Rund zwei Wochen nach der Flüchtlingstragödie vor der kalabrischen Küste nahe der italienischen Stadt Crotone ist die Anzahl der Todesopfer auf 74 gestiegen. Am Samstag wurde die Leiche eines jungen Mädchens aus dem Wasser geborgen. Unter den Opfern sind 29 Minderjährige, 20 von ihnen Kinder unter 12 Jahren. Während 79 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet werden konnten, werden immer noch rund 30 Menschen vermisst.
Der grausame Tod der Flüchtlinge hätte vermieden werden können, wenn rechtzeitig eine Rettungsaktion eingeleitet worden wäre. Er wirft ein grelles Schlaglicht auf die mörderische Politik der Europäischen Union, die diese Opfer bewusst in Kauf nimmt, um andere Flüchtlinge daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. So plant auch die deutsche Regierung, die zivilen Seenotrettungseinsätze im Mittelmeer drastisch einzuschränken.
Das Auseinanderbrechen des Holzbootes mit vermutlich rund 200 Flüchtlingen an Bord nur wenige Dutzend Meter vom Strand entfernt hatte weltweites Entsetzen ausgelöst. Die Särge der Todesopfer wurden unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in einer Sporthalle von Crotone aufgebahrt. Mindestens 57 Todesopfer waren Flüchtlinge aus Afghanistan. Viele von ihnen hatten Angehörige in Deutschland und anderen europäischen Ländern, die nach Crotone gereist sind, um ihre Verwandten zu identifizieren und zu verabschieden.
Die faschistische Regierung Italiens unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni weist jede Verantwortung für die entsetzliche Tragödie von sich. Der parteilose Innenminister Matteo Piantedosi machte gar die Opfer selbst verantwortlich. „Sie hätten bei diesem Wetter schon gar nicht losfahren dürfen“, erklärte er zynisch. Die Verzweiflung rechtfertige „es nicht, dass man seine eigenen Kinder in Gefahr bringt“.
Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass ein Überwachungsflugzeug der europäischen Grenzschutzagentur Frontex am späten Abend des 25. Februar das Boot entdeckte. Anhand der Aufnahmen der Wärmebildkameras an Bord des Flugzeugs und des festgestellten Tiefgangs des Schiffes kam die Crew zu dem Schluss, dass rund 200 Menschen an Bord sein müssten. Frontex startete aber keine Rettungsmission, sondern informierte die italienische Finanzpolizei Guardia die Finanza, die „illegale Grenzübertritte“ verfolgt. Die von der Finanzpolizei entsandten Militärschiffe mussten bei Windstärke acht und vier Meter hohen Wellen jedoch beidrehen, bevor sie das Flüchtlingsboot erreichen konnten.
„Ein kleines überladenes Boot, und das bei einem Seegang, der zwei Militärschiffe zur Rückkehr zwingt, kann nicht anders als in Gefahr sein,“ schlussfolgerte die Tageszeitung il manifesto. Trotzdem wurde die Küstenwache im Hafen von Crotone mit ihren praktisch unsinkbaren Schiffen nicht zur Rettung entsandt. Sie wurde erst am 26. Februar gegen 4:30 Uhr aktiv und erreichte das zerborstene Schiff erst eine Stunde später. Zu diesem Zeitpunkt waren dutzende Flüchtlinge, die nicht schwimmen konnten, bereits ertrunken.
Meloni erklärte während eines Staatsbesuchs in den Vereinigten Arabischen Emiraten dennoch, „die Situation ist so einfach wie tragisch: Wir haben keine Notsignale von der europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex erhalten.“ Vielmehr sei alles getan worden, „um Leben zu retten, nachdem wir auf das Problem aufmerksam gemacht worden waren“. Sie fügte hinzu: „Ob irgendjemand in diesem Land ernsthaft glaubt, dass die Regierung bewusst mehr als 60 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, sterben lässt.“
Tatsächlich glauben das nicht nur viele, es ist die schreckliche Wahrheit. Was in der Nacht zum Sonntag vor der kalabrischen Küste geschah, sei „keine Tragödie, sondern das Ergebnis dieser ruchlosen Politik“, erklärte etwa der Arzt und langjährige Helfer bei Schiffsunglücken Orlando Amodeo, der auch beim Einsatz am 26. Februar vor Ort war, gegenüber dem Fernsehsender La7. Es sei „das, was wir wollen“.
