Vor den Neuwahlen im Februar

Lehrerinnen und Lehrer rechnen mit Durchseuchungs- und Sparpolitik des Berliner Senats ab

Am Freitag beteiligten sich in Berlin rund 2.500 angestellte Lehrer, Sozialpädagogen und Schulpsychologen an einem ganztägigen Warnstreik, zu dem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aufgerufen hatte. Die Streikenden verlangten kleinere Klassen und rechneten mit der Kürzungspolitik des rot-rot-grünen Senats ab, dessen Parteien die Bildungs- und Sozialetats seit Jahrzehnten zusammenstreichen und auch in der Covid-19-Pandemie Profite vor Leben gestellt haben.

GEW-Warnstreik Berlin, 25.11.2022

Die GEW hatte bereits im September und Oktober zu Warnstreiks aufgerufen, an denen sich jeweils 3.500 Lehrer und andere Schulbeschäftigte beteiligt hatten. Die GEW versucht mit den begrenzten Protestaktionen die immense Wut unter Kontrolle zu halten, die sich angesichts der katastrophalen Folgen der Corona-Durchseuchung und der jahrzehntelangen brutalen Kürzungspolitik überall im Schulpersonal entwickelt.

Während die Forderungen der Lehrer in der Bevölkerung seit Jahren größte Popularität genießen, hatte die GEW bei den Lehrerstreiks im April alles getan, um eine breitere Mobilisierung zu verhindern, und es sogar explizit abgelehnt, auch nur begrenzte Forderungen nach Corona-Schutz an den Schulen zu erheben.

Bei der Kundgebung am Nordbahnhof sprachen Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) am Freitag mit streikenden Lehrerinnen und Lehrern und verteilten den Wahlaufruf der SGP zu den Berlinwahlen. Die Wiederholung der Wahlen zum Berliner Senat, an denen die SGP mit einem Programm gegen Krieg und Sozialkahlschlag teilnimmt, wurde kürzlich auf den 12. Februar festgelegt.

Die SGP-Vertreter plädierten für einen Vollstreik und riefen dazu auf, den Kampf für sichere Bildung mit dem Kampf gegen Krieg und Covid-19 zu verbinden. Die Forderung der SGP, 100 Milliarden Euro in Bildung und Soziales zu investieren, statt in Rüstung und Krieg, stieß auf breite Zustimmung.

„Ich möchte einfach, dass mehr Geld in die Bildung fließt, anstatt in Waffenlieferungen, denn eigentlich hätten wir die Ressourcen“, sagt Karolin, die als Teilzeit-Lehrerin an einer Grundschule und einer Musikschule arbeitet. „An unserer städtischen Musikschule heißt es jedes Jahr, dass der Geldhahn zu ist.“ Sie fügt hinzu:

„Die Kinder an meiner Inklusionsgrundschule haben besonderen Förderbedarf. Ich bin Pädagogin, wir brauchen aber Sonderpädagogen. Wir waren das ganze Jahr über total unterbesetzt. Ich selbst bin Quereinsteigerin, habe aber schon einige Erfahrung, die mir aber nicht angerechnet wird, weil die Behörden angeblich überfordert sind. Das bedeutet für mich, dass ich seit August viel zu wenig Geld bekomme. Was die Räumlichkeiten angeht, gibt es in vielen Schulen kein warmes Wasser, die Zustände in den Toiletten sind furchtbar.“

„Die Burnout-Rate im Kollegium ist immens“, berichtet Karolin. „So viele sind aus psychologischen Gründen langfristig krankgeschrieben. Seit der Bologna-Reform wurde unser Beruf akademisiert - wir brauchen jetzt fünf Jahre bis zum Referendariat, werden aber nicht richtig darauf vorbereitet. Dieses lange Studium schreckt viele auch ab, denke ich. Teilweise ist es nicht möglich, in Teilzeit zu gehen. Es ist ein sehr intensiver Job. Die meisten Kolleginnen und Kollegen, die ich kenne, mussten im Verlauf der letzten Jahre eine Therapie anfangen.“

