Am Montag stimmten 7.000 Hafenarbeiter an der kanadischen Westküste mit über 99 Prozent für einen Streik gegen die Hafenbetreiber in British Columbia. Gleichzeitig breiten sich Bummelstreiks und Proteste an den Häfen der US-Westküste aus, wo 22.000 Hafenarbeiter seit fast einem Jahr ohne Tarifvertrag arbeiten.
Am vergangenen Wochenende wurde der Hafen von Seattle, Washington, einer der verkehrsreichsten Häfen im Pazifik, geschlossen, weil die Beschäftigten gegen das Lohnangebot der Pacific Maritime Association (PMA) protestierten. Sie hatte nur eine Erhöhung von mickrigen 1,56 Dollar pro Stunde versprochen, was weit unter der Inflationsrate liegt. Auch in einigen der größten Häfen der Welt, darunter Long Beach und Oakland, kam es zu Bummelstreiks. Vor der Küste bildeten sich kilometerlange Schlangen von Frachtern, die darauf warteten, am Hafen anzulegen.
Den Hafenarbeitern an der Westküste kommt eine sehr hohe Bedeutung in der kapitalistischen Weltwirtschaft zu. Seit fast 50 Jahren wird ein großer Teil des Welthandels über die dortigen Häfen abgewickelt, insbesondere seit der Entwicklung des transozeanischen Containerverkehrs.
Am 9. Juni hatte sich bereits Fracht im Wert von 5,2 Milliarden Dollar vor der Küste von Kalifornien, Oregon und Washington gestaut, und das nach nur wenigen Tagen, in denen die Arbeit verlangsamt, nicht aber gestoppt wurde. Man erinnere sich nur daran, welche gewaltigen wirtschaftlichen Auswirkungen es im März 2021 hatte, als das Containerschiff „Ever Given“ den Suezkanal blockierte.
Nahezu 40 Prozent aller US-Einfuhren – von Lebensmitteln über Computer bis hin zu Industrieprodukten – werden allein über die Häfen von Los Angeles und Long Beach abgewickelt. Der Ökonom John Martin, der auf die Seefahrt spezialisiert ist, stellte 2022 in einer Analyse fest, dass der Umsatz der wirtschaftlichen Aktivität an den Häfen der Westküste jährlich fast 2 Billionen Dollar beträgt. Das entspricht fast 9 Prozent des US-Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2021.
Der Arbeitskampf wirft eine grundlegende strategische Frage auf, die alle Hafenarbeiter durchdenken müssen: Wenn es den Unternehmen gelingt, nach ihrer altbekannten Taktik die Arbeiter der einzelnen Länder zu spalten, werden sie von ihnen größere Einschnitte abverlangen und höhere Gewinne einfahren. Wenn hingegen die Belegschaft die Initiative ergreift und sich über nationale Grenzen hinweg vereint, kann sie in die Gegenoffensive gegen die Hafenbetreiber gehen und die Unterstützung der Arbeiter in aller Welt gewinnen.
Überall an den Häfen brodelt die Wut der Arbeiterklasse über die Profite der Betreiber, die hohen Corona-Todeszahlen unter den Beschäftigten und die sinkenden Reallöhne angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten. Laut Crisis24, einer Beratungsagentur für maritime Sicherheit, gab es im vergangenen Jahr mindestens 38 größere Proteste oder Streiks in Häfen auf der ganzen Welt, fast viermal so viele wie im Jahr 2021.
In den letzten Monaten fanden in England, Frankreich, Argentinien, Südafrika, Chile, Südkorea, Deutschland und anderswo starke Hafenarbeiterstreiks statt, bei denen es um die gleichen Fragen ging wie an der Westküste Nordamerikas. Auch die Hafenarbeiter an der Westküste Mexikos haben in diesem Frühjahr mit Streiks gedroht, unter anderem in der Stadt Manzanillo im Bundesstaat Colima.
Laut einem Bericht des Nachrichtensenders Bloomberg vom Anfang des Jahres warnte Crisis24: „Es ist unwahrscheinlich, dass die Arbeitsunruhen bis 2023 zurückgehen, und sie könnten sogar zunehmen, falls sich die globalen wirtschaftlichen Bedingungen nicht verbessern.“
Der Kampf der Hafenarbeiter richtet sich gegen die Biden-Regierung, beide US-Parteien der Demokraten und Republikaner ebenso wie gegen die kanadische Regierung unter Trudeau.
In den letzten zwei Wochen erhielt die US-Regierung Briefe von den Arbeitgebervertretungen National Association of Manufacturers (7. Juni), National Retail Federation (5. Juni) und Retail Industry Leaders Association (2. Juni), die im Namen der Wall Street ein staatliches Eingreifen gegen die Hafenarbeiter forderten. Die Unternehmen verlangen, dass Biden einen Tarifvertrag diktatorisch durchsetzt, wie er es im letzten Jahr gegen die Eisenbahner getan hatte, nachdem diese gegen ein unternehmensfreundliches Abkommen gestimmt hatten.
