Explosion des Kachowka-Staudamms verschärft die soziale Katastrophe für die ukrainische Arbeiterklasse

Die ukrainische Regierung setzt trotz schrecklicher Verluste ihre groß angekündigte und von der Nato unterstützte Gegenoffensive zur Rückeroberung der von Russland kontrollierten Gebiete in der Ostukraine fort. Gleichzeitig hat die Explosion des Kachowka-Staudamms, die innerhalb der ersten 48 Stunden der Offensive stattfand, die ohnehin schon katastrophale wirtschaftliche und soziale Lage der ukrainischen Arbeiterklasse nochmals deutlich verschlimmert.

Der Zusammenbruch des Kachowka-Staudamms hat bereits zu einer schweren ökologischen und humanitären Krise geführt. Innerhalb von weniger als zwei Wochen nach der Explosion des Staudamms wurden mindestens 17 Tote gemeldet, und Tausende von Anwohnern sowohl in den ukrainischen als auch in den von Russland kontrollierten Gebieten mussten ihre Häuser verlassen.

In Cherson am Morgen nach dem Dammbruch des Kachowka-Staudamms, 6. Juni 2023 [AP Photo/Evgeniy Maloletka]

Mindestens 35 Menschen werden vermisst, darunter sieben Kinder. Die Rettungsarbeiten dauern noch an, werden aber durch den anhaltenden Krieg erschwert.

In der Region Dnipropetrowsk haben laut dem Leiter des Regionalrats 300.000 Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser mehr, und für über eine Million Menschen könnte das Trinkwasser knapp werden. Die rechte Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vier Millionen Dollar für alternative Wasserquellen bereitgestellt – eine lächerliche Summe im Vergleich zu den Milliarden, die sie momentan ausgibt, um ukrainische Soldaten bei der Gegenoffensive in den Tod zu schicken.

Mehr als 150 Tonnen Maschinenöl wurden ins Schwarze Meer gespült, das bereits davor das am stärksten verschmutzte Gewässer Europas war. Große Mengen an Pestiziden und Düngemitteln wurden weggeschwemmt, und die Gefahr des Ausbruchs von Krankheiten, die durch Wasser übertragen werden, wie Cholera, ist stark gestiegen.

Auch Panzerabwehr- und amphibische Minen wurden weggespült und stellen jetzt, selbst weit von der Front entfernt, eine immense Gefahr für Zivilisten dar. Trümmer des Staudamms wurden an so weit entfernten Orten wie Odessa am Schwarzen Meer entdeckt.

Abgesehen von der unmittelbaren ökologischen und humanitären Katastrophe hat der Staudammbruch auch immense wirtschaftliche Folgen für die ohnehin verwüstete ukrainische Wirtschaft. Der Kachowka-Staudamm spielte eine zentrale Rolle für die Bewässerung des Ackerlands und der Versorgung wichtiger Fabriken in der Region mit Strom aus Wasserkraft.

Er wurde 1956 im Rahmen der Entwicklung der Wasserkraft in der Sowjetunion gebaut; daneben war er das zweitgrößte Süßwasserreservoir der Ukraine und versorgte durch ein System von Kanälen vier Provinzen mit Wasser.

Die Hauptfunktion des Staudamms als Bewässerungsreservoir war ausschlaggebend dafür, dass ein zuvor regelmäßig von Dürren heimgesuchtes Gebiet zur produktivsten Landwirtschaftsregion der Ukraine wurde.

Der Agrarwissenschaftler Wadym Dudka, der auch Vorstandschef des internationalen Landwirtschafts-Beratungsunternehmens Agroanalis Ltd. ist, erklärte gegenüber dem Kyiv Independent, die Region habe vor dem Dammbruch über 330.000 Hektar bewässertes Land verfügt und 80 Prozent des gesamten Gemüses sowie einen Großteil an Obst und Trauben der Ukraine produziert. Laut Dudka wurden zwischen 85 und 90 Prozent der Felder in der Region für Mais und Sojabohnen genutzt. Die Ukraine ist einer der weltweit größten Exporteure beider Produkte.

Während der letzten eineinhalb Jahre hatte der Krieg bereits die globalen Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben, und die Explosion des Staudamms wird die weltweite Inflation der Lebensmittelpreise weiter anheizen. In der Ukraine selbst sind die Lebensmittelpreise im ersten Kriegsjahr um 26 Prozent gestiegen, und die Preise für Grundnahrungsmittel wie Obst und Gemüse liegen um 20 Prozent über dem Vorjahresniveau. Die Eier-Preise sind um fast 130 Prozent gestiegen.

UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths erklärte vor kurzem in einem Interview mit der BBC: „Das ist eine Kornkammer – dieses ganze Gebiet bis hinunter zum Schwarzen Meer und der Krim ist eine Kornkammer, nicht nur für die Ukraine, sondern für die ganze Welt. Bei der Ernährungssicherheit und den Lebensmittelpreisen gibt es bereits jetzt Schwierigkeiten, aber die Lebensmittelpreise werden sicher noch weiter steigen.“

Griffiths prognostizierte: „Es ist nahezu unausweichlich, dass wir bei der Ernte und der Aussaat für die nächste Ernte riesige, riesige Probleme bekommen werden. Und das wird enorme Auswirkungen auf die globale Ernährungssicherheit haben – das wird passieren.“

Alleine im ersten Kriegsjahr hat der ukrainische Landwirtschaftssektor laut der Kyiw School of Economics 4,3 Milliarden Dollar verloren.