Die „Profite vor Leben“-Politik der Bundes- und Landesregierungen in der Covid-19-Pandemie hatte für Karolin niederschmetternde Folgen. „Ich gebe Musik- und Gesangsunterricht“, berichtet sie: „Das war bis April dieses Jahres verboten. Ich habe deshalb Einzelunterricht an einer Musikschule gegeben, den ich aber online machen musste. Es ging mir in der ganzen Zeit sehr schlecht. Ich konnte meinen Beruf nicht praktizieren, das ging zwei Jahre lang gar nicht. Ich habe mich nutzlos und bedeutungslos gefühlt.“

Karolin kritisiert, dass die Interessen der Kinder in der Pandemiepolitik in keiner Weise berücksichtigt worden seien – weder in medizinischer, noch psychischer Hinsicht. „Man hätte auf die Kinder achten müssen. Die Eltern mussten so viel Lohnarbeit machen, während sie auf die Kinder aufpassen sollten. Die Kinder haben von den letzten Jahren große psychische Schäden davongetragen.“

Stattdessen hätten die Profite der kapitalistischen Oligarchen im Zentrum gestanden. „Unsere Arbeit erzielt keinen Profit, außer dass wir neue Lohnarbeitende heranziehen. Es war sofort klar, dass die Lufthansa mit Milliarden gerettet wird. Es floss so viel Geld in die Wirtschaft. An den Schulen wurden nicht einmal Luftfilter installiert – da sieht man die Prioritäten der Regierung. Bisher hat sich unter der Ampel nichts verbessert. Man hat kaum Hoffnung, dass sich etwas ändert. Wir bräuchten eine echte Lobby.“

Als SGP-Mitglieder erklärten, dass die Gewerkschaften seit Jahrzehnten eine Schlüsselrolle dabei spielen, die Kämpfe der Arbeiterklasse entlang von beruflichen und nationalen Linien zu isolieren und auszuverkaufen, sagt Karolin: „Ich bin erst diese Woche in die Gewerkschaft eingetreten, und auch nur, weil ich nicht richtig bezahlt werde. Es gibt so viele Kategorien von Lehrern, ich verstehe das nicht. Ich begreife auch nicht, warum die Hürden zwischen den verschiedenen Bundesländern so hoch sind.“

Über den Aufbau von Aktionskomitees, die keine Geheimverhandlungen mit der Arbeitgeberseite eingehen und von den nationalen Gewerkschaften unabhängig sind, sagt Karolin: „Die Idee klingt super. Aber viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind nach der Arbeit so platt, dass sie nur ins Bett fallen. Alle sind so überlastet, viele haben selbst noch Familie.“ Karolin befürwortet eine internationale Bewegung der ganzen arbeitenden Bevölkerung gegen Sparpolitik, Sozialkürzungen, den Krieg und die Verwüstungen der Covid-19-Pandemie.

Eine andere Teilnehmerin des Warnstreiks, die seit vier Jahren an einer Berliner Grundschule arbeitet und anonym bleiben möchte, berichtet uns: „In den letzten Jahren sind unsere Klassen zwei Mal größer geworden, das wird immer kurzfristig vor den Ferien beschlossen. Mir geht es darum, diese Entwicklung endlich mal zu stoppen. Die Klassen sind jetzt schon zu groß. Man sollte die Klassen verkleinern, die Stundentafeln verkürzen und auch mehr Raum für Spiele und Projekte schaffen.“

Laut der Grundschullehrerin hätte sich gerade in der Pandemie gezeigt, dass andere Formen des Unterrichts und der Betreuung möglich sind: „Als wir in der Zeit nach den Lockdowns in Kleinklassen gearbeitet haben, hatten die Kinder weniger Unterricht, haben aber trotzdem mehr gelernt als zuvor. Als Lehrerperson war man zufriedener mit seinem Unterricht, weil wir auf alle eingehen konnten und alle mitkommen konnten. Das hat mir gezeigt, dass es nicht an der Menge des Unterrichts liegt, sondern an der Klassengröße. Kleinere Klassen wären der Schlüssel zur Zufriedenheit aller.“