„Festung Europa“
Und das bezieht sich nicht nur auf die italienische Regierung, sondern auf die gesamte Europäische Union. Die Toten von Crotone sind Opfer der tödlichen „Festung Europa“-Politik, die von Brüssel aus organisiert und von allen EU-Mitgliedstaaten unterstützt wird.
Als 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa zwei Flüchtlingsboote sanken und 500 Menschen in einen grauenhaften Tod rissen, versprach die Europäische Kommission noch, dass sich eine solche Tragödie nicht wiederholen dürfe. Doch das waren nichts weiter als leere Versprechungen. Die von der damaligen italienischen Regierung ins Leben gerufene Mission „Mare Nostrum“, die Flüchtlingsboote aufbringen und zurück nach Libyen eskortieren sollte, wurde auf Drängen der Europäischen Union bereits ein Jahr später wieder eingestellt, als knapp 100.000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und nach Europa gebracht worden waren.
Stattdessen bildete die EU Milizen in Libyen aus, rüstete sie mit Schnellboten aus und ernannte sie zur Küstenwache. Diese dient seither als europäische Söldnertruppe, die Flüchtlinge aufgreift, bevor sie internationale Gewässer erreichen, um sie zurück nach Libyen zu bringen. Dort werden sie in Lager interniert, denen selbst deutsche Diplomaten 2017 „KZ-ähnliche Verhältnisse“ bescheinigten.
Als private Hilfsorganisationen, die sich alleine über Spendengelder finanzieren, die Lücke schlossen, die der Rückzug der EU und der Mittelmeeranrainerstaaten aus der Seenotrettung hinterließ, wurden ihnen immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen. Unter dem falschen Vorwurf, die Anwesenheit der Seenotrettungsboote heize die Fluchtbewegung über das Mittelmeer an, wurden die Schiffe der privaten Hilfsorganisationen unter fadenscheinigen Anschuldigungen an die Kette gelegt und am Auslaufen gehindert.
Der damalige Innenminister und heutige Verkehrs- und Infrastrukturminister Matteo Salvini von der rechtsextremen Lega ließ 2019 die italienischen Häfen für private Seenotrettungsboote schließen und drohte mit drakonischen Strafen und der Konfiszierung der Schiffe. Die Regelungen wurden zwar im Oktober 2020 weitgehend wieder zurückgenommen, aber von der neuen faschistischen Regierung nur wenige Tage vor der neuerlichen Flüchtlingstragödie in veränderter Form wieder eingeführt.
Danach müssen private Rettungsboote nach einer Rettungsmission unverzüglich den ihnen zugewiesenen Hafen ansteuern, auch wenn es nicht der nächstgelegene Hafen ist. Auf dem Weg darf es außerdem keine weiteren Rettungen geben. Da die zugewiesenen Häfen zudem weit entfernt sind, ist eine schnelle Rückkehr in das Such- und Rettungsgebiet nicht möglich – mit der Konsequenz, dass erheblich weniger Flüchtlinge gerettet werden können.
Die Tinte auf dem Dekret der Regierung war noch nicht getrocknet, als die von der Organisation Ärzte ohne Grenzen betriebene „GeoBarents“ wegen der Rettung von 48 Flüchtlingen einen Strafbescheid erhielt, da sie angeblich gegen die neuen Regelungen verstoßen habe. Die „GeoBarents“ wurde für 20 Tage festgesetzt und mit einer Geldstrafe von 10.000 Euro belegt.
