Am Donnerstag beteiligten in Frankreich sich zwei Millionen Menschen an Streiks und Protesten gegen die von Präsident Emmanuel Macron geplanten Rentenkürzungen, zu denen die Gewerkschaftsverbände aufgerufen hatten. Laut Umfragen lehnen 80 Prozent der Bevölkerung die Kürzungen ab, durch die das Mindestalter für eine vollständige Rente auf 64 Jahre und 43 Beitragsjahre steigen würde. Den Aufrufen zum Streik folgten fast überall die Beschäftigten der Eisenbahn- und Verkehrsbetriebe, das Schulpersonal sowie die Elektrizitäts- und Raffineriearbeiter, und in Städten in ganz Frankreich gab es 200 Protestmärsche.
Laut den Gewerkschaften demonstrierten in Paris 400.000 Menschen, 140.000 in Marseille, 38.000 in Lyon, 60.000 in Bordeaux, 50.000 in Toulouse und Lille, 55.000 in Nantes und 35.000 in Straßburg. Darüber hinaus gab es in vielen kleineren Städten so große Demonstrationen, dass die Polizei überrascht war. So waren es 25.000 in Orléans, 21.000 in Le Mans, 20.000 in Nizza, 19.000 in Clermont-Ferrand, 15.000 in Tours, 13.000 in Pau, 10.000 in Chartres, 9.000 in Angoulême und 8.000 in Châteauroux.
In Lyon und Paris kam es zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. In Paris wurden, wie während der „Gelbwesten“-Proteste von 2018-19 gegen soziale Ungleichheit, 3.500 Bereitschaftspolizisten mobilisiert, um die Polizei beim Schutz von Regierungsgebäuden zu unterstützen.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnt Macrons Kürzungen ab. Angesichts der Welle von Streiks gegen Austerität und Inflation, die sich in ganz Europa und der Welt ausbreitet, bahnt sich eine explosive Konfrontation zwischen der Arbeiterklasse und der Macron-Regierung an. Tatsächlich erklärten französische Regierungsvertreter am Donnerstagabend provokant im Fernsehen, sie würden Macrons Kürzungen trotz der überwältigenden Ablehnung der Bevölkerung durchsetzen.
Der Minister für den öffentlichen Dienst, Stanislas Guérini, erklärte gegenüber TF1, Macron werde die Kürzungen trotz der Proteste nicht zurücknehmen: „Es waren heute viele Leute da [um zu demonstrieren], das sollten wir nicht kleinreden...“ Er fügte jedoch hinzu, die Kürzungen seien das „Ergebnis eines sozialen Dialogs“ zwischen den Gewerkschaftsbürokratien und dem Staat. „Die Mobilisierung ändert nichts an unseren Plänen.“
Der „Präsident der Reichen“ will die Renten um 13 Milliarden Euro pro Jahr kürzen, während die Staaten der Europäischen Union Billionen von Euro an die Banken und Konzerne verteilen und weitere Milliarden für Panzer und andere Waffen ausgeben, die sie für den Krieg gegen Russland in die Ukraine schicken.
Demonstranten erwähnten im Gespräch mit Reportern der WSWS auch den jüngsten Oxfam-Bericht über die vom kapitalistischen System verursachte Ungleichheit. Laut dem Bericht gingen zwei Drittel des seit 2020 neu geschaffenen Reichtums an das reichste Prozent der Gesellschaft. Weiter hieß es, dass die reichsten zehn Milliardäre Frankreichs ihre Vermögen seit 2020 um 189 Milliarden Euro steigern konnten. Das Vermögen des französischen Milliardärs Bernard Arnault, derzeit der reichste Mann der Welt, beträgt momentan 213 Milliarden Euro.
Eine Statistik zeigt, welchen oligarchischen Interessen Macron dient: Die 13 Milliarden Euro, um die er den jährlichen Rentenhaushalt kürzen will, sind weniger als die Summe, um die Arnault sein persönliches Vermögen seit 2020 jedes Jahr steigern konnte. Damals betrug sein Vermögen 79 Milliarden Euro.
