Am Sonntag kamen bei dem Terroranschlag auf der Istiklal Caddesi (Unabhängigkeitsstraße), einer der belebtesten Straßen Istanbuls, sechs Menschen ums Leben, darunter zwei Kinder. Zwei der Verwundeten befinden sich noch auf der Intensivstation und schweben in Lebensgefahr.
Genau wie bei den zahllosen Terroranschlägen in der Türkei und der Welt in den letzten Jahren reagierte die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit der Aussetzung demokratischer Grundrechte und der drastischen Einschränkung des Zugangs der Öffentlichkeit zu Informationen im Internet. Da der mutmaßliche Täter offiziell als Syrer identifiziert wurde, begannen rechtsextreme Kräfte in den sozialen Netzwerken eine Kampagne gegen Flüchtlinge.
Die World Socialist Web Site ruft alle Arbeiter auf, sich solchen Versuchen der herrschenden Elite zu widersetzen, wenn sie den schmutzigen Anschlag zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, für die Abschaffung demokratischer Grundrechte und die Propagierung von Nationalismus und Militarismus nutzen.
Laut den Behörden wurden bisher 48 Menschen verhaftet, darunter die Verdächtige, die die Bombe auf der Istiklal Caddesi gelegt haben soll. Laut einer Erklärung der Sicherheitsdirektion von Istanbul von Montag sei die weibliche Verdächtige, die die Bombe gelegt haben soll, „von der [kurdisch-nationalistischen] Terrororganisation PKK/PYD/YPG als Geheimdienstspezialistin ausgebildet“ worden und soll vor vier Monaten „illegal über Afrin-Idlib [in Syrien] in die Türkei eingereist sein, um Anschläge zu verüben“.
Auf Videoaufnahmen ihrer Festnahme und auf den Fotos in Polizeigewahrsam wirkt die mutmaßliche Täterin, die syrische Staatsbürgerin Ahlam Albashır, verängstigt.
Die Erklärung eines ungenannten hochrangigen türkischen Regierungsvertreters gegenüber Reuters, es sei nicht auszuschließen, dass sie in Verbindung zum Islamischen Staat (IS) stehe, stellt die Glaubwürdigkeit der offiziellen Erklärungen weiter in Frage. In den letzten Monaten haben die Spannungen zwischen Ankara und seinen islamistischen Stellvertretern in Syrien zugenommen. Vor kurzem wurde bekannt, das die Organisation Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) in Afrin einmarschiert ist, das von der türkischen Armee und ihren Stellvertretern kontrolliert wird. Die HTS konnte dabei Streitigkeiten innerhalb der von der Türkei unterstützten „Syrischen Nationalen Armee“ (SMO) ausnutzen.
Laut der Istanbuler Sicherheitsdirektion hat Albashır erklärt, sie habe „vom Hauptquartier der Terrororganisation PKK/PYD/YPG im syrischen Kobanê Anweisungen erhalten, in Istanbul einen Anschlag zu verüben. Daraufhin habe sie den Bombenanschlag am Sonntag, den 13.11. 2022 um 16:20 Uhr verübt und sei dann geflohen.“
Weder Albashırs Anwälte noch die Anwälte der mehr als 40 Verhafteten haben jedoch bisher eine Erklärung abgegeben oder die Verantwortung übernommen.
Innenminister Süleyman Soylus Äußerungen weisen jedoch auf eine weitere Eskalation der Spannungen zwischen der Türkei und ihren Nato-Verbündeten unter Führung der USA hin. Soylu beschuldigte öffentlich Washington, das in Syrien die YPG unterstützt, und erklärte, die Regierung weise die Beileidsbekundungen der US-amerikanischen Botschaft zurück: „Wir haben die uns übermittelte Botschaft erhalten. Wir wissen, was sie besagt. Wir weisen die Beileidsbekundung der US-amerikanischen Botschaft zurück.“
Soylu erklärte, das Bündnis zwischen der Türkei und Washington sei fragwürdig, und fügte hinzu: „Das Bündnis mit einem Staat, der Geld von seinem eigenen Senat nach Kobanê schickt, sollte diskutiert werden. Wir verhalten uns niemandem gegenüber verräterisch, aber wir können diese verräterischen Handlungen nicht mehr tolerieren. Wir werden eine sehr nachdrückliche Antwort auf die Botschaft geben, die wir erhalten haben.“ Mit „nachdrücklicher Antwort“ mein Soylu möglicherweise eine neue türkische Militäroperation gegen YPG-Milizen in Syrien.
Nach dem Putschversuch in der Türkei am 15. Juli 2016, der von der Nato unterstützt wurde, starteten die Erdoğan-Regierung und ihre islamistischen Stellvertreter mehrere Invasionen in Syrien, um die Entstehung einer von der YPG geführten Enklave zu verhindern. Im Mai dieses Jahres kündigte Erdoğan an, dass die türkische Armee eine neue Offensive gegen die kurdischen Kräfte in Syrien vorbereitet. Allerdings rückte er angesichts des Widerstands der USA, Russlands und des Irans davon ab. Die USA halten den Nordosten Syriens besetzt, und Russland sowie der Iran unterstützen das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad.
Nach dem Putschversuch von 2016 war Soylu einer derjenigen, der die USA am offensten beschuldigte, hinter dem Putsch zu stecken. Der islamische Prediger Fethullah Gülen, der laut Ankara die am Putsch beteiligten Offiziere angeführt hat, hält sich noch immer in den USA auf. Bei einer Rede in Usbekistan warf Erdoğan am Samstag den USA und ihren europäischen Verbündeten erneut vor, die Putschisten zu schützen.