Deutsche Regierung geht gegen Seenotretter vor
Und auch die deutsche Regierung will massiv gegen zivile Seenotretter vorgehen. Nach Informationen des ARD-Magazins Monitor plant das Bundesverkehrsministerium unter Volker Wissing (FDP) eine Verschärfung der Schiffssicherheitsverordnung. Laut des Referentenentwurfs sollen Schiffe mit „politischen (…) und humanitären Aktivitäten oder vergleichbaren ideellen Zwecken“ nicht mehr zum Freizeitbereich gehören.
Als Konsequenz kommen auf die Hilfsorganisationen, die die Schiffe betreiben, enorme Kosten durch Umbauten, zusätzliche Technik, andere Versicherungsbedingungen und weitere Auflagen zu. Betroffen sind vor allem die kleineren Schiffe, die schnell vor Ort sein können und ertrinkende Menschen aus dem Meer retten.
„Für die Mehrheit der zivilen Seenotrettungsschiffe unter deutscher Flagge wird diese Verordnung bedeuten, dass sie ihre lebensrettende Arbeit einschränken oder einstellen müssen“, heißt es in einer Stellungnahme der NGOs Mare*GO, Mission Lifeline, r42-sailtraining, Resqship, Sarah Seenotrettung, Sea-Eye und Sea-Watch zu den geplanten Maßnahmen.
Die Ampelregierung vergrößere mit den Neuregelungen die „drastische Rettungslücke im Mittelmeer bewusst“, heißt es in der Erklärung der zivilen Retter weiter. „In Abwesenheit einer staatlichen Rettungsoperation und sicherer und legaler Fluchtwege werden den Preis für die geplanten Rechtsänderungen Menschen auf der Flucht mit ihrem Leben bezahlen.“
Das Verkehrsministerium wies diese Vorwürfe gegenüber der taz zurück, indem es behauptete, das Vorhaben ziele „nicht auf die Behinderung von privater Seenotrettung im Mittelmeer ab, sondern es geht im Gegenteil darum, deren Arbeit abzusichern“. Sicherheitsmängel der eingesetzten Schiffe sollten verhindert und damit der „Schutz von Leib und Leben gewährleistet“ werden.
Dabei hat es seit Beginn der Rettungsmissionen ziviler Schiffe bei hunderten von Missionen mit vielen tausenden Geretteten nicht einen einzigen Unfall gegeben, bei dem eine Einsatzkraft an Bord der Schiffe zu Schaden gekommen ist. Tatsächlich geht es bei der Verschärfung der Einsatzregeln für zivile Seenotretter nur darum, die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot einzuschränken.
Das Bundesverkehrsministerium folgt dabei Vorgaben, die die EU-Kommission zusammen mit der Grenzschutzagentur Frontex in der „Kontaktgruppe für Suche und Rettung“ entwickelt hat. Nach Informationen des Neuen Deutschland hat diese Kontaktgruppe am 31. Januar die EU-Mitgliedstaatenaufgefordert, „gemeinsam Überlegungen anzustellen“, wie die privaten Seenotretter reglementiert werden könnten. Dabei wurde insbesondere eine Verschärfung der Sicherheitsanforderungen angeregt, die unter dem Deckmantel des „Interesses der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ erfolgen solle.
Die deutsche Regierung agiert hierbei als treibende Kraft, ähnlich wie sie bereits 2015 den schmutzigen Deal der EU mit der Türkei vorangetrieben hat, mit dem Flüchtlinge daran gehindert werden, über die Türkei nach Europa zu gelangen. Dieses zynische Abkommen, in dessen Rahmen die EU die türkische Regierung für ihre Handlangerdienste bei der Flüchtlingsabwehr mit Milliarden Euro entlohnt, ist den Flüchtlingen auf dem nun vor der italienischen Küste gekenterten Boot zum Verhängnis geworden.
