachten Lagern kaum Zutritt.
Unter haltlosen Vorwürfen von „Terrorismus“, „Menschenschmuggel“ oder „Geldwäsche“ wurden zudem freiwillige Flüchtlingshelfer kriminalisiert. Weit bekannt geworden waren 2018 die Fälle von Seán Binder, dessen Mutter Grillmeier kennenlernt, und Sara Mardini, die als eine der „Mardini-Schwestern“ internationale Bekanntheit erlangte. Die Syriza-Regierung ließ sie verhaften und vor Gericht stellen. Erst zu Beginn dieses Jahres wurden die Vorwürfe fallengelassen.
In einem Dokumentarfilm auf ARTE, Gegen den Strom, erklärte Seán: „Ich halte das, was wir taten, für richtig. Es ist nichts falsch daran, Ertrinkende aus dem Wasser zu ziehen oder zu versuchen, Familien vor Unterkühlung zu bewahren, oder dafür zu sorgen, dass Schwangere keine Wehen an einer Klippe haben, oder Kindern zu zeigen, dass sie Kinder sein dürfen, oder Menschen mit sauberer Kleidung vor Parasiten zu schützen. Daran ist nichts falsch.“
Am Ende ihres Buchs beklagt die Autorin mit Hinweis auf die Ukraine die „drastische Ungleichbehandlung von Geflüchteten“ und die „fatale Einteilung“ der Flüchtlinge durch die Medien, die „oft mit offenem und unterschwelligem Rassismus“ einhergehe. Dafür hat sie selbst keine Erklärung.
Dennoch ist ihr Buch, das eine breite Leserschaft verdient, eine vehemente Anklage gegen die kriminelle Flüchtlingspolitik der EU.