Priscillia, eine Pflegerin, erklärte den WSWS-Reportern bei den Protesten in Paris, warum sie Macrons Kürzungen ablehnt: „Bei unserer schweren Arbeit ist das unmöglich. Wir sind keine Bürokräfte oder Minister in der Regierung, wir arbeiten im Gesundheitswesen. Wir halten es nicht bis 64 aus, es ist körperlich und psychisch nicht möglich. Ich muss oft körperliche Kraft einsetzen, um Menschen hochzuheben, selbst mit mechanischer Unterstützung benutzen wir unsere Körperkraft. Viele Kollegen sind deshalb bereits arbeitsunfähig geworden.“
Sie betonte außerdem ihre „Abscheu“ über die steigende Inflation, die die Arbeiter in Frankreich und der Welt in die Armut treibt: „Alles ist teuer, die Löhne steigen aber nicht. Wir müssen sehr sorgfältig darauf achten, was wir essen, wir müssen alle kleinen Vergnügungen wie Restaurantbesuche, Ausgehen oder Urlaub aufgeben.“
Über Macrons skrupellose Entscheidung, der Ukraine Panzer für ihren Krieg gegen Russland zu schicken, sagte sie: „Ich mache mir Sorgen, was zwischen Russland und Frankreich passieren kann, und auch um die französische Bevölkerung.“
Priscillia sprach von ihrer Wut über die Kluft zwischen Arnault, der jedes Jahr Dutzende von Milliarden Euro einstreicht, und den Arbeitern, die kaum über die Runden kommen: „Es ist widerlich, es sind wir, die Armen, die für so jemanden zahlen müssen. Wenn heute bei einem Ehepaar nicht beide arbeiten, können sie nicht über die Runden kommen. Wenn man im öffentlichen Dienst arbeitet, ist es extrem schwer, eine Wohnung zu bekommen. Wir verdienen zu viel, um Anspruch auf eine Sozialwohnung zu haben, aber zu wenig, um uns eine Wohnung auf dem freien Markt leisten zu können.“
Die Reporter der WSWS in Paris sprachen auch mit Ludovic, der erklärte: „Ich arbeite bei der Berufsfeuerwehr, ich bin im Rentensystem, und jetzt erfahre ich, dass ich zwei Jahre länger arbeiten soll, bevor ich in Rente gehen kann. Es ist ein körperlich anspruchsvoller Job, den ich sicherlich nicht bis zum Schluss durchhalte. ... Wir arbeiten Tag und Nacht, mit Schichten von 24 oder 48 Stunden; die körperlichen Anforderungen dieses Berufs führen dazu, dass wir eine um sieben Jahre kürzere Lebenserwartung haben als der Durchschnitt in Frankreich.“
Ludovic warnte, Macrons Rentenkürzungen zielten darauf ab, dass viele Arbeiter bis zu ihrem Tod arbeiten müssen: „In der Feuerwache, in der ich momentan arbeite, habe ich noch nie eine Ruhestandsfeier erlebt. Die letzten zwei Kollegen, die gegangen sind, kamen direkt auf den Friedhof, bevor sie in Rente gehen konnten. Ein Kollege starb eine Woche nach Beginn seiner Pensionierung an einem schweren Schlaganfall, ein anderer an Krebs. Es ist bekannt, dass unser Beruf gefährlich ist, wegen des ganzen giftigen Rauchs, den wir bei unseren Einsätzen einatmen.
