Über 2,7 Millionen türkeistämmige Menschen leben in Deutschland. Die meisten von ihnen haben bis heute Familie und Freunde in der Türkei, auch in dem riesigen Erdbebengebiet im Südosten der Türkei und im Nordosten Syriens.
Hakan kam vor über 20 Jahren aus seiner Heimatstadt Antakya nach Deutschland. Sie liegt in der Provinz Hatay im Zentrum des Erdbebengebietes. Die Stadt war in der römischen Antike als Antiochia nach Rom und Alexandria die drittgrößte Stadt der Welt. Heute sind „mindestens 80 Prozent der Stadt nicht mehr existent“, berichtet Hakan. „Es ist eine Katastrophe. Dort lebten 400.000 Menschen.“
Wie viele gestorben sind, ist wie überall im Erdbebengebiet unklar. Hakan hat große Befürchtungen. „Wir können nur erahnen, wie viele Menschen noch tot geborgen werden. Die Zahl wird dramatisch steigen.“
Wie alle aus der Region ist auch Hakans Familie schwer betroffen. Er schildert, was er und seine Familie in den ersten Tagen nach dem Erdbeben durchmachen mussten. „Als am Morgen des 6. Februar wie an jedem Wochentag der Wecker meines Telefons um 6 Uhr klingelte, stellte ich beim Blick darauf fest, dass ich Dutzende von Nachrichten von meinen Bekannten erhalten hatte“, berichtet er.
„Zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, dass es in Antakya in der Türkei ein Erdbeben gab. Ich rief sofort meine Mutter an, die in Antakya lebt, aber ich konnte sie nicht erreichen. Dann rief ich meine Geschwister, Cousins und schließlich alle meine Bekannten in Antakya an. In den Morgenstunden konnte ich jedoch niemanden in Antakya erreichen.“
Besorgt ging er zur Arbeit und schaute ständig auf das Telefon. „Gegen 12 Uhr erfuhr ich in den Nachrichten, dass es ein zweites Erdbeben gab. Um 15 Uhr erhielt ich dann eine SMS von meinem Bruder. In der Nachricht stand nur: ‚Uns geht es gut‘. Ich dachte daran, schnell ein Flugticket zu kaufen und nach Antakya zu fliegen, aber im Reisebüro sagte man mir, dass der Flughafen Hatay zerstört sei und es keine Flüge dorthin gäbe.“
„In den Nachrichten verkündeten die staatlichen Stellen, dass Antakya wegen der zerstörten Straßen nicht auf dem Landweg zu erreichen sei. Am Mittag des 7. Februar konnte ich ein einminütiges Telefonat mit meinem Bruder führen, der mir mitteilte, dass ihre Lage schlimm sei, dass sie noch keine Hilfe erhalten hätten und dass die Menschen in den Trümmern schrien.“
„Diejenigen, die sich retten konnten, sind im Schlafanzug, barfuß oder auf Socken schnell aus den einstürzenden Häusern gerannt. Sie hatten nichts, nicht einmal Wasser. Sie haben gefroren und gehungert. Da fast alle Gebäude einstürzten, kam das Leben zum Stillstand, Strom, Erdgas und Wasser wurden abgestellt. Das Telefonnetz wurde unterbrochen. Die Stadt war von der Außenwelt abgeschnitten,“ schildert Hakan.
„Meine Mutter erzählte mir am Tag nach dem Beben, dass mein Bruder mit seiner Frau und den beiden Kindern im Auto schliefen, dass sie keine Kleidung, kein Wasser und kein Essen hatten, dass das Wetter ungewöhnlich kalt war – und dann war die Leitung tot.“
Seine Verwandten im Erdbebengebiet hätten nur selten Handy-Empfang. „Deshalb schlafen wir kaum. Wann immer sie Empfang dort unten haben, schreiben sie kurz und dann telefonieren wir schnell. Denn es sind meistens nur ein bis zwei Stunden Empfang, dann hört man stundenlang wieder nichts von ihnen.“ Er selbst hat genauso wie seine Familie seit dem Erdbeben kaum geschlafen.
Hakan, seine Frau Mihriban und seine Brüder in Deutschland sind seit dem Erdbeben fast unentwegt aktiv, um zu helfen und zu unterstützen. Sie sammeln Geld, um ihre Familie und Freunde zu unterstützen. Aus Deutschland heraus telefonieren sie fast pausenlos mit Freunden und Verwandten in der Türkei außerhalb des Erdbebengebietes und organisieren Hilfe.
So berichtet Hakan, dass sie im 900 Kilometer entfernten Uşak einen Kleinbus mieteten, ihn mit Decken, Wasser und Keksen füllten und nach Antakya schickten. „Wir wussten nicht, wo sich mein Bruder aufhielt“, erzählt Hakan, „aber wegen der großen Entfernung zwischen Uşak und Antakya wollten wir keine Zeit verlieren. Auch wenn wir meinen Bruder nicht erreichen konnten, wollten wir die Hilfsgüter, die wir für die Erdbebenopfer gesammelt hatten, abliefern.“
Durch einsetzenden Schneefall waren die Straßen zwischen Uşak und Antakya nur sehr langsam befahrbar, schildert er. Der Kleinbus benötigte daher für die 900 Kilometer 24 Stunden.
