In der am Mittwoch beendeten Urabstimmung bei der Deutschen Post DHL AG haben sich 85,9 Prozent der rund 100.000 Verdi-Mitglieder für einen Streik ausgesprochen. Doch Verdi denkt nicht daran, den Streik zu organisieren. Die Gewerkschaft sieht ihre Hauptaufgabe darin, einen Streik zu verhindern.
Obwohl das Quorum von 75 Prozent deutlich übertroffen wurde, erklärte Verdi gestern in einer ersten Mitteilung lapidar: „Die Deutsche Post hat ver.di heute zur erneuten Aufnahme der Tarifverhandlungen aufgefordert. Die Verhandlungen werden am Freitag, 10. März 2023 fortgesetzt.“ Die Post hat noch nicht einmal ein Angebot vorgelegt. Dennoch will Verdi bis Samstagmittag Verhandlungsgespräche führen.
Verdi stellt sich so gegen die Entscheidung von rund 90.000 Mitgliedern und hinter die Konzernspitze, die gerade erst Rekordgewinne einfuhr. 5,35 Milliarden Euro Nettogewinn, ein Plus von über sechs Prozent, verkündete Post-Chef Frank Appel gestern. Der operative Gewinn (Ebit) stieg auf 8,4 Milliarden Euro, der Umsatz legte um 16 Prozent auf über 94 Milliarden Euro zu. Doch für die eine Milliarde Euro, die eine 15-prozentige Lohnerhöhung jährlich kosten würde, soll angeblich kein Geld da sein.
In einem internen Online-Meeting für Betriebsräte und Vertrauensleute der Post, an dem zeitweise 2400 Personen teilnahmen, gab die Verdi-Verhandlungsführende Andrea Kocsis schon die Argumente vor, mit denen ein mieser Abschluss für die Beschäftigten begründet werden soll. Das Rekordergebnis dieses Jahres werde es im nächsten Jahr nicht geben, sagte die Gewerkschafterin, die Konjunktur werde schwächer. „Deshalb rechnet sie [die Post] nächstes Jahr nur mit sechs bis sieben Milliarden Euro Gewinn.“
Die Kolleginnen und Kollegen sind hingegen streikbereit. Das zeigte sich auch in den Rückmeldungen vieler Beschäftigter beim Post-Aktionskomitee. Sie ahnten schon in den letzten Tagen, dass Verdi den Streik abwürgen will, bevor er begonnen hat.
„Wir sind alle irritiert“, erklärte eine Beschäftigte aus Bayern gestern am Telefon. Ihre Verdi-Vertreterin habe erklärt, sie wisse nicht, ob es überhaupt zum Streik komme, das würde am Freitag beraten. „Wir alle haben das anders geplant“, sagte die Beschäftigte, die seit 30 Jahren für die Post arbeitet. „Wir wollen streiken. Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, für unsere Interessen einzustehen.“
In dem Online-Meeting rechtfertigten neben Kocsis auch der zweite Verhandlungsführende, Stephan Teuscher, den Streikbruch Verdis. Teuscher sagte wörtlich: „Wir haben das Ziel, einen Arbeitskampf abzuwenden.“ Verdi sei zwar „sehr zufrieden mit dem Ergebnis der Urabstimmung“, so Teuscher. „Aber richtig ist, das wird ja das Problem nicht lösen. Denn das Problem ist, einen guten Kompromiss, einen guten Tarifabschluss durchzusetzen.“
Teuscher stllte so klar, dass Verdi nicht einmal in Erwägung zieht, ein gutes Ergebnis mithilfe eines Streiks durchzusetzen.
Kocsis ergänzte, sie hätten heute einen Arbeitskampf ausrufen können. „Wir haben aber jetzt gesagt, jetzt machen wir das mal Freitag und Samstag nicht mit dem Arbeitskampf. Denn dann wären die Arbeitgeber wieder so sauer, genervt und stinkig.“ Der Post-Vorstandsvorsitzende Frank Appel und Thomas Ogilvie, Personalvorstand und Arbeitsdirektor, hätten das ja auch schon kundgetan. „Die können streiken bis sie umfallen“, fasste Kocsis ihre Haltung zusammen. „Wir haben jetzt gesagt, so eine schlechte Stimmung brauchen wir jetzt nicht für die beiden Tage.“
Die Online-Veranstaltung war so angelegt, dass der Unmut der Teilnehmenden nicht sichtbar wurde. Nur Moderatorin Julia Klein konnte den gesamten Chat sehen. Zu Beginn verlas sie einige kriecherische Beiträge. Doch irgendwann sah sie sich gezwungen, auch kritische Äußerungen vorzutragen. So sagte eine Teilnehmerin, es sei ein „Schlag ins Gesicht aller Verdi-Mitglieder“, dass nun weiter verhandelt würde. „Jetzt muss gestreikt werden. Das ist unmöglich von Verdi.“
Teuscher antwortete: „Ich teile diese Ansicht nicht. Es geht beim Streik darum, schon mit der Streikankündigung und mit der Urabstimmung und mit dem Streik selbst, dem Arbeitgeber deutlich zu machen, was alles passiert, wenn er nicht versucht, in Verhandlungen einen Kompromiss zu erreichen.“
Und Kocsis antwortete auf die Frage, warum nicht gestreikt werde, wofür sich die Mitglieder entschieden hätten: „Weil der Druck gerade so besonders groß ist. Wir haben die Post an den Verhandlungstisch zurückgezwungen.“
Während also die Beschäftigten mit einem bundesweiten flächendeckenden Vollstreik ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung von 15 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten erzwingen wollen, will Verdi genau das verhindern. Verdi fürchtet, dass ein Streik bei der Post sogleich die öffentlich Beschäftigten ermutigen würde, ebenfalls in den Vollstreik zu gehen, und dass sich wie in Frankreich, Griechenland und Großbritannien eine mächtige Streikwelle gegen Lohnraub und Kürzungspolitik entwickeln würde.
