New Yorker Philharmonie verweigert Aufführung von Schostakowitschs Leningrader Sinfonie

Die New Yorker Philharmonie hat ihr Programm für die Aufführungen im städtischen Kunstzentrum Lincoln Center ganz im Stillen völlig umgestaltet. Der russische Dirigent Tugan Sokhjev sollte ursprünglich die berühmte 7. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch (auch bekannt als  Leningrader Sinfonie) dirigieren. Diese Aufführung wurde jedoch abgesagt, und Sokhiev wird nicht auftreten. Stattdessen wird James Gaffigan u.a. ein Werk des ukrainischen Komponisten Walentin Silwestrow, Prokofjews 3. Sinfonie und Rachmaninoffs 3. Klavierkonzert dirigieren.

Noch vor einigen Monaten hat die Philharmonie Tickets für die Konzerte im Mai verkauft, auf denen eindeutig „Leningrader Sinfonie“ stand. Irgendwann wurde dies geändert, ohne dass jedoch die Ticketshalter darüber informiert wurden. Die Pressestelle des Orchesters erklärte diese Woche auf Nachfrage zuerst, es handle sich um „künstlerische Entscheidungen“; einen Tag später war von „Planungskonflikten“ die Rede. Ein Blick auf Sokhjevs Terminplan zeigt, dass er an diesen Tagen tatsächlich die Münchner Philharmonie dirigieren wird. Allerdigns geht es hier um mehr als nur um einen Terminkonflikt.

Tugan Sokhiev im Jahr 2012 [Photo by Frank Guschmann / CC BY 3.0]

Sokhiev war seit 2014 und bis letztes Jahr Musikdirektor und Hauptdirigent des Moskauer Bolschoi-Theaters, außerdem seit 2008 Musikdirektor des Orchestre National du Capitole de Toulouse in Frankreich. Vor einem Jahr sollte er in New York ein Programm mit Musik russischer Komponisten dirigieren, das etwa einen Monat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine plötzlich abgesagt wurde. Das Orchester gab eine Pressemitteilung heraus, in der es hieß, „aus Rücksicht auf die derzeitige globale Lage“ werde Sokhjev das Programm nicht dirigieren. Weiter stand da, die Entscheidung beruhe auf Gegenseitigkeit. Allerdings hatte Sokhiev, wie die WSWS damals betonte, in der Angelegenheit wohl kaum etwas zu sagen. Gleichzeitig hieß es letztes Jahr in der Pressemitteilung, die Philharmonie „freut sich darauf, Sokhiev in der nächsten Saison zu begrüßen“,

Jetzt hat zwar die neue Saison begonnen, doch die „derzeitige globale Lage“ - ein Euphemismus für den Nato-Stellvertreterkrieg in der Ukraine - dauert weiter an. Und mehrere Nato-Mitgliedsstaaten fordern ihre weitere Eskalation. Das ist der wahrscheinlichste Grund für den plötzlichen „Terminkonflikt“.

Letztes Jahr bezeichnete die WSWS die Absage von Sokhievs Auftritt als „Einknicken vor anti-russischen Vorurteilen“, und das trifft auch heute zu. Diesmal hat die Philharmonie keine Pressemitteilung herausgegeben, und sie verspricht auch keine künftigen Auftritte. In dem Abschnitt der Website des Orchesters, der Sokhiev vorbehalten ist, heißt es nur: „KEINE KONZERTE“ für die Saisons 2022-2023 (das zweite Jahr in Folge, in dem seine Auftritte abgesagt worden sind) sowie auch 2023-2024.

Die Vorstandschefin der Philharmonie Deborah Borda bestritt, dass ein Verbot russischer Musik schlechthin bestehe. Letztes Jahr wurde sie mit der Erklärung zitiert, es dürfe „keine umfassenden Entscheidungen“ zu Auftritten russischer Musiker in dem Orchester geben. Doch was auch immer die Philharmonie offiziell behauptet, ihr Vorgehen gegen die Leningrader Sinfonie und die fehlende Ankündigung künftiger Aufführungstermine kann nur nur als Fortsetzung oder sogar Verschärfung der allgemeinen anti-russischen Propagandakampagne betrachtet werden.