Ihr Kollege fügte hinzu: „Von der politischen Seite her steht Lernen nicht im Vordergrund. Das hat sich in der Pandemie deutlich gezeigt. Die Kinder sollen verwahrt werden, damit die Eltern arbeiten können. Die Eltern sollen für ihre Berufstätigkeit verfügbar sein. Die Interessen der Kinder stehen dabei nicht im Vordergrund.“

Die SGP-Mitglieder sprachen auch mit Viktoria, die in Berlin angestellte Lehrerin ist und aus Russland kommt, und mit Ievgeniia, die im März aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist und seit April als Lehrerin in einer Willkommensklasse in Berlin arbeitet. „Wir brauchen kleinere Klassen, mehr Lehrkräfte, mehr und bessere Räumlichkeiten“, sagen beide. „Wir haben 25 bis 28 Kinder.“

Viktoria ergänzt: „Die Eltern haben in der Pandemie bisher gut mitgezogen und die Schulleitung hat versucht, uns zu schützen. Aber jetzt sind die Leute viel entspannter, obwohl die Zahlen teilweise viel höher sind. Das macht mir schon Sorgen. Ich selbst habe zwei Kinder, das war sehr problematisch. Man kommt schon an seine Grenzen, wenn man arbeiten muss und die Kinder gleichzeitig noch Aufmerksamkeit möchten. Man kann sich ja nicht verdoppeln. Man ist alleingelassen ohne Hilfe. Lehrer und Kinder waren krank. Man kann nicht gleichzeitig online und offline unterrichten.“

„In der Schule geht es nur noch um Aufsicht, die Beaufsichtigung der Kinder“, fährt Viktoria fort. „Man läuft allein zwischen zwei Klassen hin und her. Man muss gleichzeitig noch Eventmanager und Krankenschwester sein. Wir brauchen auch medizinisches Personal. Es fehlen überall Menschen. Man versucht überall zu helfen, aber daran geht man kaputt. Wenn man die Schulen aufbaut, braucht man keine Gefängnisse und Kriege zu führen. Bildung ist alles. Ich habe auch eine Zeitlang in einem Oberstufenzentrum in Moabit gearbeitet, an einer Uni und einem Gymnasium, aber dort war es auch nicht besser. Auch an den Unis fehlen sehr viele Leute. Die Doktoranden müssen teilweise mit 600 Euro zurechtkommen und bekommen keine Verträge. Man muss sich zwischen Karriere und Kindern entscheiden.“

Ievgeniia, die in der Ukraine Deutsch gelernt hat, nickt und sagt: „Ich bin auch dafür, dass eine Krankenschwester in der Schule ist. In der Sowjetunion gab es immer einen Arzt und Krankenpfleger. Wir können das nicht alles ausgleichen. In Russland und der Ukraine werden unsere Berufe noch schlechter bezahlt.“

Viktoria und Ievgeniia stimmen zu, dass die Regierungen der USA und Deutschlands versuchen, Arbeiterinnen und Arbeiter in Russland und der Ukraine gegeneinander aufzuhetzen. „Was sollen wir denken?“, fragt Viktoria. „Es ist schrecklich. Es ist nicht gut für alle Seiten. Ich weiß nicht, was da oben passiert. Ich habe meine Familie seit Jahren nicht gesehen, weil Menschen mit Sputnik-Impfung nicht nach Europa einreisen durften. Was mit der Ukraine gemacht wurde, ist noch schlimmer. Für die Menschen hier unten ist es eine Katastrophe. Dass die Kinder mit Hass aufwachsen… Wie sollen wir in Zukunft zusammenleben? Ich weiß nicht, wer diesen Brei gekocht hat. Jemand profitiert auf jeden Fall, aber nicht wir.“

Die Sozialistische Gleichheitspartei wird die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zu einem Referendum gegen Krieg und Sozialkahlschlag machen. Ihre Jugendorganisation IYSSE richtet am Samstag, den 10. Dezember um 19 Uhr, eine internationale Online-Veranstaltung aus, um eine weltweite Massenbewegung der Jugend gegen den Krieg in der Ukraine und die Gefahr eines dritten Weltkriegs ins Leben zu rufen. Registriert euch für die Veranstaltung und nehmt mit uns Kontakt auf, um am Aufbau unabhängiger Aktionskomitees an euren Schulen und Einrichtungen teilzunehmen.

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