Am Donnerstag, den 9. März, neun Tage nach dem Zugunglück mit 57 Toten, hat die Polizei drei weitere Personen verhaftet.
Zwei der Verhafteten sind Bahnhofsvorsteher, die in der Nacht der Katastrophe angeblich vorzeitig ihre Schicht im Bahnhof Larissa beendet haben sollen. Der dritte ist eine Aufsichtsperson von Hellenic Rail, der vorgeworfen wird, zum Zeitpunkt der Katastrophe einen unerfahrenen Kollegen eingesetzt zu haben. Diesen Bahnhofsvorsteher, Vassilis Samaras, hatte man binnen 24 Stunden nach der Kollision der Züge vom 28. Februar verhaftet.
Im tödlichsten Eisenbahnunglück der griechischen Geschichte war ein Hochgeschwindigkeitszug InterCity 62 auf dem Weg nach Thessaloniki mit einem entgegenkommenden Güterzug zusammengestoßen.
Den vier Verhafteten drohen Prozesse u.a. wegen fahrlässiger Tötung, Eingriffen in den Verkehr und schwerer Körperverletzung.
Der verunglückte Personenzug war voller junger Menschen, die an die Uni in Thessaloniki zurückkehrten. Beim Zusammenprall war ein Waggon in Brand geraten, sodass viele Opfer bei Temperaturen von 1.300 Grad verbrannten. Dieser schreckliche und vermeidbare Verlust von Menschenleben löste eine anhaltende Welle von Protesten und Streiks aus.
Die Proteste könnten die konservative Nea-Dimokratia-Regierung zu Fall bringen. Sie richten sich jedoch auch gegen alle anderen Parteien, die in den letzten Jahrzehnten an der Macht waren.
Seit dem Zugunglück gab es täglich Proteste, und am 8. März beteiligten sich Hunderttausende an einem Generalstreik. Ein Eisenbahnerstreik, der nur wenige Stunden nach der Katastrophe begann, wurde bis am letzten Freitag verlängert.
Die Revolte richtet sich auch gegen den Versuch der Regierung, jede Verantwortung von sich zu weisen. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis erklärte nur wenige Stunden nach der Katastrophe, der Grund dafür liege im „menschlichen Versagen“ des Bahnhofsvorstehers von Larissa. Die Demonstrierenden reagierten darauf, indem sie auf Transparenten und Plakaten die Regierenden als „Mörder“ bezeichneten und die Privatisierung der Eisenbahnen verurteilten.
Bei einer Umfrage von Ant1-TV vom Donnerstag erklärten nur 12,1 Prozent der Befragten, „menschliches Versagen“ oder „ein Missgeschick“ des Bahnhofsvorstehers seien für den Zusammenstoß verantwortlich. 87 Prozent waren der Meinung, es gäbe „auch andere Faktoren, nach denen gesucht werden muss“.
Das Zugunglück in Tempi ereignete sich auf einem veralteten Eisenbahnnetz, auf dem jahrzehntealte Technologie zum Einsatz kommt, so dass sich Zugführer und Bahnhofsvorsteher über Walkie-Talkies verständigen müssen. Die Kürzungen, die mehrere Regierungen von ND, der sozialdemokratischen Pasok und von Syriza (Koalition der Radikalen Linken) durchsetzten, waren so gravierend, dass heute nur noch einige hundert der früher mehr als 6.000 Beschäftigten das gesamte Eisenbahnnetz betreiben. Das Bahnnetz wurde im Jahr 2017 von Syriza privatisiert und für einen Spottpreis verkauft.
Junge Menschen, die in ihrem Leben noch nichts anderes kennengelernt haben als harte Sparmaßnahmen und weit verbreitete Armut, beteiligen sich in Massen an den Protesten. Während des Generalstreiks am Mittwoch erklärten sie auf Plakaten und in Sprechchören: „Wir werden die Stimme der Toten sein, die neue Generation verzeiht euch nicht“, „Staatliche Vernachlässigung tötet“ und „Wir vergessen nicht und wir vergeben nicht“. Ein anderer Slogan - „Profite, getränkt im Blut der Studierenden“ - bezog sich auf die nach Thessaloniki zurückkehrenden Studierenden in dem verunglückten Personenzug.
Weitere Proteste fanden am 12. März u.a. in Athen, Thessaloniki, Alexandroupolis, Volos, Larissa, Chania und Patras statt. Daran beteiligten sich auch Schüler und Studierende, die Dutzende von Schulen und Universitäten besetzt halten. Der Gewerkschaftsdachverband PAME (Militante Arbeiterfront), der der stalinistischen KKE nahesteht, rief zu Kundgebungen auf.
Am Donnerstag sah sich Mitsotakis bei einer Kabinettssitzung zur Erklärung gezwungen: „Wir übernehmen die Verantwortung und wir können, sollten und wollen uns nicht hinter einer Reihe menschlicher Fehler verstecken ... Ich möchte mich öffentlich im Namen derjenigen, die das Land in den letzten Jahren regiert haben, und vor allem persönlich entschuldigen. Ich übernehme die Verantwortung.“
Bei demselben Treffen bestätigte die Regierung auch, dass die Parlamentswahlen nicht, wie geplant, im April stattfinden werden. Der erste und zweite Wahlgang werden auf Mai und Juni verschoben.