Denn Verdi steht nicht für die Interessen der Beschäftigten ein, sondern ist der verlängerte Arm der Konzerne. Im 20-köpfigen Aufsichtsrat der Post AG sitzen zehn Funktionäre und Betriebsräte von Verdi, die jährlich über eine Million Euro erhalten, darunter die Post-Betriebsräte Thomas Koczelnik, Thomas Held, Stefanie Weckesser, Mario Jacubasch, Ulrike Lennartz-Pipenbacher und Gabriele Gülzau sowie die Verdi-Funktionäre Rolf Bauermeister, Teuscher und Kocsis. Letztere ist stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende bei der Post und streicht dafür eine Viertel Million Euro im Jahr ein.
Im Aufsichtsrat werden die Weichen für die Einstellung der McKinsey-Leute als Vorstände gestellt, deren Gehälter abgesegnet und grundlegende Fragen wie die Flexibilisierung beschlossen.
Das ist in allen öffentlichen Konzernen und Bereichen so. Verdi ist über ein vielfältiges und enges Geflecht auf das Engste mit den öffentlichen Arbeitgebern und den Berliner Parteien vernetzt. Der aktuelle Verdi-Chef Frank Werneke ist seit 40 Jahren Mitglied der Kanzler-Partei SPD. Sein Vorgänger Frank Bsirske versüßt sich sein Rentendasein finanziell als Bundestagsabgeordneter der Grünen. Zahlreiche Verdi-Funktionäre sind Mitglieder der Bundestagsparteien, allen voran der SPD, der Grünen und der Linken. Viele Posten in öffentlichen Unternehmen werden an „verdiente“ Parteimitglieder oder Verdi-Funktionäre vergeben.
Bis heute, über 30 Jahre nach Beginn der Privatisierung der Deutschen Bundespost, ist der Staat der größte Anteilseigner der Post AG. Über die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau hält die aktuelle Regierung über 20 Prozent der Aktienanteile. Vorsitzender des KfW-Verwaltungsrats ist Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Grüne.
Wenn die Post AG also in diesem Jahr aufgrund von Rekordgewinnen die Dividende erhöht und wieder weit über 2 Milliarden Euro an Dividenden auszahlt, dann erhält der Staat fast eine halbe Milliarde Euro.
Verdi will sichergehen, dass dieses Geld weiter aus den Beschäftigten herausgepresst wird. Am Samstag will die Gewerkschaft über ein Verhandlungsergebnis beratschlagen. Ohne konkret zu werden, deuteten Kocsis und Teuscher an, dass sie sowohl die 15-Prozent-Forderung als auch die zwölfmonatige Laufzeit für realitätsfern halten. Am Samstag werden sie und die Tarifkommission einen Ausverkauf absegnen und zur nächsten Urabstimmung vorlegen. Dann wird Verdi alles in ihrer Macht stehende tun, um das Angebot durchzudrücken und einen Streik zu verhindern.
Die letzten Tage haben zweierlei klar gemacht. Erstens, dass die 15-prozentige Lohnerhöhung nur durch einen Vollstreik gegen die Post durchgesetzt werden kann. Und zweitens, dass ein Vollstreik nur gegen Verdi durchgesetzt werden kann.
Die Postbeschäftigten sind daher aufgefordert, sich dem neuen unabhängigen Post-Aktionskomitee anzuschließen und eigene Komitees in ihren Zustellstützpunkten und Verteilzentren aufzubauen. Verdi muss das Mandat für die weiteren Verhandlungen entzogen werden, um einen bundesweiten Durchsetzungsstreik zu organisieren.
Ein solcher bundesweiter Streik hätte enorme Auswirkungen. Er würde als erstes die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst beflügeln, die ihrerseits mit den gleichen Problemen und Gegnern konfrontiert sind. Auch die Post- und Logistikbeschäftigten in anderen europäischen Ländern, die um ihre Löhne und Arbeitsbedingungen kämpfen, würden sich ein Beispiel nehmen.
Die hohe Streikbereitschaft der Postbeschäftigten ist Teil des Wiedererwachens der europäischen Arbeiterklasse, die in vielen Ländern und zahlreichen Branchen zunehmend gegen die Kosten des Nato-Kriegs gegen Russland und die soziale Verwüstung aufstehen und kämpfen. In Frankreich, Griechenland, Belgien, dem Vereinigten Königreich, Israel – überall sind Hunderttausende und Millionen auf den Straßen. Diese Kämpfe müssen vereinigt werden gegen die Regierungen und ihre Verbündeten in den Gewerkschaften.
Der erste Schritt dazu ist die Kontaktaufnahme mit dem Post-Aktionskomitee per Whatsapp-Nachricht an die Mobilnummer +491633378340 oder gleich hier über das folgende Formular.