Sokhiev ist nur einer von vielen, die offen verbannt oder stillschweigend ausrangiert worden sind. Darunter finden sich bekannte Künstler wie die Sopransängerin Anna Netrebko, der Bass-Sänger Ildar Abdrasakow und der Dirigent Waleri Gergijew. Die New Yorker Metropolitan Opera hatte den Kurs vorgegeben, als sie letztes Jahr Netrebkos und Gergijews Auftritte abgesagt hatte.

In den letzten Tagen wurden weitere Absagen bekannt. Laut der Website OperaWire wurde die belarussische Mezzosopranistin Ekaterina Sementschuk ausgeschlossen, die ursprünglich in der nächsten Saison in der Neuinszenierung von Verdis La Forza del Destino an der Met auftreten sollte. Auf der Website heißt es, Sementschuk sei in letzter Zeit mehrfach am Mariinski-Theater in Sankt Petersburg aufgetreten, was der Met scheinbar als Vorwand für eine Planänderung ausreichte. Genau wie andere russische und belarussische Künstler hat Sementschuk noch weitere Auftrittstermine in Europa. Ihr Terminplan umfasst Auftritte bei der Bayerischen Staatsoper in München und der Mailänder Scala.

Ein weiteres Opfer der anti-russischen Kampagne ist die russisch-deutsche Sopranistin Anastasija Taratorkina. Sie wurde bei der Queen Sonja Competition in Norwegen ausgeladen, weil sie einen deutschen und einen russischen Pass hat, obwohl sie seit Jahren in Deutschland lebt.

OperaWire berichtet über eine E-Mail, die sie von der Sopranistin erhalten habe. Darin wird aus einer Mitteilung der Veranstalter der Queen-Sonja-Competition zitiert, inder es heißt: „Die diesjährigen Vorschriften verbieten russischen oder belarussischen Staatsbürgern die Teilnahme. Das bedeutet, dass Sie leider disqualifiziert sind, obwohl Sie auch einen deutschen Pass haben. Wir werden Ihnen natürlich ihre Bewerbungsgebühr zurückerstatten und hoffen, dass sich die Situation ändert, sodass Sie sich beim nächsten Mal erneut bewerben können.“

Extremistische ukrainische Nationalisten und ihre Anhänger fordern jedoch nicht nur ein Verbot russischer Künstler, sondern auch der Musik russischer Komponisten. Zuletzt gab es aufgrund einer heftigen Gegenreaktion zu dem Thema in den USA zwar wieder Aufführungen von Tschaikowski, Schostakowitsch und anderen. Tatsächlich dirigierte Sokhiev im Februar ein ausschließlich russisches Programm des Philadelphia Orchestra, in dem Werke von Borodin, Prokofjew und Tschaikowski zur Aufführung kamen.

Aber die New Yorker Philharmonie verweigert die Auftritte von Sokhiev. Wie wir letztes Jahr erklärten, geht die anti-russische Kampagne vielleicht nicht von der Philharmonie selbst aus, aber sie beteiligt sich daran, und das läuft auf das gleiche hinaus. Das Orchestermanagement macht sich vermutlich Sorgen um die Auswirkung der ukrainischen Proteste auf ihr öffentliches Image. Als das Osnabrücker Musikfestival das Violinkonzert des Ukrainers Silwestrow zusammen mit Schostakowitschs herausragender 8. Sinfonie aufführte, die ebenso wie die Leningrader Sinfonie im Krieg komponiert wurde, verurteilte der damalige ukrainische Botschafter in Deutschland diese Entscheidung.