Am Donnerstag wurde die erste Wahlumfrage seit dem Zugunglück veröffentlicht. Ihr zufolge ist der Stimmenanteil der ND um fast drei Prozent auf 29,6 Prozent gesunken. Syriza liegt mit 25 Prozent auf dem zweiten Platz (zuvor 25,1 Prozent), und die Pasok erhielt 9,7 Prozent. Die Website Greek Reporter schrieb dazu: „Die Umfrage zeigt einen deutlichen Rückgang der Popularität von ND, allerdings können Syriza und Pasok nicht davon profitieren. Politische Analysten weisen darauf hin, dass die wütende und schockierte Öffentlichkeit sich den Lagern der unentschlossenen Wähler und der kleineren Parteien wie der Kommunistischen Partei (KKE), der Mera 25 von Yanis Varoufakis und den Rechtspopulisten anschließt.“
Kathimerini wies warnend auf den „scharfen Einbruch an der Athener Börse von 2,92 Prozent am Montag [dem 6. März]“ hin, da seit Tagen Proteste gegen die Regierung das Land erschütterten. Weiter heißt es dort: „Dieser Kurswechsel bedeutet nicht, dass die Befürchtung besteht, dass die nächste Regierung den Reformkurs [d.h. den Sparkurs] nicht fortsetzen würde. Er spiegelt lediglich die Tatsache wider, dass die Investoren derzeit eine undurchsichtige politische Landschaft sehen und lieber warten, bis es mehr Klarheit gibt.“
Die Abkehr von den großen Staatsparteien deutet auf einen Linksruck innerhalb der Arbeiterklasse hin, die einen jahrelangen brutalen Austeritätskurs ertragen hat. Millionen Haushalte sind verarmt, während große Teile des Staatshaushalts für die Militärausgaben aufgewandt werden, da Griechenland eine wichtige Rolle im Nato-Krieg gegen Russland spielt. Greek Reporter schrieb im Februar in einem Artikel: „Im Falle einer militärischen Eskalation in der Ukraine ist damit zu rechnen, dass die USA ihre Militäroperationen von der Souda-Bucht und der griechischen Militärbasis bei Alexandroupolis aus intensivieren, wie es das derzeitige Abkommen zwischen den USA und Griechenland über die gegenseitige Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen vorsieht.“
Der Stützpunkt in der Souda-Bucht „leistet wichtige logistische Unterstützung und Dienstleistungen für Schiffe und Flugzeuge der USA und ihrer Verbündeten, die im östlichen Mittelmeer operieren oder es durchqueren. Etwa 750 militärische und zivile Mitarbeiter sind hier stationiert. Der Stützpunkt gewährleistet die Kampfbereitschaft der zugewiesenen Einheiten, einschließlich Schiffen, Flugzeugen und sonstigen Einheiten.“
Die Greek City Times berichtete letzten Monat über Pläne der Athener Regierung, 20 neue Kampfflugzeuge des Typs F-35 für 80 Millionen Dollar pro Stück zu kaufen. Sie berichtete: „Alleine der Kauf der ersten 20 Flugzeuge wird sich (ohne Waffen und ohne die Kosten für die Ausbildung der Piloten) auf 1,6 Milliarden Dollar belaufen ... Wenn wir die Kosten für die F-35-Infrastruktur dazurechnen, die Arbeit griechischer Unternehmen, die Ausbildung von Piloten und die notwendigen Ersatzteile für die Zeit von der Auslieferung des ersten bis zur Lieferung des letzten Flugzeugs, könnten die Kosten auf 3,5 bis 3,7 Milliarden Dollar steigen.“
Die französische Tageszeitung Le Monde zitierte in einem Artikel über die Stimmung der Bevölkerung die Äußerungen der 50-jährigen Lehrerin Elpida Kalpakidi: „Dieses Zugunglück hat das Fass zum Überlaufen gebracht. In Griechenland funktioniert nichts. Das Bildungswesen, das Gesundheitssystem, das öffentliche Verkehrssystem, alles liegt in Trümmern. Diese Regierung hat nichts gegen diese schreckliche Situation im öffentlichen Dienst unternommen, sondern das Geld für Militär und Polizei ausgegeben!“
Die Zeitung kommentiert: „[Die Lehrerin] ist der Meinung, das Land habe sich nie von den Austeritätsmaßnahmen erholt, die ihm die Gläubiger (die Europäische Zentralbank, die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds) als Gegenleistung für Rettungspakete aufgezwungen haben.“
Den massenhaften Todesfällen infolge staatlichen Verschuldens zum Trotz konzentrieren Mitsotakis und die Profiteure bei Hellenic Rail sich darauf, dass der Eisenbahnbetrieb bis Ende August überall wieder läuft. Gleichzeitig arbeitet die Regierung an einem Plan, um die Wasserwirtschaft zu privatisieren. Das ist Teil einer Verpflichtung, bis 2025 weitere Milliarden durch Privatisierungen aufzubringen.
EU-Präsidentin Ursula von der Leyen äußerte sich letzte Woche auf Twitter über Diskussionen mit Mitsotakis darüber, welche „technische Unterstützung die EU Griechenland geben kann, um seine Eisenbahnen zu modernisieren und deren Sicherheit zu verbessern“. Allerdings wird bezüglich der Finanzierung kein zusätzlicher Cent erwähnt. Die EU besteht darauf, dass Griechenland die Bedingungen der Sparpakete weiterhin erfüllt, die die Regierungen von ND, Pasok und Syriza so zuverlässig durchgesetzt haben.
Mehr lesen
- Generalstreik in Griechenland: Hunderttausende protestieren nach dem tödlichen Zugunglück
- Griechenland: Proteste und Streiks wegen tödlichem Zugunglück gegen Regierung und privaten Eisenbahnbetreiber
- Die Katastrophe von East Palestine (Ohio): Ein Verbrechen des Kapitalismus
- Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien und die Rolle des deutschen Imperialismus