Ich habe mit 19 angefangen zu arbeiten, ich will Freizeit, wenn ich in Rente gehe, nicht einfach nur sterben.“ Ludovic betonte, wie wütend er über die obszöne Bereicherung der Finanzoligarchie ist: „Es ist krank, dass man von uns verlangt, auf Dinge zu verzichten, sei es im täglichen Leben oder bei unserer Rente, während diese Leute unbegrenzte Möglichkeiten haben, sich zu bereichern.“
Catherine, eine Sozialarbeiterin, erklärte den Reportern der WSWS in Marseille, sie wolle Widerstand gegen den systematischen Angriff des herrschenden Establishments auf die sozialen Rechte der Arbeiter leisten: „Alles, was frühere Generationen aufgebaut haben, wird angegriffen.“
Sie fügte hinzu: „Sie zerstören alle unsere Rechte: Arbeitslosenversicherung, Sozialleistungen, öffentliche Krankenhäuser und jetzt die Renten. Das muss aufhören. Die Regierung verteilt Milliarden an die superreichen Konzerne und will keine Gegenleistung, und wir wissen nicht, was sie damit machen... Ich arbeite mit Leuten, die kämpfen müssen, in Suppenküchen essen, ihre Wohnungen nicht heizen können und ihr bisschen Eigentum verpfänden. Sie sind traurig, machen sich sorgen um ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Sie haben Angst, krank zu werden.“
Catherine betonte auch das zunehmende Misstrauen breiter Teile der Arbeiter gegenüber den korrupten Verhandlungen zwischen den Gewerkschaftsbürokratien und der Macron-Regierung: „Die Gewerkschaften repräsentieren nicht mehr die Arbeiter, sie haben sich kompromittiert. ... Ja, die Gewerkschaften wachen auf, aber man kann sich nicht mehr einfach auf sie verlassen, das ist nicht mehr möglich. Wir werden von allen Seiten angegriffen, deshalb müssen wir alle zusammen aufbegehren.“
Am Donnerstagabend trafen sich die französischen Gewerkschaftsverbände, darunter die stalinistische CGT, die sozialdemokratische CFDT und die Force ouvrière (FO) und kündigten weitere Streiks für den 23. Januar und einen neuen eintägigen landesweiten Protest am 31. Januar an. Die Gewerkschaftsbürokraten sind sich der explosiven sozialen Wut in der Arbeiterklasse durchaus bewusst und versuchen verzweifelt, sich als Gegner Macrons darzustellen, obwohl sie zusammen mit ihm die Kürzungen ausgehandelt haben.
Doch Arbeiter dürfen den Bürokratien der CGT, der CFDT und der FO kein Vertrauen entgegenbringen. Sie haben 2019-20 den Bahnarbeiterstreik gegen diese Rentenkürzungen isoliert, sodass Macron sie im März 2020 durchsetzen konnte. Er zog sie erst zurück, als es in ganz Europa zu Streiks gegen die Untätigkeit der EU gegenüber Covid-19 kam, weil er eine unkontrollierbare soziale Explosion befürchtete. Jetzt versucht Macron, mit Unterstützung der Gewerkschaftsbürokratien, die Rentenkürzungen erneut durchzusetzen.
Die bittere Erfahrung zeigt, dass die Fassade der gewerkschaftlichen „Einigkeit“ zusammenbrechen wird, wenn der Klassenkampf zwischen der Finanzoligarchie und der Arbeiterklasse eskaliert. Die Gewerkschaftsbürokraten werden dann versuchen, die kapitalistische Staatsmaschinerie gegen die Arbeiter zu unterstützen.
Die besten Verbündeten der Arbeiter in Frankreich im Kampf gegen globale Probleme wie Inflation, Krieg, Corona-Pandemie und Austerität sind ihre Klassenbrüder und -schwestern in anderen Ländern. Es brechen überall auf der Welt Streiks aus. In Großbritannien findet ein landesweiter Streik des Pflegepersonals statt, dazu wird zu Streiks im Verkehrs- und Bildungswesen aufgerufen; in Portugal befinden sich die Lehrkräfte landesweit im Streik. In den USA breiten sich Streiks von Pflege- und Lehrkräften aus, und immer mehr Eisenbahner fordern einen Streik gegen die drakonischen Zugeständnisse in einem Vertrag, den ihnen die Biden-Regierung aufgezwungen hat.
Der Weg vorwärts für Arbeiter besteht drin, den Gewerkschaftsbürokraten die Kontrolle über ihre Kämpfe zu entreißen und ein mächtiges Netzwerk von Aktionskomitees aufzubauen, das die Arbeiter über nationale Grenzen hinweg in einem Kampf zum Sturz korrupter kapitalistischer Regierungen wie der von Macron vereinen, und die Macht der Finanzoligarchie durch einen Kampf für den Sozialismus zerstören kann.