„Zu diesem Zeitpunkt erhielt ich eine Nachricht von meinem Bruder, die nur einen Standort enthielt,“ fährt Hakan fort. „Ich schickte den Standort an den Fahrer des Minibusses am Eingang von Antakya. Danach verlor ich den Kontakt mit dem Fahrer. Etwa drei Stunden später rief er mich aber an und holte meinen Bruder ans Telefon.“
Hakan berichtet erleichtert: „Damit hatten meine Mutter, mein Bruder und seine Familie das Erdbebengebiet verlassen.“ Gleichzeitig betont er: „Das Hilfsfahrzeug, das wir 900 Kilometer weit weg geschickt hatten, hatte die Region vor dem Staat erreicht.“
Dass die Rettung der Überlebenden vor allem auf die Initiative von Freiwilligen zurückgeht, darüber weiß Hakan zu berichten. Noch bevor staatliche Hilfe ankam, waren Freiwillige in die Region gereist und hatten versucht, Menschen aus den Trümmern zu retten.
Hakan berichtet, dass er versuchte, seine Tanten und Cousinen zu erreichen. „Mein Bruder erzählte mir, dass die Gebäude, in denen unsere Verwandten lebten, eingestürzt waren. Die Freiwilligen hatten jedoch nicht genügend Ausrüstung.“ Hakan rief beharrlich bei den staatlichen Einrichtungen an. „Ich sagte ihnen, dass meine Verwandten unter den Trümmern noch leben könnten. Ich versuchte, ihnen die Adressen meiner Verwandten zu geben. Doch die Behörden legten einfach auf.“
Er hat dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen Verwandten zu helfen. „Ich bat die Sozialistische Gleichheitsgruppe (Sosyalist Eşitlik Grubu) in der Türkei um Hilfe. In Abstimmung mit ihr informierten wir über Twitter freiwillige Rettungsteams über die eingestürzten Gebäude, in denen noch Menschen leben könnten. Auf unser Drängen hin gingen die Teams zu den Trümmern, in denen meine Tante lebte, und holten 26 Menschen lebend aus dem Schutt, darunter auch meine Tante.“
Er fährt fort zu beschreiben, wie sie weiterhin Menschenleben retten konnten. „Gemeinsam mit unseren Freunden von der Sozialistischen Gleichheitsgruppe meldeten wir den freiwilligen und staatlichen Rettungsteams die zu sondierenden Gebäudetrümmer. Aufgrund des sehr schwachen Netzes in der Region stellten wir eine Koordination zwischen den Menschen, die auf Hilfe für ihre Angehörigen warteten, und den Rettungsteams her.“
„Wir ermittelten die Regionen, in denen Zelte, Decken, Wasser und Lebensmittel benötigt wurden, und leiteten die aus verschiedenen Städten kommenden Fahrzeuge zur Verteilung der Hilfsgüter in diese Regionen. Bei ihrer Rückkehr sorgten wir dafür, dass die Fahrzeuge die Familien, insbesondere die mit Kindern und pflegebedürftigen älteren Angehörigen, in die Regionen außerhalb des Erdbebens brachten.“
Über ihre Bekannten organisierten sie Unterkünfte für die Erdbebenopfer außerhalb der Stadt.
„Ich schätze, wir konnten so etwa 150 Menschen aus dem Erdbebengebiet herausholen“, berichtet er. Seine Mutter und weitere Angehörige befinden sich in Sicherheit. „Lange Zeit wussten wir nicht, wo meine Tante ist,“ sagt er. Über Bilder, die sie über die sozialen Medien teilten, haben sie sie nun gefunden. „Ein Arzt rief mich an, und sagte, sie sei im Krankenhaus.“ Es gehe ihr den Umständen entsprechend gut.
„Der Staat traf erst drei Tage später mit einer begrenzten Anzahl von Rettungsteams in Antakya ein“, resümiert Hakan bitter. „Hätte der Staat rechtzeitig mit den Rettungsarbeiten begonnen, wäre die Zahl der Todesopfer viel geringer gewesen als jetzt. Der Staat hat den Tod von Tausenden von Menschen nicht nur dadurch verursacht, dass er vor dem Erdbeben keine Stadtplanung im Hinblick auf das Erdbeben vorgenommen hat, sondern auch dadurch, dass er nach dem Erdbeben zu spät in der Region eingegriffen hat.“
Das Ergebnis dieser staatlichen Politik ist eine Katastrophe für die Opfer des Erdbebens. „Wenn meine fünfjährige Nichte vom Erdbeben und den Folgen spricht, ist das nur schwer zu ertragen“, sagt er. „Ich habe so viele Freunde, aus der Schule, der Kindheit und Jugend, Bekannte und Verwandte verloren. Tanten, Cousins, Cousinen, viele sind tot“, berichtet Hakan schweren Herzens. „In Antakya, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, ist die Zahl meiner Bekannten, die ihr Leben verloren haben, jetzt viel höher als die der Überlebenden.“