Das Ausmaß der Flutschäden auf der russischen Seite ist zwar noch unklar, doch die Ökonomin Monika Tothova von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen erklärte gegenüber Al Jazeera, dass die diesjährige Ernte der Ukraine fast mit Sicherheit eine Katastrophe werden wird.

Tothova erklärte auf der Grundlage von Satellitenbildern und Modellen der Überschwemmung, es sei „sehr wahrscheinlich, dass die diesjährige Ernte ein Totalausfall werden wird. Es hängt davon ab, wie lange das Wasser zum Abfließen braucht“.

Nach dem Zusammenbruch des Staudamms mussten auch mehrere Fabriken in der Region schließen, während die nationale Arbeitslosenquote bereits bei erschreckenden 26 Prozent liegt. Diese Zahl berücksichtigt nicht die fast 8,5 Millionen Ukrainer, die infolge des Nato-Krieges ins Ausland geflohen sind, und ebenso wenig die Hunderttausende, die freiwillig oder zwangsweise als Soldaten eingezogen wurden.

Die Region um den Kachowka-Staudamm ist noch immer ein wichtiges Zentrum der Stahlproduktion, und das Wasser des Stausees wurde für die Produktion benutzt. Die ukrainischen Stahlunternehmen Metinvest und ArcelorMittal hatten mehrere Fabriken in der Region, in denen Zehntausende von Arbeitern beschäftigt waren. Einen Tag nach dem Dammbruch, am 7. Juni, setzte ArcelorMittal, der größte Stahlproduzent der Welt und Besitzer des größten ukrainischen Stahlwerks, die Produktion von Roh- und Walzstahl aus. Metinvest hatte seine Produktion wegen des Kriegs bereits auf 35 bis 45 Prozent heruntergefahren. 

Zusätzlich zu den Folgen der Überschwemmung haben beide Unternehmen mehrere Fabriken an die russischen Streitkräfte verloren, darunter das riesige Werk Asowstal in Mariupol. Alleine Metinvest beschäftigte 37.000 Arbeiter in Gebieten, die jetzt von Russland kontrolliert werden. Das war eine wichtige Fertigungsindustrie, die nicht darauf ausgelegt war, entlang nationaler Grenzen und Fronten in zwei Hälften aufgespalten zu werden.

Vor dem Krieg lieferte die Ukraine ein Zehntel der europäischen Stahlimporte. Das war zwar ein verblassendes, aber immer noch bedeutendes Zeichen der früheren industriellen Macht, die zu Zeiten der Sowjetunion in der Ukraine konzentriert war. Seit Beginn des Krieges ist die gesamte Stahlproduktion der Ukraine um über 70 Prozent auf 6,26 Millionen Tonnen zurückgegangen.

Genau wie der Krieg insgesamt, ist auch die Tatsache, dass solche riesigen produktiven Industrien jetzt zerstört werden, und die riesigen Verluste von Arbeitsplätzen und ruinierten Leben letztlich eine Folge der Zerstörung der Sowjetunion und der Wiedereinführung des Kapitalismus durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991.

Statt den Krieg sofort zu unterbrechen, um die ökologische und humanitäre Krise zu bewältigen, die er ausgelöst hat, treibt die ukrainische herrschende Klasse – mit Unterstützung des westlichen Imperialismus – ihre Streitkräfte immer weiter und immer schneller in ein Massaker.

Zudem wird der Verlust von Arbeitsplätzen durch die Überschwemmung zweifellos bewirken, dass zahllose Ukrainer arbeitslos werden, sodass sie zum Kriegsdienst eingezogen werden können. Laut einem aktuellen Bericht der ukrainischen Nachrichtenagentur Strana hat eine verzweifelte Selenskyj-Regierung jetzt entschieden, dass die Männer beim Militär registriert sein müssen, um überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Dadurch sind viele hin- und hergerissen zwischen Arbeitslosigkeit und dem Risiko, eine Einberufung zu erhalten und an die Front geschickt zu werden.

Wie die WSWS berichtete, herrscht unter ukrainischen Arbeitern und Jugendlichen, welche die Hauptlast der angerichteten Katastrophe herum tragen müssen, weit verbreiteter Widerstand gegen den Krieg, obwohl Widerspruch und Kritik nahezu verboten sind.

Gleichzeitig beschuldigen sich Russland und die Ukraine gegenseitig, den Kachowka-Staudamm absichtlich zerstört zu haben. Das Institute for the Study of War in Washington DC berichtete letzte Woche: „Die Überschwemmung hat den russischen Truppen zuvor gehaltene Stellungen in mindestens zwölf Siedlungen am Ostufer des Dnipr genommen und hat die russischen Linien in einigen Gebieten um bis zu zehn Kilometer zurückgedrängt.“ Wenn das stimmt, könnte der Dammbruch, der zeitgleich mit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive begann, durchaus auf einen Sabotageakt im Auftrag der Selenskyj-Regierung zurückgehen.

Doch unabhängig davon, wer für die Katastrophe verantwortlich ist, müssen die Arbeiter den Staudammbruch vor allem als weitere Demonstration der immensen Gefahren verstehen, die der Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine birgt. Jetzt schon hat dieser Krieg für die Arbeiterklasse in der Ukraine und auf der ganzen Welt katastrophale Folgen.

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