Britische Premierministerin Liz Truss tritt zurück – eine revolutionäre Krise für den britischen Imperialismus

Der Rücktritt der britischen Premierministerin Liz Truss nach nur 45 Tagen im Amt hat die Herrschaftskrise der britischen herrschenden Klasse auf eine neue Ebene gehoben. Die britische Politik weist alle Merkmale einer revolutionären Situation auf.

Truss ist die Premierministerin mit der kürzesten Amtszeit in der britischen Geschichte und wurde im Zuge des allgemeinen Zusammenbruchs der konservativen Regierung gestürzt. Ende nächster Woche wird das Vereinigte Königreich innerhalb von nur zwei Monaten drei Premierminister gehabt haben.

Premierministerin Liz Truss hält ihre Rücktrittsrede vor der Downing Street Nr. 10, 20. Oktober 2022 [Photo by Simon Dawson/No 10 Downing Street / CC BY-NC-ND 2.0]

Ihr Rücktritt erfolgte nach chaotischen Szenen im Unterhaus am Mittwochabend, als Tory-Abgeordnete darüber uneinig waren, ob die Abstimmung über Fracking als Vertrauensvotum für die Regierung gewertet werden sollte. Aufnahmen des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Craig Whittaker zeigen, wie er rief: „Ich bin verdammt wütend, und es ist mir scheißegal!“ Die Fraktionsvorsitzende Wendy Morton trat Berichten zufolge auf der Stelle zurück und wurde von Truss aus dem Raum verfolgt, sie darum bittend, ihre Entscheidung zu überdenken. Abgeordnete der Labour-Partei behaupten, dass einige Tory-Abgeordnete „handgreiflich gezwungen“ wurden, mit der Regierung zu stimmen.

Nur wenige Stunden zuvor hatte die rechte Innenministerin Suella Braverman eine vernichtende Rücktrittserklärung verfasst, in der sie die Parteiführung in Frage stellte und „ernste Bedenken bezüglich der Einhaltung der im Regierungsprogramm eingegangenen Verpflichtungen“ zum Ausdruck brachte.

Das offene Chaos in der wichtigsten kapitalistischen Partei Großbritanniens – die nach 12 Jahren an der Macht immer noch eine Mehrheit von 71 Sitzen hat – ist das Ergebnis des enormen internationalen und internen Drucks, dem der britische Imperialismus inmitten eines drohenden Atomkriegs mit Russland und eines beispiellosen Einbruchs des Lebensstandards ausgesetzt ist.

Unter anderen Umständen wären längst Parlamentswahlen angesetzt worden, um die Spannungen in der Regierungspartei abzubauen oder sie zu ersetzen, und dem reaktionären Spektakel im Parlament ein gewisses Maß an Legitimität zu verleihen. Doch die herrschende Klasse fürchtet, dass selbst eine so begrenzte und inszenierte Angelegenheit wie eine Parlamentswahl möglicherweise Massenproteste und Opposition auslösen könnte. Den Haushalten drohen jährliche Mehrkosten in Höhe von tausenden Pfund für Energie, Wohnung und Lebensmittel, was Streiks von hunderttausenden Beschäftigten der Bahn, der Post, der Telekommunikation, des Bildungswesens und der Kommunen hervorgerufen hat.

Die Tory-Partei versucht Neuwahlen verzweifelt zu vermeiden und plant, Truss durch einen weiteren Palastputsch abzusetzen, der noch unverhüllter ist als der, der Boris Johnson entfernt hat. Um auf den Stimmzettel zu gelangen, benötigen die Kandidaten die Unterstützung von 100 ihrer Kollegen – damit ist die Hoffnung verbunden, dass den Mitgliedern der Tory-Partei bis nächsten Freitag ein einziger Gewinner zur elektronischen Abstimmung vorgelegt werden kann.

