Gestern Nachmittag wurden bei einem Bombenanschlag auf der Istiklal Caddesi („Unabhängigkeitsstraße“), einer der belebtesten Gegenden Istanbuls, mindestens sechs Menschen getötet und 81 verletzt, zwei von ihnen schwer.
Während sich bisher niemand zu diesem mörderischen Terroranschlag auf Zivilisten bekannt hat, gab Innenminister Süleyman Soylu am Montagmorgen eine Erklärung ab, in der er behauptete, dass die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hinter dem Anschlag stecke und dass der wahre „Mörder“ die Vereinigten Staaten seien.
Soylu sagte: „Die Person, die die Bombe hinterlassen hat, wurde festgenommen. Nach den Erkenntnissen, die wir gewonnen haben, handelt es sich [bei der Organisation, die den Anschlag verübt hat] um die terroristische Organisation PKK/PYD.“ Die Partei der Demokratischen Union (PYD) ist die von den USA unterstützte Schwesterorganisation der PKK in Syrien.
Bevor er harte Vergeltung ankündigte, sagte Soylu: „Wir gehen davon aus, dass die Anweisungen für die Aktion aus Kobane kamen. Wir gehen davon aus, dass der Täter der Aktion durch [die syrische Grenzstadt] Afrin kam.“ Vor allem aber beschuldigte er direkt die USA, sie seien der eigentliche „Killer“.
Nach der Explosion, nur wenige hundert Meter vom Taksim-Platz entfernt, trafen zahlreiche Polizei- und Krankenwagen am Tatort ein. Während die Polizei die Istiklal Caddesi vollständig evakuierte und sperrte, waren kurz nach der Explosion Schüsse in der Nähe des Tatorts zu hören. Einem Bericht von halktv.com.tr zufolge soll die Polizei auf eine Person geschossen haben. Zu diesem Vorfall wurde jedoch keine Erklärung abgegeben.
Vor seiner Abreise zum G20-Gipfel sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan: „Es wäre falsch, mit Sicherheit zu sagen, dass es sich um Terrorismus handelt, aber laut den ersten Ereignissen, den ersten Informationen, die mein Gouverneur uns übermittelt hat, riecht es hier nach Terrorismus.“ Er fügte hinzu: „Die ersten Feststellungen deuten darauf hin, dass eine Frau eine Rolle dabei gespielt hat.“
In einer Erklärung zu dem Anschlag erklärte Vizepräsident Fuat Oktay, dass in der Türkei Sicherheit und Frieden herrschten. Er deutete an, dass mit dem Anschlag eine Botschaft an die Türkei gesendet werden sollte, und sagte: „Die Türkei ist ein Land, das bezüglich seiner Entwicklung von Sicherheit und Frieden in jeder Hinsicht Stabilität erreicht hat. Niemand kann der Türkei, die in vielerlei Hinsicht in ihrer Region und in der Welt eine Stimme hat, mit solchen Taten eine Botschaft senden, und niemand kann sie von ihrem Weg abbringen.“
Der Bombenanschlag in Istanbul ereignete sich inmitten des anhaltenden Kriegs zwischen der Nato und Russland in der Ukraine. Während die Nato-Großmächte unter Führung der USA ihren Stellvertreterkrieg mit Russland ausweiten, um ihre imperialistischen Ziele zu erreichen, versucht die türkische Regierung, die Rolle eines Vermittlers zu spielen und den Konflikt beizulegen. Dies geschieht nicht, weil Ankara besonders „friedliebend“ wäre, sondern aufgrund der politischen Beziehungen der Türkei sowohl zur Ukraine als auch zu Russland, sowie aufgrund der wirtschaftlichen Interessen der türkischen Bourgeoisie.
In Syrien, wo die türkische Armee seit 2016 eine Militärpräsenz unterhält, nehmen die Spannungen zwischen Ankara und seinen islamistischen Stellvertretern seit einiger Zeit zu. Fehim Taştekin schrieb am Mittwoch in Al-Monitor, dass das Milizenbündnis Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS) des Emirs al-Julani kürzlich in Afrin einmarschiert sei. Die Stadt Afrin steht unter der Kontrolle der türkischen Armee und ihrer Stellvertreter, und Tahrir asch-Scham nutzt offenbar Unstimmigkeiten innerhalb der „Syrischen Nationalen Armee“ (SMO) aus, die von der Türkei unterstützt werden.
„Die Türkei hat neue Anstrengungen unternommen, um die verbündeten Rebellen in Nordsyrien zu reorganisieren“, schreibt Taştekin. „Sie setzt Berichten zufolge Drohungen und Ultimaten ein, um die ungeordneten Gruppierungen zu disziplinieren, die die türkischen Streitkräfte in den Gebieten [der Militäroperationen] ‚Olivenzweig‘ und ‚Schutzschild Euphrat‘ im Umland von Aleppo unterstützt haben.“
Andererseits hat Justizminister Bekir Bozdağ eine Untersuchung des Anschlags in Istanbul angekündigt. Wie die staatliche Agentur Anadolu berichtet, habe die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchung der „negativen Beiträge“ in den sozialen Medien über die Explosion eingeleitet.