Sokhiev äußerte sich letztes Jahr ausführlich auf Facebook. Für die ukrainische extreme Rechte und die faschistischen Elemente reicht die Tatsache, dass er Russe ist, aus um seine Arbeit abzulehnen. In einigen Kreisen könnte er für diese Tatsache vielleicht „Buße tun“, indem er sich in ausreichendem Ausmaß hinter das ukrainische Regime stellte. Wie wir berichteten, äußerte sich Sochjew erschüttert darüber, dass er sich „zwischen einem Teil meiner musikalischen Familie und einem anderen entscheiden muss ... Ich werde aufgefordert, mich für eine kulturelle Tradition zu entscheiden. Ich werde aufgefordert, mich für einen Künstler und gegen einen anderen zu entscheiden. Bald wird man mich auffordern, mich zwischen Tschaikowski, Strawinski, Schostakowitsch und Beethoven, Brahms und Debussy zu entscheiden. In Polen, einem europäischen Land, passiert es bereits, russische Musik ist dort verboten.“

Dmitri Schostakowitsch im Jahr 1942

Dass im Programm vom 10. bis zum 12. Mai ursprünglich Schostakowitschs 7. Sinfonie aufgeführt werden sollte, ist von besonderer Bedeutung und hat die erbitterteren Befürworter des Stellvertreterkriegs zweifellos erbost. Vermutlich verärgert kein anderes Werk im sinfonischen Repertoire die ukrainischen Nationalisten so sehr. Die New Yorker Philharmonie hatte die Leningrader Sinfonie letztmals Jahr 2019 vor der Corona-Pandemie unter dem Dirigenten Jaap van Zweden aufgeführt.

Diese Sinfonie entstand während der schrecklichen deutschen Belagerung Leningrads (des heutigen Sankt Petersburg), die 28 Monate, von September 1941 bis Januar 1944, andauerte, und in der mindestens eine Million sowjetische Soldaten und Zivilisten starben. Schostakowitsch, der anfangs den Befehl verweigerte, zu seiner eigenen Sicherheit in den Osten zu fliehen, vollendete die ersten drei Sätze während der Belagerung. Der letzte Satz wurde in Kuibyschew (heute Samara) geschrieben, und die Premiere fand im März 1942 in Moskau statt. Ihre berühmteste Aufführung war in Leningrad während der Blockade durch ein Orchester aus fünfzehn überlebenden Musikern am 9. August 1942.

Die Sinfonie wurde nach der Stadt benannt, in der sie komponiert wurde, und sie wurde sofort zum Symbol für die Kämpfe und Opfer der sowjetischen Bevölkerung gegen die deutschen Invasoren. In diesem Kampf leistete die Sowjetunion mit 27 Millionen getöteten Soldaten und Zivilisten den höchsten Blutzoll unter allen Teilnehmerstaaten des Zweiten Weltkriegs. Viele Millionen sowjetischer Arbeiter verteidigten die verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution 1917 trotz ihres Hasses auf das Stalin-Regime.

In den Jahren des stalinistischen Großen Terrors Ende der 1930er waren Schostakowitschs Karriere, und sogar sein Leben in Gefahr. Der Komponist wurde nach dem Krieg wiederholt Opfer von Angriffen, doch im Kampf zur Verteidigung der Sowjetunion fanden er und viele andere neue Stärke und eine neue Bestimmung.

Unter denjenigen, die gekämpft haben und, in so vielen Fällen, gestorben sind, befanden sich Juden und Nichtjuden, Russen, Ukrainer und Angehörige vieler anderer Nationen. Das ukrainische Regime möchte die Erinnerung an den vereinten Kampf gegen die Nazis und ihre Verbündeten, vor allem die ukrainischen unter der Führung des berüchtigten Stepan Bandera, am liebsten verdrängen und mit Lügen überhäufen. Was taten die ukrainischen Nationalisten, Banderisten und offenen Faschisten während der Belagerung von Leningrad? Viele von ihnen, besonders Banderas Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) leisteten den Nazis direkte Unterstützung oder organisierten ihre eigenen Pogrome und Morde an ukrainischen Juden.

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