EZB-Präsidentin warnt vor globaler "Fragmentierung"

Auch die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, schließt sich der wachsenden Zahl der Stimmen an, die davor warnen, dass das Auseinanderbrechen der Weltwirtschaft erhebliche negative Auswirkungen auf das internationale Finanzsystem und das Wirtschaftswachstum hat und zudem die Inflation fördern wird.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde im EU-Parlament Anfang 2023 [AP Photo/Jean-François Badias]

Der Krieg, den die USA in der Ukraine gegen Russland führen, und die zunehmende Konfrontation zwischen den USA und China haben die geopolitischen Gräben vertieft.

In ihrer Rede anlässlich Treffens des Council on Foreign Relations (CFR; „Rat für auswärtige Beziehungen“) in New York am 17. April 2023 betonte Lagarde, dass sich die tektonischen Platten der Geopolitik „schneller verschieben“. Sie sagte:

Wir erleben eine Fragmentierung der Weltwirtschaft in konkurrierende Blöcke, von denen jeder versucht, möglichst große Teile der Welt für seine jeweiligen strategischen Interessen und Wertvorstellungen zu vereinnahmen. Und aus dieser Aufspaltung werden möglicherweise zwei Machtblöcke hervorgehen, die jeweils von den beiden größten Volkswirtschaften der Welt angeführt werden.

Dies könnte „tiefgreifende Auswirkungen“ auf das politische Umfeld der Zentralbanken haben, fuhr sie fort. Dadurch könnten wir „mehr Instabilität erleben, da die globale Angebotselastizität nachlässt und ... wir werden wahrscheinlich mehr Multipolarität erleben, denn die geopolitischen Spannungen nehmen weiter zu.“

Die Phase verhältnismäßiger Stabilität nach dem Ende des Kalten Krieges weiche nun dauerhafter Fragilität, die zu „geringerem Wirtschaftswachstum, höheren Kosten und unsichereren Handelspartnerschaften“ führe, was wiederum das Risiko wiederkehrender Erschütterungen des Versorgungsnetzes mit sich ziehen könne.

Am deutlichsten erkennbar waren die Versorgungsengpässe bisher bei der europäischen Energiekrise, jedoch könnten auch andere kritische Ressourcen betroffen sein. Lagarde wies darauf hin, dass die USA bei mindestens 14 essenziellen Mineralien vollständig von Importen abhängig seien und in Europa 98 Prozent der Versorgung an Seltenen Erden, welche lebenswichtig für zentrale Wirtschaftsbereiche sind, von China abhingen.

„Wenn die globalen Wertschöpfungsketten entlang geopolitischer Linien aufbrechen, würden kurzfristig die weltweiten Verbraucherpreise um 5 Prozent steigen und selbst langfristig betrachtet 1 Prozent höher liegen“, prognostizierte sie.

Während der Zeit der US-Dominanz nach 1945, der „Pax Americana“, etablierte sich der Dollar als globale Leit- und Handelswährung. Mittlerweile ist der Euro zur zweitwichtigsten Währung aufgestiegen, aber die veränderten Handelsströme hatten Auswirkungen auf das internationale Zahlungssystem. Lagarde erläuterte:

In den zurückliegenden Jahrzehnten hat China seinen bilateralen Warenhandel mit Schwellen- und Entwicklungsländern bereits um das 130-fache gesteigert. Damit wurde das Land der weltweit führende Exporteur.

Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Handelsvolumen eines Landes mit China und der Bereitschaft, die chinesische Währung, den Renminbi, als Devisenreserve zu verwenden.

Bestimmte Länder könnten also bestrebt sein, ihre Abhängigkeit vom westlichen Zahlungssystem zu verringern. Sei es aus Gründen der politischen Präferenz, der finanziellen Abhängigkeit oder der Anwendung von Sanktionen. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass sich die Zahl der Länder, gegen die Sanktionen verhängt wurden, von 2012 bis 2022 verdoppelt hat, wobei praktisch alle Sanktionen auf Maßnahmen der USA zurückzuführen sind.

Derartige Entwicklungen, so Lagarde, deuteten nicht auf einen unmittelbar drohenden Verlust der Vorherrschaft von Dollar und Euro hin, „aber sie zeigen, dass ihr Status als Weltwährung nicht länger als selbstverständlich hingenommen wird“.

Lagarde dürfte bei der Ausarbeitung ihrer Ausführungen zweifellos die Rede des brasilianischen Präsidenten Lula berücksichtigt haben, die dieser einige Tage zuvor bei einem Besuch in China hielt.

In einer als „mitreißend“ beschriebenen Rede auf einer Tagung der New Development Bank (NDB; „Neue Entwicklungsbank“) in Shanghai forderte Lula die Entwicklungsländer auf, sich im internationalen Handel vom Dollar loszusagen.

Die NDB gilt auch als Bank der BRICS-Staaten, zu der neben Brasilien und China auch Russland, Indien und Südafrika gehören.

Unter tosendem Applaus des chinesischen und brasilianischen Fachpublikums kokettierte er:

Ich frage mich jeden Abend, weshalb müssen alle Länder ihren Handel auf Dollarbasis durchführen? Warum können wir nicht auf der Grundlage unserer eigenen Währungen handeln? Wer hat eigentlich beschlossen, dass der US-Dollar die einzig gültige Währung ist, nachdem die Golddeckung abgeschafft wurde?

Der brasilianische Handel mit China hat sich in den letzten zehn Jahren rasant entwickelt und erreicht inzwischen ein Volumen von mehr als 150 Milliarden Dollar. Dementsprechend gibt es Bestrebungen, diesen Handel in den eigenen Währungen abzuwickeln, und die ersten entsprechenden Vereinbarungen wurden in den letzten Wochen bereits geschlossen.