Diese Pläne sind bereits in vollem Gange, wie aus einem Artikel des Journal of Commerce vom Montag hervorgeht. Demzufolge traf sich die kommissarische Arbeitsministerin Julie Su am Montag mit Vertretern der Pacific Maritime Association, um „die Verhandlungsführer der ILWU [International Longshore and Warehouse Union] dazu zu bewegen, sich in der Lohnfrage einem Niveau anzunähern, das eine baldige Einigung ermöglicht“. Julie Su war während des Eisenbahnerstreik die Stellvertreterin des damaligen Arbeitsministers Marty Walsh.
Für die Biden-Regierung und ihre Verbündeten in Kanada ist ein Ende der Hafenarbeiterstreiks nicht nur entscheidend für die Steigerung der Profite, sondern auch für die militärische Eskalation gegen Russland und die Kriegsvorbereitungen gegen China. Die herrschende Klasse hat gigantische Summen für die Aufrüstung bereitgestellt, was jetzt durch Lohnsenkungen und Sozialkürzungen bezahlt werden soll.
Die Häfen sind auch von zentraler Bedeutung für den Transport von militärischem Gerät in die ganze Welt. In einem Bericht des Army War College aus dem Jahr 2022 heißt es, dass die USA „auf ihre Seehäfen angewiesen sind, um ihre militärische Macht auf der ganzen Welt auszuüben. In einem größeren Konflikt würden 90 Prozent der US-Militärgüter auf dem Seeweg transportiert. Die militärische Hafeninfrastruktur ist heute auf 22 strategische Häfen konzentriert. 17 davon sind Handelshäfen, an denen das Verteidigungsministerium im Falle eines militärischen Konflikts in Übersee seine Ausrüstung zusammen mit zivilen Handelsgütern verschifft.“
In dieser Situation versuchen die Gewerkschaftsapparate der ILWU und anderer Hafenarbeiterverbände, einen Streik um jeden Preis zu vermeiden. Im Gegensatz zu der kanadischen Gewerkschaft hat die ILWU an den US-Häfen noch nicht einmal eine Urabstimmung über einen Streik einberufen, obwohl der Tarifvertrag schon im Juli 2022 ausgelaufen war. Lokale ILWU-Funktionäre wie der Präsident des Ortsverbands Local 29, Raymond Leyba, drohen damit, Arbeiter zu entlassen, wenn sie auch nur mit Reportern der World Socialist Web Site sprechen, so sehr fürchten sie sich vor dem wachsenden Unmut an der Basis.
Die Bummelstreiks und Proteste in den Häfen der Westküste zeigen aber, dass die Gewerkschaften zunehmend Schwierigkeiten haben, die Arbeiter zurückzuhalten. Der massive bürokratische Apparat, besetzt mit Funktionären, die nichts mit den Kämpfen der Hafenarbeiter zu tun haben, ist eine Bürde für die Arbeiter überall. Die Gewerkschaftsbürokraten sollen im Auftrag der Biden-Administration und des Staates die einfachen Arbeiter unter Kontrolle halten.
In dem Artikel „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs“, den der russische Revolutionär Leo Trotzki kurz vor seiner Ermordung durch die stalinistische GPU im August 1940 verfasste, schrieb er: „Es gibt in der Entwicklung, oder besser, in der Degeneration der gegenwärtigen Gewerkschaftsorganisationen der ganzen Welt einen allen gemeinsamen Zug: die Annäherung an die Staatsgewalt und das Verschmelzen mit ihr.“
In den über 80 Jahren seit Trotzkis marxistischer Analyse zur Degeneration der Gewerkschaften hat sich dieser Prozess weiter beschleunigt. Heute trennt die hochrangigen Gewerkschaftsbürokraten nichts mehr vom kapitalistischen Staat.
Die Hafenarbeiter dürfen nicht nachlassen und darauf warten, dass der ILWU-Apparat für sie tätig wird. Dieser Tag wird nie kommen. Denkt an das Schicksal der amerikanischen Eisenbahner, die mit überwältigender Mehrheit für einen Streik gestimmt hatten und sich gegen den Versuch der Gewerkschaftsbürokratie wehrten, die einen Ausverkaufsvertrag durchsetzen wollte. Ihr Kampf wurde von den Demokraten und Republikanern im Kongress unter dem Railway Labor Act de facto verboten. Man darf den Freunden der ILWU im Weißen Haus kein Vertrauen schenken.
Die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) wird die Arbeiter dabei unterstützen, die Macht in die eigene Hand zu nehmen. Die Arbeiterallianz ist ein weltweites Netzwerk demokratisch kontrollierter Aktionskomitees mit dem Ziel, dass Arbeiter in den Betrieben selbst die Kontrolle übernehmen, die Isolation durchbrechen und sich mit ihren Kollegen auf der ganzen Welt vereinen. Wir rufen alle Hafenarbeiter auf, uns noch heute zu kontaktieren.