Erdoğan erklärte: „Wer schützt sie [die Gülen-freundlichen Elemente] momentan? An erster Stelle Griechenland. Sie fliehen nach Griechenland, sie fliehen nach Europa. Dorthin sind sie immer geflohen. Sie leben in Deutschland, Frankreich, Holland, Dänemark, England, Amerika.“ Dann griff er Biden an und erklärte: „Und Amerika versteckt diesen Mann [Gülen]. Wer versteckt ihn? Biden versteckt ihn ... Wenn Sie mich fragen, wo das Zentrum des Terrorismus ist, teile ich das Ihnen jetzt mit [die USA].“ Zuvor hatte Erdoğan bereits erklärt, die USA seien die „Ursache des Terrorismus“ in Syrien.
Laut T24 erklärte die US-amerikanische Botschaft in Ankara als Reaktion auf Soylus Äußerungen: „Die USA verurteilen unmissverständlich Terrorismus in allen Formen und stehen solidarisch hinter unserem geschätzten Nato-Verbündeten Türkei.“ In Wirklichkeit sind Washington und Ankara nicht nur wegen der Kurdenfrage zerstritten, sondern vor allem wegen der noch wichtigeren Frage des Kriegs gegen Russland.
Die PKK, die YPG und die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS), deren Rückgrat die YPG ist, veröffentlichten am Montag getrennt voneinander Erklärungen, in denen sie jede Verbindung zu dem Terroranschlag in Istanbul zurückwiesen. Die PKK behauptet allerdings seit einiger Zeit, das türkische Militär würde bei seinen anhaltenden Operationen gegen sie im Irak Chemiewaffen einsetzen.
Laut ANF News erklärte die PKK: „Wir haben nichts mit diesem Vorfall zu tun, und es ist der Öffentlichkeit bekannt, dass wir nicht direkt Zivilisten angreifen oder Aktionen gegen Zivilisten gutheißen ... Wenn türkische Regierungsvertreter im Zusammenhang mit diesem Vorfall Kobanê als Ziel nennen, zeigt dies die Perspektive ihres Plans.“
Der Befehlshaber der DKS, Mazlum Abdi, schrieb auf Twitter: „Unsere Streitkräfte haben nichts mit dem Anschlag in Istanbul zu tun.“ Die YPG bezeichnete die Vorwürfe als „geplante Inszenierung, die von der AKP und Erdoğan vorbereitet wurde“.
Duran Kalkan, ein Führer der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), der Dachorganisation, der auch die PKK und die PYD angehören, räumte jedoch im April in einem Interview ein, dass seine Organisation auch Städte angreife.
Kalkan erklärte in einem Fernsehinterview nach Beginn einer türkischen Offensive gegen PKK-Kräfte im Irak: „Die Guerillas verteidigen nicht, sie greifen an. Sie werden dort angreifen, wo [die türkische Regierung] es am wenigsten erwartet. Das gilt nicht nur für die Fronten, militärischen Ziele und Stellungen, sondern für ganz Nordkurdistan, in der ganzen Türkei, überall dort, wo die AKP/MHP uns angreift, auch in Städten. Das Schlachtfeld ist überall.“
In Wirklichkeit darf man keiner Äußerung der US-Regierung, Ankaras oder der kurdischen Nationalisten trauen. Nach der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie 1991 hat der US-Imperialismus die Region vom Irak bis nach Afghanistan, Libyen und Syrien in einen Kriegsschauplatz verwandelt. Die Folge waren Millionen Todesopfer und weitere Millionen Flüchtlinge. Jetzt haben die Nato-Mächte unter Führung der USA den Krieg mit Russland in der Ukraine verschärft und das Gespenst eines globalen Atomkriegs heraufbeschworen.
Sowohl die türkische herrschende Elite als auch die Führung der kurdischen Nationalisten sind weitgehend mitschuldig an diesem seit 30 Jahren andauernden imperialistischen Krieg und den Katastrophen, die er verursacht hat. Ankara ist trotz seiner Konflikte mit Washington ein wichtiger Nato-Verbündeter im Nahen Osten, während die PKK-YPG zum wichtigsten US-Stellvertreter in Syrien geworden ist. All diese Kräfte sind Feinde der demokratischen Bestrebungen der unterdrückten Völker, einschließlich der Kurden.
Der Terroranschlag in Istanbul hat Ankara den Weg geebnet, um den Militarismus im Ausland und Polizeistaatsmaßnahmen zur Unterdrückung des sozialen Widerstands und demokratischer Grundrechte im Inland zu verschärfen. Während die offizielle Inflation bei 85 Prozent pro Jahr liegt und 90 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, stehen in der Türkei im Juni 2023 – oder schon früher – Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an. Angesichts der wachsenden sozialen Unruhen droht Erdoğan eine Wahlniederlage.
Es ist von entscheidender Bedeutung, die Arbeiterklasse gegen alle Versuche, sie zu spalten und zu unterdrücken, auf einer revolutionären Basis zu mobilisieren, unabhängig vom gesamten proimperialistischen bürgerlichen Establishment. Dies erfordert die Vereinigung der Arbeiter und Jugendlichen in der Türkei, dem Nahen Osten und der Welt auf der Grundlage eines sozialistischen Programms gegen imperialistischen Krieg und bürgerliche Herrschaft und die Zurückweisung aller Formen von Nationalismus und Militarismus.