Wegen des Anschlags verhängte der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) ein Sendeverbot über die Medien. Darüber hinaus schränkte die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) den Zugang zu Social-Media-Plattformen mit der Begründung ein, „unangemessene Bilder“ müssten verhindert werden.
Mehmet Akuş, ein Angestellter eines Restaurants in der Istiklal Caddesi, berichtete Reuters von dem Anschlag: „Als ich die Explosion hörte, war ich wie versteinert. Die Leute erstarrten und schauten sich gegenseitig an, und dann liefen sie weg. Was kann man sonst tun? Meine Verwandten riefen mich an; sie wissen, dass ich in der Istiklal-Straße arbeite. Ich habe sie beruhigt.“
Nach der Explosion gab es Kondolenzschreiben aus dem politischen Establishment und von Verbündeten der Türkei. Unter denjenigen, die der Türkei ihre „Solidarität“ versicherten, waren die Nato, die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, Frankreich, die Ukraine, Griechenland und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), schrieb auf Twitter: „Ich wünsche unseren Bürgern, die bei der Explosion in der Istiklal-Avenue ihr Leben verloren haben, Gottes Gnade und den Verwundeten eine schnelle Genesung. Mein Beileid an unsere Nation!“ Seine rechtsextreme Verbündete, die Vorsitzende der İyi Parti („Gute Partei“), Meral Akşener, sprach ebenfalls ihr „Beileid“ aus.
Die kurdisch-nationalistische Demokratische Volkspartei (HDP) gab ebenfalls eine schriftliche Erklärung ab, in der sie schrieb: „Wir sind zutiefst und schmerzlich betrübt über die Explosion in Istanbul. Wir wünschen unseren Bürgern, die ihr Leben verloren haben, Gottes Gnade, den Verletzten eine schnelle Genesung und unserem Volk unser Beileid.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Der ehemalige HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der derzeit eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt, verurteilte den Anschlag. „Egal zu welchem Zweck oder mit welcher Rechtfertigung, jeder Angriff auf Zivilisten ist Terrorismus an Recht, Politik, Moral und Gewissen. Wir werden ihn niemals akzeptieren“, schrieb Demirtaş auf Twitter.
„Die Bemühungen, die Türkei und das türkische Volk durch Terrorismus zu besiegen, werden heute genauso scheitern wie gestern und auch morgen“, sagte Präsident Erdoğan in seinen Ausführungen.
Mehrere Kommentatoren zogen nach der Explosion eine Parallele zwischen der Eskalation der Terroranschläge in den Jahren 2015 und 2016 und der aktuellen Situation. Inmitten einer sich verschärfenden wirtschaftlichen und sozialen Krise steuert die Türkei auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2023 zu. Viele Umfragen deuten darauf hin, dass Erdoğan beide Wahlen verlieren könnte.
Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 verlor Erdoğans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) angesichts der massiven Opposition in der Gesellschaft ihre parlamentarische Mehrheit. Danach verschärften sich die Terroranschläge, die bereits vor den Wahlen begonnen hatten.
Bei Terroranschlägen des Islamischen Staats im Irak und in Syrien (ISIS) wurden zunächst in Suruç an der Südgrenze der Türkei und dann in der Hauptstadt Ankara rund 150 Menschen getötet. Gleichzeitig beendete die Erdoğan-Regierung den „Friedensprozess“ zwischen Ankara und der PKK aus Unzufriedenheit darüber, dass die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die syrische Schwesterorganisation der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), zur wichtigsten US-Vertreterin in der Region avanciert waren. In der Folge flammte der brutale Bürgerkrieg wieder auf.
Die AKP konnte zwar keine Koalitionsregierung bilden, doch es gelang ihr bei den vorgezogenen Wahlen vom 1. November 2015, in einer Atmosphäre von Terror und Angst ihre Mehrheit im Parlament zurückzugewinnen.
Terroristische Bombenanschläge von Dschihadisten und der PKK-nahen Kurdischen Freiheitsfalken (TAK) hielten an, wie auch gewaltsame Zusammenstöße in den kurdischen Städten. Am 15. Juli 2016 brachen mit dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdoğan neue Konflikte zwischen der Türkei und ihren imperialistischen Verbündeten (vor allem Washington) aus. Danach startete Ankara mehrere Invasionen in Syrien, um gegen die YPG vorzugehen. Trotz Protesten aus Damaskus besetzte die Türkei ein beträchtliches Gebiet.
Welche Kräfte auch immer genau hinter dem Angriff vom Sonntag stehen - dieses Klima des Terrors kann nicht losgelöst von den Kriegen in der Region verstanden werden, die die imperialistischen Mächte unter Führung der USA seit 30 Jahren führen. Diese Kriege, an denen auch die türkische herrschende Elite beteiligt ist, haben Länder wie den Irak, Libyen und Syrien verwüstet. Nun bedroht der Krieg in der Ukraine die gesamte Menschheit mit dem Gespenst eines Atomkriegs.