Dieser Kommentar beleuchtet die Gruppe „Just Stop Oil“ und ihre Aktion Mitte Oktober in London, als sie Van Goghs „Sonnenblumen“ mit Tomatensuppe übergossen. Weltweit gehen Klimaaktivisten dazu über, ihren Frust über die mangelnde Tatkraft der Politiker in spektakuläre Angriffe auf Kunstwerke und andere kostbare Objekte umzumünzen. Dies soll ihrem Anliegen, dem Kampf für die Umwelt, breitere Aufmerksamkeit verschaffen, als dies die bisherigen Aktionen erreichen konnten. Aber die spektakulären Taten sind so sinnlos wie reaktionär.
In Deutschland haben Protestler der Bewegung „Last Generation“ am 23. Oktober das Bild „Les Meules“ (Getreideschober) von Claude Monet im Potsdamer Museum Barberini beworfen. Am 30. Oktober klebten sich zwei Mütter im Berliner Naturkundemuseum an einem Dinosaurierskelett fest. Und im niederländischen Kunstmuseum Mauritshuis in Den Haag wählten Klimaaktivisten ein weltberühmtes Gemälde, „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Vermeer van Delft, für ihre Protestaktion aus.
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Am Freitag, den 14. Oktober, gossen zwei Klimaaktivistinnen zwei Dosen Tomatensuppe über Vincent van Goghs „Sonnenblumen“ (1888) in der National Gallery in London. Die beiden, Phoebe Plummer (21) aus London und Anna Holland (20) aus Newcastle, sind Unterstützerinnen von „Just Stop Oil“. Dies ist ein Zusammenschluss mehrerer Gruppen, die von der britischen Regierung verlangen, dass sie „sofort alle künftigen Lizenzen und Genehmigungen für die Exploration, Erschließung und Förderung fossiler Brennstoffe im Vereinigten Königreich stoppt“.
„Just Stop Oil“ hat in den letzten Wochen Protestaktionen veranstaltet, die laut den Aktivisten Teil „eines längeren Londoner Störungsplans“ seien, „der noch bis Ende des Monats fortgesetzt wird“.
Während der Aktion in der National Gallery fragte Phoebe Plummer die Zuschauer: „Ist Kunst mehr wert als das Leben? Mehr als Essen? Mehr als Gerechtigkeit?“
Sie fuhr fort: „Die Krise der Lebenshaltungskosten wird durch fossile Brennstoffe verursacht. Das tägliche Leben ist für Millionen von frierenden, hungrigen Familien unerschwinglich geworden. Sie können es sich nicht einmal leisten, eine Dose Suppe aufzuwärmen. In der Zwischenzeit fallen die Ernten aus, und die Menschen sterben in den durch den Klimazusammenbruch ausgelösten starken Monsunen, massiven Waldbränden und endlosen Dürren. Wir können uns kein neues Öl und kein neues Gas leisten, das wird uns alles teuer zu stehen kommen. Wenn wir jetzt nicht sofort handeln, werden wir zurückblicken und all das betrauern, was wir verloren haben.“
Anna Holland sagte: „Britische Familien werden in diesem Winter gezwungen sein, sich zwischen Heizen und Essen zu entscheiden, während die Unternehmen für fossile Brennstoffe Rekordgewinne einfahren. Aber die Kosten für Öl und Gas beschränken sich nicht auf unsere Rechnungen. Somalia steht nun vor einer apokalyptischen Hungersnot, die durch die Dürre verursacht und durch die Klimakrise noch verstärkt wird. Millionen von Menschen sind zum Wegzug gezwungen, und Zehntausende sind vom Hungertod bedroht. Das ist die Zukunft, die wir für uns selbst wählen, wenn wir auf immer neues Öl und Gas setzen.“
Die Protestaktion in der britischen National Gallery und die ihr zugrunde liegende Einstellung sind politisch bankrott. Der einmonatige „Störungsplan“ reduziert sich letztlich auf einen pathetischen Appell, der auf der Website der Gruppe zu lesen ist: „Just Stop Oil lädt die [Tory] Innenministerin Suella Braverman ein. Sie soll kommen und mit uns reden, dann hören wir auf, mit Suppe zu werfen.“
Braverman ist eine rechtsextreme Politikerin, die sich im März 2019 auf den „Kulturmarxismus“ einschoss. Das ist ein Begriff, der von antisemitischen, faschistischen Kräften genutzt wird, und den der norwegische Terrorist Anders Breivik als Feindbild propagierte.
Weder die Konservativen noch die Labour Party, beides Vertreter des Großkapitals, werden irgendetwas tun, um den Klimawandel aufzuhalten. Für junge Menschen, die ihre Ziele erreichen wollen, ist der Weg, Druck auf die kapitalistischen Politiker auszuüben, eine Sackgasse und eine gefährliche Ablenkung.
Der Angriff auf das Meisterwerk van Goghs ist in mehrfacher Hinsicht fehlgeleitet und reaktionär. Obwohl die Aktivistinnen wussten, dass das Gemälde unversehrt bleiben würde, setzt die Aktion ein vollkommen falsches Signal.
Dies ist nicht die erste Aktion, mit der die „Just Stop Oil“-Mitglieder Kunstwerke aufs Korn nehmen. Im Juli klebten sich mehrere Aktivisten dieser Gruppe in der Londoner Royal Academy of Art an einer Kopie von Leonardo da Vincis „Abendmahl“ (um 1495) fest.
