Mehrere Überlebende der Flüchtlingstragödie vor der griechischen Hafenstadt Pylos bezeugen übereinstimmend, dass die griechische Küstenwache das in Seenot geratene Fischerboot Adriana mit mutmaßlich 750 Flüchtlingen zum Kentern gebracht hat. Sie widersprechen damit der offiziellen Version der griechischen Behörden, das Boot sei von selbst gekentert.
Laut den Zeugen warf die griechische Küstenwache ein Tau zu dem Flüchtlingsboot und versuchte zunächst, es abzuschleppen. Da dies offenbar nicht gelang, habe das Boot der Küstenwache zunächst einen starken Schwenk nach rechts und dann nach links vollzogen, wodurch das Boot gekentert sei. Die Küstenwache habe damit den Tod von Hunderten Flüchtlingen bewusst in Kauf genommen, wenn nicht sogar absichtlich herbeigeführt.
Die Adriana war in der Nacht zum Mittwoch, den 14. Juni, gegen 2:04 Uhr gekentert. 104 Überlebende wurden gerettet und bislang 82 Leichen aus dem Meer geborgen. Hunderte Flüchtlinge, darunter Frauen und Kinder, die unter Deck eingepfercht waren, wurden mit der Adriana in die Tiefe gerissen
Klar ist bislang nur, dass das Boot von Ägypten aus gestartet war und am 9. Juni vor der Hafenstadt Tobruk an der Ostküste Libyens einen Zwischenstopp eingelegt hatte, um Hunderte weitere Flüchtlinge an Bord zu nehmen. Am 13. Juni wurde das Boot gegen 9:47 Uhr von einem Überwachungsflugzeug der europäischen Grenzschutzagentur Frontex entdeckt. Frontex benachrichtigte die griechischen und italienischen Behörden, dass das überfüllte und mit langsamer Geschwindigkeit fahrende Boot in internationalen Gewässern, aber innerhalb der griechischen Seenotrettungszone gesichtet worden sei.
Am späten Dienstagnachmittag trafen dann zwei Frachter bei der Adriana ein. Der Kapitän der „Lucky Sailor“, die als erste eintraf, berichtete später, die Flüchtlinge an Bord hätten Hilfe verweigert und erklärt, nach Italien zu wollen. Sie hätten erst überzeugt werden müssen, wenigstens etwas Wasser und Nahrung anzunehmen.
Ähnliches behauptet die griechische Küstenwache, deren Boot am frühen Dienstagabend eintraf. Ilias Siakantaris, ein Sprecher der griechischen Regierung, erklärte dem griechischen Fernsehsender ERT, es sei ein Tau zur Adriane herübergeworfen worden, um das Boot zu stabilisieren und um zu sehen, ob es Hilfe brauche. „Sie sagten, sie wollten keine Hilfe, sondern nach Italien, und sind weitergefahren.“
Laut der offiziellen Erklärung der Küstenwache fuhr das überfüllte Flüchtlingsboot bis wenige Minuten vor dem Kentern mit gleichbleibender Geschwindigkeit und gleichem Kurs weiter. Dann sei es plötzlich stehengeblieben, gekentert und innerhalb weniger Minuten gesunken.
Zeugen widersprechen offizieller Version
Überlebende Zeugen widersprechen dieser offiziellen Version vehement.
Der Süddeutschen Zeitung berichteten Abu Ahmad und Abu Hussein (ihre Nachnahmen wollten sie aus Angst vor Repressionen nicht veröffentlicht sehen), die beide aus Syrien stammen, bereits am dritten Tag sei das Wasser an Bord ausgegangen und der Motor immer wieder ausgefallen. Fünf Menschen an Bord seien dehydriert zusammengebrochen und gestorben. Am Dienstag sei der Motor überhaupt nicht mehr gegangen und das Boot habe sich nicht mehr bewegt.
Dass die Flüchtlinge Hilfe abgelehnt hätten, bezeichnet Abu Hussein als Lüge. „Wir baten um Hilfe, von welchem Land auch immer.“ Es habe Streit um das verbliebene Wasser gegeben. Jeder Mensch habe erkennen können, dass sie Hilfe bräuchten.
Das deckt sich mit dem Bericht der Hilfsorganisation Alarm Phone, die bereits am frühen Nachmittag des 13. Juni einen Hilfeanruf entgegengenommen hatte. Die Flüchtlinge hätten berichtet, sie seien in Seenot und würden die Nacht nicht überleben.
Auch Recherchen der britischen BBC und des britischen Guardian wecken Zweifel an den Angaben der griechischen Behörden. Danach hat die Auswertung der Standorte der beteiligten Schiffe eindeutig ergeben, dass sich die Adriana mindestens sieben Stunden, wahrscheinlich sogar elf Stunden vor dem Kentern nicht mehr bewegt habe. Ein Foto der Adriana, das die griechische Küstenwache Stunden vor dem Unglück aufgenommen hatte, zeigt ebenfalls ein bewegungsloses Schiff.