Dies ist nicht gewährleistet. Zwar finden Verhandlungen statt um sicherzustellen, dass der frühere Schatzkanzler Rishi Sunak die Mehrheit erhält. Das setzt jedoch voraus, dass Penny Mordaunt sich bereit erklärt, zur Seite zu treten – was der neue Schatzkanzler Jeremy Hunt und der Verteidigungsminister Ben Wallace bereits zu tun angedeutet haben. Damit stünde Sunak einer gespaltenen Rechten gegenüber, die von Truss’ Kolleginnen Suella Braverman und Kemi Badenoch vertreten wird, die sich ebenfalls für eine Politik extrem niedriger Steuern einsetzen. In einer außergewöhnlichen Wendung der Ereignisse zeichnet sich jedoch Boris Johnson als Favorit ab, falls er es schaffen sollte, die Mitgliederabstimmung zu bestehen.

Dass Wallace und Hunt nicht an diesem Wettkampf teilnehmen, verweist am deutlichsten auf die politischen Fragen, die nicht nur für den britischen, sondern auch für den US- und den Weltimperialismus auf dem Spiel stehen.

Als Truss am Mittwoch kurz davor stand, abgesägt zu werden, flog Wallace in die USA zu einer Dringlichkeitssitzung im Pentagon, um Großbritanniens weitere Beteiligung am Krieg zu versichern, den die Nato in der Ukraine gegen Russland führt. Außenminister James Cleverly beschrieb die Gespräche als die Art von Gesprächen, „die man offen gesagt nicht am Telefon führen möchte“.

An der Wirtschaftsfront bereitet Hunt für den 31. Oktober eine Fiskalerklärung mit drastischen Ausgabenkürzungen vor, um sie der globalen Finanzoligarchie vorzulegen, die als Reaktion auf Truss’ ungedeckte Steuersenkungen im Minihaushalt vom 23. September die britische Wirtschaft in den Keller geschickt hatte.

Präsident Biden sagte auf die Frage nach möglichen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen von Truss’ Rücktritt, dass diese „unerheblich“ seien. Er betonte, sie sei „ein guter Partner in Bezug auf Russland und die Ukraine gewesen, und die Briten werden ihre Probleme lösen“. Eine Erklärung des Weißen Hauses dankte Truss für ihre „Partnerschaft“, um „Russland für seinen Krieg gegen die Ukraine zur Rechenschaft zu ziehen“, und sagte eine weitere „enge Zusammenarbeit mit der britischen Regierung“ zu.

All diese machiavellistischen Intrigen wären ohne die ständige Unterdrückung des Klassenkampfes durch die Gewerkschaftsbürokratie und die Labour Party nicht möglich.

Am Mittwoch berichtete die Zeitung The Independent, dass in den nächsten Monaten zwei Millionen Arbeiter streiken oder an Urabstimmung teilnehmen werden. Diese Bewegung könnte jede Regierung zu Fall bringen – ganz zu schweigen von derjenigen, die derzeit in Westminster bei lebendigem Leibe verrottet.

Stattdessen wurde nur ein Bruchteil der streikbereiten Arbeiter mobilisiert, verteilt auf verschiedene einzelne Streiktage für separat gehaltene Auseinandersetzungen.

Der Trades Union Congress (TUC) arbeitet eng mit dem Labour-Vorsitzenden Sir Keir Starmer zusammen, der in dieser stürmischen Krise als Sprachrohr des britischen und amerikanischen Imperialismus fungiert.

Mit seiner Forderung nach Neuwahlen – die inzwischen von allen anderen Parlamentsparteien aufgegriffen wird – bietet Labour an, einen reibungslosen Übergang zu einer anderen Regierung zu organisieren, wenn dieser unvermeidlich wird. Dies zeigt sich am deutlichsten in seiner „Akzeptanz“, dass Neuwahlen nur möglich sind, wenn die Tory-Abgeordneten beschließen, ihre „patriotische Pflicht“ zu erfüllen und „die Nation“ über ihre Partei zu stellen.