Von Thema mitgerissen, setzte Lula noch einen drauf:

Warum soll eine Institution wie die BRICS-Bank nicht eine Währung haben, um Handel zwischen Brasilien und China, zwischen Brasilien und all den anderen Ländern zu finanzieren? Wir denken, es sei komplett unmöglich, denn wir sind [an die Vorstellung] nicht mehr gewöhnt. Alles hängt von einer einzigen Währung ab!

Die Angelegenheit ist jedoch keineswegs so einfach, als dass es sich hierbei lediglich um einen Denkfehler handle. Wie die Financial Times hervorhob, basieren die Rohstoffmärkte einzig und allein auf dem Dollar, weil Rohstoffunternehmen, wie der Eisenerzgigant Vale, die meisten ihrer Transaktionen in Dollar abwickeln.

Ungeachtet dieser bestehenden Beziehungen gibt es jedoch eindeutig Bestrebungen, die enorme Macht, die den USA aufgrund der Dollar-Vorherrschaft zukommt, zu schwächen, wenn nicht gar zu brechen.

Die schwächelnde US-Position war Gegenstand eines Kommentars des ehemaligen US-Finanzministers Lawrence Summers (Demokrat) im Bloomberg-Fernsehen, der sagte, es sei „besorgniserregend“, dass die USA zunehmend an Einfluss verlieren:

Es wird zunehmend akzeptiert, dass die Welt zersplittert ist, und – was vielleicht noch beunruhigender ist und was ich befürchte – überall wächst das Gefühl, dass unser Land vielleicht nicht das beste Bruchstück ist, auf das man setzen sollte.

Die geopolitische Fragmentierung war eines der wichtigsten Gesprächsthemen am Rande der IWF-Weltbank-Tagung in Washington in der vergangenen Woche.

„Jemand aus einem Entwicklungsland sagte zu mir: ‚Was wir von China bekommen, ist ein Flughafen. Was wir von den Vereinigten Staaten bekommen, ist eine Predigt‘“, so der US-Finanzminister.

Das kürzlich von China ausgehandelte Abkommen über eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran sei eine „Riesenherausforderung für die USA“, sagte Summers.

Obwohl er nach wie vor der glühendste Verfechter des US-Imperialismus sowohl an der politischen als auch an der finanziellen Front ist, fuhr Summers fort:

Die Geschichte wird urteilen, dass wir stets richtig lagen – mit unserem Bekenntnis zur Demokratie, mit unserem Widerstand gegen die russische Aggression. Allerdings fühlt man sich auf der richtigen historischen Seite zuletzt ein wenig einsam, da sich diejenigen, die weit entfernt von der richtigen Seite stehen, immer häufiger in einer Vielzahl von Institutionen zusammenraufen.

In einer Anspielung auf die Rolle des Dollars und die Bedrohung seiner globalen Vormachtstellung verkündete er: „Wenn das Bretton-Woods-System auf der ganzen Welt nicht mehr ausreichend funktioniert, wird es zu ernsthaften Herausforderungen und Rufen nach Alternativen kommen“.

Dabei sind Handel und Finanzen nicht die einzigen Themen. Die Tatsache, dass die USA ihre Dollar-Vorherrschaft missbraucht, um ihre geopolitischen Ziele durchzusetzen, stößt immer mehr auf Widerstand. Insbesondere nach der jüngsten einseitigen Entscheidung, die Dollarbestände der russischen Zentralbank zu Beginn des Ukraine-Kriegs einzufrieren.

Gideon Rachman, Kolumnist für Außenpolitik bei der Financial Times, kommentierte: „Der US-Dollar, der als ‚sicherer Hafen‘ internationale Glaubwürdigkeit genießt, erscheint denjenigen, die befürchten, dass sie eines Tages auf der falschen Seite eines geopolitischen Streits mit Washington stehen könnten, jetzt weniger sicher.“

Der zunehmende Widerstand gegen die Hegemonie des Dollars wird zweifellos Gegenstand zahlloser Diskussionen in Washington sein. Zwar gibt es kaum Aussichten auf eine unmittelbare Ablösung des Dollars als Weltwährung, doch wird der US-Imperialismus es keinesfalls zulassen, dass seine Macht auch nur um ein Iota geschmälert wird.

Wir erinnern uns: 1971 führte die schwächer werdende Position der USA auf den Weltmärkten zu der Entscheidung von Präsident Nixon, das Bretton-Woods-Abkommen von 1944 einseitig aufzukündigen und die Golddeckung der US-Währung aufzuheben. Die so genannten Partner und Verbündeten der USA erfuhren von dieser Entscheidung wie alle anderen auch, als Nixon sie in einer Fernsehsendung am Sonntagabend bekanntgab!

Der Dollar konnte seine globale Rolle nach der Nixon-Entscheidung nur deshalb aufrechterhalten, weil die USA immer noch eine beträchtliche wirtschaftliche Macht hatten. Seitdem ist jedoch mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, in dem dieser Einfluss erheblich geschwunden ist. Darüber hinaus mutierte das US-Finanzsystem zum Auslöser schwerer Krisen für die Weltwirtschaft und ihr Finanzsystem.

Angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs versucht der US-Imperialismus, seine Hegemonie, zu der auch die Vorherrschaft des Dollars gehört, mit militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten. Dies unterstreicht die Bedeutung der vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale organisierten Online-Feier zum Ersten Mai am 30. April. Sie wird den internationalen Kampf der Arbeiterklasse gegen den Krieg auf der Grundlage eines sozialistischen Programms weiter voranbringen.

Loading