Abu Hussein und Abu Ahmad berichten der Süddeutschen Zeitung weiter, die Männer an Bord des griechischen Küstenwachtbootes seien nur zum Teil uniformiert gewesen. Andere hätten schwarze Kleidung und Masken getragen. Sie hätten ein Seil am Bug der Adriana befestigt und begonnen, sie abzuschleppen. Das Seil sei jedoch gerissen, so dass ein weiteres Tau befestigt worden sei. Dann habe das Küstenwachtboot scharf nach rechts gedreht, worauf die Menschen an Bord der Adriana sich alle nach links bewegt hätten. Dadurch sei das Boot zum Kentern gebracht worden.
Andere Überlebende, die unabhängig befragt wurden, bestätigten dies.
So berichteten sämtliche Überlebenden, die von der Hafenbehörde in Kalamata befragt wurden, das griechische Küstenwachtboot habe das Kentern der Adriana herbeigeführt. „Sie versuchten unser Boot zwei oder drei Minuten lang abzuschleppen, aber jeder von uns schrie und pfiff, damit sie damit aufhören, da sie zu stark zogen und heftige Wellen auslösten. Zunächst konnten sie uns vorwärts ziehen, aber dann drehte das Küstenwachtschiff nach rechts und brachte unser Boot zum Kentern.“
Der Investigativjournalist Brirmi Jihed veröffentlichte auf Twitter Ausschnitte eines Interviews mit einem Überlebenden. Auch er beschreibt schwarz gekleidete, maskierte Mitglieder der Küstenwache, die ein Tau am Boot befestigten, das dann nach rechts und links gezogen wurde, bis es kenterte. „Ich habe mit anderen Überlebenden gesprochen. Wir sind alle zu hundert Prozent überzeugt, dass uns die Küstenwache versenkt hat. Wir wissen aber nicht, ob es beabsichtigt war oder ein Versehen.“
Auch der in Italien lebende Ägypter Mohamed Elsherkawy, dessen Bruder mit der Adriana ertrank, hat Überlebende interviewt und gefilmt, die die Version der anderen Zeugen bestätigen.
Sämtliche Berichte von Überlebenden sind nahezu deckungsgleich. Sie lassen nur den Schluss zu, dass die griechische Küstenwache das Kentern der Adriana verursacht hat. Viele Hinweise legen zudem nahe, dass dies mit Absicht geschah, nachdem es der Küstenwache nicht gelungen war, das Flüchtlingsschiff aus der griechischen Seenotrettungszone herauszuziehen. Das Küstenwachtboot soll unmittelbar nach dem Kentern des Flüchtlingsboots das Seil gekappt und sich bis auf einen Kilometer von der Unglücksstelle entfernt haben.
Laut den von der Süddeutschen Zeitung befragten Überlebenden sprangen alle Männer auf dem Deck der Adriana ins Meer, während es für die vielen Frauen und Kinder im Innern des Fischkutters kein Entkommen gab. Doch noch während die Adriana sank, sei das Küstenwachtschiff auf Distanz gegangen. 15 bis 20 Minuten lang habe die Küstenwache nur zugesehen. Erst dann habe sie kleine Boote ins Wasser gelassen. Abu Hussein und Abu Ahmad hätten nur überlebt, weil sie diesen Boten entgegenschwammen. Beide schließen daraus, dass die Küstenwache sie gar nicht retten wollte.
Dies bestätigte ein anderer Überlebender der griechischen Zeitung Kathimerini: „Als das Boot kenterte, trennte die Küstenwache das Seil und setzten seinen Weg fort. Sie entfernte sich immer weiter, obwohl wir alle schrien. Erst nach 10 Minuten kam sie zurück mit kleinen Booten, um Überlebende aufzunehmen. Diese blieben aber alle direkt beim Küstenwachtschiff. Sie nahmen nur die auf, die es schafften, zu ihnen zu schwimmen.“
Verantwortung der griechischen Regierung und der EU
Falls diese Aussagen zutreffen, hat die Küstenwache schwere Straftaten begangen: fahrlässige Tötung, Totschlag oder Mord durch unterlassene Hilfeleistung. Doch die griechischen Behörden versuchen, ihre Verantwortung für das schwerste Flüchtlingsunglück im Mittelmeer seit zehn Jahren zu vertuschen.
Das zuständige Gericht in Kalamata auf der Halbinsel Peloponnes hat am Dienstag entschieden, dass neun verhaftete Ägypter, die die Tragödie überlebt haben, in Untersuchungshaft bleiben. Gegen sie laufen Ermittlungen wegen Totschlags, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Herbeiführen des Kenterns eines Schiffes. Nach Aussagen von Überlebenden handelt es sich bei ihnen jedoch nicht um Schleuser, sondern nur um Helfer, die für die Überfahrt nichts bezahlen mussten, wenn sie die Überfahrt betreuen und Wasser und Essen verteilen.
Die Kommissarin für Inneres Ylva Johansson, die bei der Europäischen Union für Migration und Flucht zuständig ist, machte ebenfalls allein die Schleuser für die Katastrophe verantwortlich.