Alauddin Mohibzada, der bei dem Unglück seine Tante und drei Cousins und Cousinen im Alter von fünf, acht und zwölf Jahren verloren hat, nannte der Flüchtlingshilfsorganisation ProAsyl die Gründe dafür, dass sie die Überfahrt angetreten hatten, obwohl sie von dem Risiko wussten:
„Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten schon vor einigen Jahren aus Afghanistan fliehen, weil mein Onkel dort verfolgt wird und nirgends sicher ist. Die letzten Jahre haben sie in der Türkei gelebt. Da hatten sie aber keine Aufenthaltserlaubnis, sie waren illegal dort, ihnen hat die Abschiebung nach Afghanistan gedroht.
Sogar jetzt, wo die Taliban in Afghanistan an der Macht sind, schiebt die Türkei massenhaft Menschen nach Afghanistan ab. Sie haben deshalb schwarz in einer Textilfabrik für einen Hungerlohn gearbeitet, um irgendwie über die Runden zu kommen. Nebenbei haben sie Geld gespart für die Weiterflucht nach Europa.“
Legale Wege standen ihnen nicht offen und „ein Visum haben sie nicht bekommen. Und klar, von der Türkei nach Griechenland zu fliehen, klingt erstmal einfacher. Aber überall sind die Grenzen dichtgemacht worden. Und von Griechenland haben sie gehört, dass Flüchtlinge dort keinen Schutz kriegen, sondern jahrelang unter erbärmlichen Bedingungen feststecken. Das will doch niemand seinen Kindern zumuten.“
Selbst syrische Flüchtlinge, die infolge des katastrophalen Erdbebens in der Türkei erneut obdachlos geworden sind und vor dem Nichts stehen, erhalten in Deutschland keine Einreiseerlaubnis.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die 2020 Griechenland als Schutzschild Europas bezeichnet und damit Schüsse mit scharfer Munition gegen Flüchtlinge gerechtfertigt hatte, lobt jetzt auch ausdrücklich die italienische Regierung für ihr rücksichtsloses Vorgehen gegen Flüchtlinge. In einem Brief an Giorgia Meloni erklärt sie, dass Italiens Maßnahmen, „schutzbedürftigen Menschen mit humanitären Korridoren sichere und legale Wege anzubieten“, einen entscheidenden Beitrag für die Weiterentwicklung der europäischen Migrationspolitik darstelle.
Tatsächlich führt die EU einen regelrechten Krieg gegen Flüchtlinge. Bereits am 9. Februar hatte Ursula von der Leyen nach Beratungen der EU-Regierungschefs angekündigt: „Wir werden unsere Außengrenzen besser schützen und illegale Migration verhindern.“ Die Verstärkung der Abschottungspolitik beinhaltet dabei neben der Errichtung von kilometerlangen Grenzzäunen auch eine schamlose Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Despoten.
In ihrem Brief an Meloni bekräftigte von der Leyen dieses Vorhaben und versprach, insbesondere Libyen und Tunesien bei der Sicherung der Grenzen gegen Flüchtlinge zu unterstützen. Darüber hinaus „werden wir die libyschen Fähigkeiten für die Sicherung der Seegrenzen sowie für Such- und Rettungsmaßnahmen weiter unterstützen und ähnliche Fähigkeiten zur Kontrolle der Landgrenzen zu Ägypten aufbauen“.
Die italienische Regierung hat inzwischen angekündigt, Tunesien 100 Pick-Ups im Wert von 3,6 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um die Grenzkontrollen gegen Flüchtlinge zu verstärken. Dabei gehen die tunesischen Sicherheitsbehörden noch brutaler gegen Flüchtlinge vor, seitdem sie von Präsident Kais Saied in einer gewalttätigen und rassistischen Rede dazu angestachelt worden sind.
Seither versuchen tausende Flüchtlinge, so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Dabei sind in der vergangenen Woche mindestens 14 Menschen vor der Küstenstadt Sfax ertrunken, als zwei Boote kenterten. Dadurch erhöhte sich die Zahl der in diesem Jahr ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer auf mindestens 346. Seit 2014 kamen mehr als 25.500 Flüchtlinge im Mittelmeer ums Leben.