„Just Stop Oil“ hat auch kein Monopol auf diese Art von Vandalismus. Im Mai versuchte ein Mann in Paris, das Glas von da Vincis „Mona Lisa“ (um 1503) zu zertrümmern und die Bildfläche mit Sahne zu beschmieren. Als die Security des Louvre den Angreifer abführte, rief er: „Denkt an die Erde! Die Menschen zerstören die Erde!“
„Just Stop Oil“ rechtfertigt ihre Protestaktion in der National Gallery mit Argumenten, die der Bevölkerung ihre angebliche Gleichgültigkeit und Untätigkeit vorwerfen. An die Öffentlichkeit gewandt, behaupten die Aktivisten, dass die Menschen über den Anschlag auf van Gogh empört seien, aber: „Wo bleibt Ihre Empörung darüber, dass 33 Millionen Menschen in Pakistan ihre Lebensgrundlage verloren haben, dass 1000 Millionen Krebse aus unseren Ozeanen verschwunden sind, dass die Feuerwehr wegen der Hitze von 40° C an ihre Grenzen stößt? Was sollten wir schützen: die Bedingungen, die es der Menschheit ermöglichen, Kunst zu machen und kreativ zu sein – oder die Meisterwerke, die niemand mehr betrachten wird?“
Die Antwort lautet eindeutig: beides.
Die Behauptung, die Menschheit müsse sich zwischen „Kunst und Leben“ entscheiden, ist in jeder Hinsicht unlauter. Ob es ihnen bewusst ist oder nicht, die Demonstranten übernehmen damit die Haltung der herrschenden Klasse, auf die sie angeblich so wütend sind.
Die Regierungspolitiker argumentieren, dass die Bevölkerung entscheiden müsse, ob sie Geld für notwendige soziale Dienstleistungen oder für Kultur ausgeben wolle. Für beides gebe es nicht genug Geld und Ressourcen, behaupten sie.
Die Anti-Öl-Gruppe fährt fort: „Kunstgalerien sind nicht nur Orte, an denen man schöne Bilder bewundern kann: Sie sollten unsere bequeme Sicht der Dinge hinterfragen. Vor allem in einer Zeit wie dieser, in der das Verharren in unserer Komfortzone zur Zerstörung all dessen führt, was wir schätzen.“ Dies ist die Stimme des kleinbürgerlichen Protests. Welche „Komfortzone“? Die britischen Arbeiter, und nicht nur sie, sind unerbittlichen Angriffen ausgesetzt.
Wie die Socialist Equality Party (Großbritannien) kürzlich erklärte: „Der Oktober markiert den Beginn einer neuen und immer schärferen Phase des Klassenkampfs gegen eine Truss-Regierung, die der Arbeiterklasse den Krieg erklärt hat. Inmitten der tiefsten Krise des globalen Kapitalismus seit den 1930er Jahren marschieren die Tories und die Labour Party im Gleichschritt mit Forderungen nach Sparmaßnahmen und ‚Opfern‘, um einen eskalierenden Krieg gegen Russland zu finanzieren, der einen Dritten Weltkrieg auslösen kann.“
In Wirklichkeit verursacht der Kapitalismus sowohl die Klimakatastrophe als auch die Angriffe auf die Kultur. Die Politiker, an welche die Gruppe „Just Stop Oil“ appelliert, kürzen systematisch und gnadenlos die Mittel für Kunst und kulturelle Bildung, um die Megaprofite der Unternehmens- und Finanzoligarchie zu sichern.
Aus einem Bericht der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur geht hervor, dass eine unglaubliche Anzahl von 10 Millionen Arbeitsplätzen in der Kunst im Jahr 2020 weltweit verloren gingen, vor allem infolge der Pandemie. Dennoch haben die Regierungen der Welt Billionen von Dollar bereitgestellt, um Investoren und Unternehmen vor der Wirtschaftskrise zu schützen, die durch die mörderische Reaktion der herrschenden Klasse auf Covid-19 ausgelöst wurde. Während also die Geldelite den Reichtum der Welt hortet, hat die große Masse der Menschen weder Zugang zur Kultur noch die Mittel, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Keine einzige kapitalistische Partei richtet ihre Mitgliedschaft darauf aus, die wissenschaftlich notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Bedrohung durch den Klimawandel abzuwenden. Auch die Grünen und andere pseudolinke Kräfte in der Welt haben, einmal an der Macht, schnell gezeigt, dass sie dem System verpflichtet sind, das die Welt in die ökologische Katastrophe treibt.
Die Reaktion der „Just Stop Oil“-Aktivisten ist nicht einfach nur unvernünftig. Indem sie zur Beschädigung oder Zerstörung der kulturellen Schätze der Menschheit aufruft, legt sie ein erschreckendes Philistertum und eine ungesunde Menschenverachtung an den Tag. Die Behauptung, Kunst sei ein Luxus, der geopfert werden müsse, um das Überleben der Menschheit zu sichern, ist grundfalsch und gefährlich. Vielmehr muss nicht nur die Umwelt geschützt und wiederhergestellt werden. Auch das kulturelle Niveau der breiten Masse der Bevölkerung muss mit Hilfe der größten künstlerischen Errungenschaften der Menschheit angehoben werden.
So wie die herrschende Elite sich als unfähig erwiesen hat, die Produktion im Sinne des ökologischen Gleichgewichts des Planeten zu organisieren, so hat sie auch gezeigt, dass sie nicht in der Lage ist, die menschliche Kultur zu entwickeln, zu bewahren oder einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Ressourcen und technischen Mittel, um diese Grundbedürfnisse zu befriedigen, sind vorhanden. Die Frage ist nicht technischer, sondern politischer Natur. Sie bedeutet die Abschaffung einer Gesellschaftsordnung, die sämtliche Erwägungen der Erzielung von privatem Profit unterordnet. Nur die Arbeiterklasse kann dieses Problem lösen, indem sie bewusst handelt, um das wirtschaftliche Leben neu zu organisieren.