Auch der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, der sich zur Zeit der Katastrophe noch im Wahlkampf befand, sprach seine Küstenwache von jeder Schuld frei. Zynisch dankte er „der griechischen Küstenwache, der griechischen Polizei und den Streitkräften, die selbstlos und aufopferungsvoll die griechischen und europäischen Grenzen schützen und dabei Leben retten, von ganzem Herzen“.
Tatsächlich ist die griechische Küstenwache für ihr brutales Vorgehen gegen Flüchtlinge berüchtigt. Es gibt Dutzende Berichte über rechtswidrige Zurückweisungen, so genannte Pushbacks, aus griechischen Gewässern in Richtung Türkei, Italien und Malta. Dabei spielen schwarz gekleidete, maskierte Männer auf offiziellen Küstenwachtbooten eine entscheidende Rolle.
Im Mai hatte die Europäische Kommission die griechische Regierung angemahnt, eine Pushback-Operation unabhängig untersuchen zu lassen. Am 11. April war eine Gruppe von zwölf Flüchtlingen, darunter Kinder und ein sechs Monate altes Baby, von der Insel Lesbos auf ein griechisches Küstenwachtschiff gebracht und anschließend mitten in der Ägäis auf einem aufblasbaren Floß ausgesetzt worden.
Die Hauptverantwortung für das Massensterben im Mittelmeer liegt bei der Europäischen Union selbst. Ein Report der Europäischen Antibetrugsbehörde OLAF wies im vergangenen Jahr nach, dass zahlreiche Pushbacks von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex gedeckt oder sogar unterstützt wurden.
Der Migrationsforscher Maurice Stierl beschuldigte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Europäische Union, ganz bewusst Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken zu lassen, um „die Ankunft von Geflüchteten zu verhindern“. EU-Mitgliedsstaaten versuchten mit allen Mitteln, „nicht in Rettungen hineingezogen zu werden, Rettungsbemühungen zu verzögern oder Verantwortung auf andere Behörden oder Staaten zu schieben“. Geflüchteten auf See nicht zu helfen habe System, Zeit diene dabei als Waffe.
Stierl warf den europäischen Regierungen vor, eine systematische Seenotrettung im Mittelmeer bewusst zu verhindern, obwohl die Möglichkeiten dazu bestehe. „Frontex hat ein Millionenbudget, die Mitgliedstaaten haben Küstenwachen und Marinen. Natürlich könnten sie viel mehr tun. Sie wollen nicht.“
Die brutale Abschottungspolitik der EU ist für weit über 20.000 Tote im Mittelmeer in den letzten zehn Jahren verantwortlich. Die EU hat die Seenotrettung drastisch eingeschränkt und deckt die Praxis der illegalen Pushbacks in der Ägäis und im zentralen Mittelmeer. Sie stellt Milliardenbeträge für den Ausbau der Festung Europa bereit und unterstützt die menschenverachtende Flüchtlingspolitik der griechischen Regierung, die ein System von illegalen Pushbacks, menschenunwürdigen Internierungslagern und Deportationen aufgebaut hat.
Die EU zwingt die Flüchtlinge auf immer teurere und risikoreichere Routen und spielt damit skrupellosen Schleusern in die Hände, die Tausende Euro für die Überfahrt auf seeuntüchtigen Booten verlangen. Als Folge steigt die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge weiter an.
Erst am Mittwoch kenterte im Atlantik vor der Küste Marokkos ein Flüchtlingsschlauchboot mit 61 Menschen an Bord. Obwohl die spanische und marokkanische Küstenwache frühzeitig über den Seenotfall informiert wurden und ein Handelsschiff aus sicherer Distanz das Flüchtlingsboot begleitete, kenterte es. Mindestens 24 Menschen, darunter Kinder, ertranken dabei. Eine Seenotrettungsmission wurde erst zehn Stunden nach dem ersten Notruf eingeleitet.
Die Überlebenden werden in der Regel wie Dreck behandelt, in Internierungslager gesperrt und nach Möglichkeit abgeschoben. Mit dem Anfang Juni ausgehandelten Asylkompromiss der EU-Mitgliedsstaaten wird dieses perfide System noch weiter ausgebaut.
Abu Ahmad und Abu Hussein, die der Süddeutschen Zeitung über die entsetzliche Tragödie vor Pylos berichteten, sind im Containerlager Malakasa nördlich von Athen untergebracht. Das Lager sei umzäunt und werde von Polizisten und einer privaten Sicherheitsfirma überwacht. Sie bekämen dort eine Mahlzeit pro Tag und hätten nur schmutzige, gebrauchte Kleidung erhalten. Beim Verhör habe die Polizei nicht mitgeschrieben, was sie zu berichten hatten, und die Lagerleiterin habe sie angewiesen, nicht mit der Presse zu sprechen. Offensichtlich soll das entsetzliche Verbrechen, dass die griechische Küstenwache im Auftrag er EU verübt hat, mit allen Mitteln vertuscht werden.