Sir Keir Starmer, der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, spricht auf dem Jahreskongress der Partei in Liverpool (England), 27. September 2022 [AP Photo/Jon Super]

Starmers Modell ist ein korporatistisches Bündnis zwischen der Regierung, den Unternehmen und den Gewerkschaften, wie diejenigen des demokratischen US-Präsidenten Biden und des SPD-Bundeskanzlers Olaf Scholz, die Eisenbahnern in den USA einen brutalen Vertrag aufzwingt, und hunderttausenden Chemiearbeitern in Deutschland brutale Lohnkürzungen auferlegt. Der Labour-Vorsitzende sagte dem TUC-Kongress am Tag von Truss’ Rücktritt, dass der TUC mit Labour und den Arbeitgebern eine „echte Verhandlungslösung für die Nation“ erarbeiten müsse, auch um Großbritannien „vor Tyrannen wie Putin“ zu schützen.

Unter Rückgriff auf das Versprechen, dass die Dinge unter einer Labour-Regierung besser würden, forderte Starmer die Gewerkschaften auf, sich auf einen Führungswechsel vorzubereiten – indem sie Streiks vom Tisch nehmen und die Arbeiterklasse weiter unter Kontrolle halten, während Labour eine Agenda der Sparmaßnahmen und des Krieges umsetzt.

Eine nationale Regierung aus Ministern der Labour-Partei und der Tory-Partei – die unter Anrufung des „nationalen Interesses“ gerechtfertigt würde – bleibt eine reale Möglichkeit, um Neuwahlen zu vermeiden, falls innerhalb der Tory-Partei keine Lösung gefunden wird.

Als Reaktion auf Truss’ Rücktritt twitterte der Vorsitzende der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site David North: „Der Rücktritt von Liz Truss nach nur sechs Wochen im Amt ist eine weitere Bestätigung dafür, dass sich in Großbritannien eine fundamentale Krise der Klassenherrschaft entwickelt. Wie Marxisten erklärt haben, entsteht eine revolutionäre Situation, wenn die herrschende Klasse nicht mehr auf die alte Weise herrschen kann.

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Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die herrschende Klasse überhaupt nicht imstande zu herrschen. Ihr Überleben hängt davon ab, ob es der Labour Party unter der Führung des Ultra-Blairisten Keir Starmer und dem Gewerkschaftsapparat gelingt, die zunehmend entschlossene Bewegung der Arbeiterklasse zu ersticken.

Das andere wesentliche Element einer revolutionären Krise – dass die Arbeiterklasse nicht auf die alte Art und Weise leben kann – ist zweifellos vorhanden. Die entscheidende Aufgabe ist nun ihr Eingreifen in die Krise. Die Forderung nach allgemeinen Wahlen muss auf den Ruf nach unabhängiger Massenaktion ausgerichtet sein.“

Von dieser Intervention der Arbeiterklasse gegen die Tory- und Labour-Verschwörer hängt nun alles ab.

Seit der ersten Palastrevolte gegen Johnson hat die Socialist Equality Party dazu aufgerufen, dass Arbeiter durch die Verschärfung des Klassenkampfes hin zu einem Generalstreik für eine Parlamentswahl kämpfen, die zu ihren Bedingungen stattfindet.

Die SEP würde in einer solchen Wahlkampagne für Aktionskomitees kämpfen, um den Würgegriff der Gewerkschaftsbürokratie zu brechen und die Entscheidungsgewalt dorthin zu verlagern, wo sie hingehört – in die Betriebe. Vor allem werden wir danach streben, die Weltkriegspolitik offen zu legen. Sie kommt in den Fraktionskämpfen der herrschenden Klasse nicht vor, weil sie in dieser Frage einer Meinung ist und fürchtet, dass ihre Auswirkungen allgemein verstanden werden. Wir würden eine Parlamentswahl nutzen, um eine internationale Antikriegsbewegung unter britischen Arbeiterinnen und Arbeitern aufzubauen.

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