Zurzeit befinden sich in Deutschland knapp 7 Millionen Beschäftigte in Tarifauseinandersetzungen: 3,8 Millionen in der Metall- und Elektroindustrie, 2,3 Millionen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen und 580.000 in der Chemiebranche. Nun ist die Chemiegewerkschaft IG BCE vorgeprescht und hat Reallohnsenkungen vereinbart, wie es sie seit der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre nicht mehr gab.
Bei einer offiziellen jährlichen Inflationsrate von 10 Prozent werden die Tariflöhne der Chemiebeschäftigten Anfang 2023 und Anfang 2024 jeweils um 3,25 Prozent erhöht. Der Vertrag läuft bis zum Juni 2024. Da der alte Vertrag bereits im März auslief, umfasst er einen Zeitraum von 27 Monaten.
Ein Chemiearbeiter, der im April 2022 das Branchendurchschnittsgehalt von 3100 Euro brutto erhielt, wird im Sommer 2024 ein Tarifgehalt von 3302 Euro beziehen. Um bei einer durchschnittlichen Inflationsrate von 10 Prozent gleich viel kaufen zu können, müsste er aber 3880 Euro verdienen. Er verliert also monatlich 578 Euro, eine Reallohnsenkung von 15 Prozent!
Um diesen Schock abzufedern und die Opposition dagegen zu dämpfen, haben die IG BCE und der Unternehmerverband BAVC Einmalzahlungen vereinbart, die ohne Abzüge ausbezahlt werden. Für die tariffreien Monate seit April sind bereits 1400 Euro überwiesen worden, die Unternehmen „in Schwierigkeiten“ allerdings kürzen konnten. Anfang 2023 und Anfang 2024 kommen zwei weitere Einmalzahlungen von jeweils 1500 Euro hinzu. Teilzeitbeschäftigte erhalten einen entsprechenden Anteil, mindestens aber zweimal 500 Euro. Auszubildende bekommen je 500 Euro.
Diese Einmalzahlungen mindern die unmittelbaren Auswirkungen der Inflation insbesondere für niedrige Einkommen, an der langfristigen Lohnsenkung ändern sie jedoch nichts. Denn selbst wenn die Inflationsrate 2024 zurückgehen sollte – was alles andere als sicher ist –, sinken die Preise nicht wieder auf das alte Niveau. Sie steigen nur etwas langsamer an. Die Tariflöhne fallen dagegen auf die Höhe vom April 2022 zurück, plus mickrige 6,5 Prozent.
Dabei gibt die offizielle Inflationsrate die tatsächliche Belastung von Arbeiterfamilien nur unvollständig wieder. Laut einer Umfrage der Internationalen Hochschule in Erfurt lag die „gefühlte“ Inflation im September bei 34 Prozent.
Die Diskrepanz zwischen amtlicher und gefühlter Inflation geht darauf zurück, dass erstere anhand eines breit aufgestellten Warenkorbs gemessen wird, der auch Ausgaben enthält, die nicht regelmäßig anfallen oder die sich viele nicht mehr leisten können – die Anschaffung eines Autos, Fernsehers oder Computers, der Kauf einer Eintrittskarte für das Opernhaus, usw.. Die Ausgaben für Lebensmittel, Energie und Miete, die regelmäßig anfallen und die alle unmittelbar spüren, sind dagegen viel stärker angestiegen.
Der Chemieabschluss ist das Ergebnis der engen Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Konzernen und Bundesregierung. Arbeiter, die ihre Löhne, Arbeitsplätze und sozialen Errungenschaften verteidigen wollen, stehen einer geschlossenen feindlichen Front gegenüber, in der die Gewerkschaften die führende Rolle spielen.
Der Vorsitzende der Chemiegewerkschaft, Michael Vassiliadis, ist eine Schlüsselfigur der Konzertierten Aktion, die unter Leitung von Bundeskanzler Olaf Scholz regelmäßig im Kanzleramt tagt. Er leitet zusammen mit Industriepräsident Siegfried Russwurm die Gaspreiskommission, die üppige Geldgeschenke für Wohlhabende und Großkonzerne und Almosen für Arme, Normalverdiener und Kleinbetriebe beschlossen hat.
Vassiliadis sitzt im Aufsichtsrat von fünf Großkonzernen der Chemie- und Energiebranche – BASF, Steag, RAG, Henkel und Vivawest. Er verfügt über einen persönlichen Draht zum Deutschen Gewerkschaftsbund, dem auch die IG Metall und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi angehören: Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, eine frühere Spitzenfunktionärin der SPD, ist seine Lebenspartnerin.
Vor zwei Monaten wurde Vassiliadis vom Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet. Vassiliadis wertete die Ehrung als Wertschätzung „des gesamten Engagements der IGBCE – und das weit über die klassischen Aufgaben einer Gewerkschaft hinaus. Unser Grundverständnis basiert auf Sozialpartnerschaft, sowohl mit Unternehmen als auch in der Gesellschaft,“ betonte er.
Der Tarifabschluss in der Chemieindustrie wurde direkt mit dem Kanzleramt abgesprochen. Der Beschluss der Regierung, tarifliche Einmalzahlungen von Steuern und Sozialabgaben zu befreien, um den Gewerkschaften niedrige Abschlüsse zu erleichtern, geht auf den Vorschlag von Vassiliadis zurück. Die Unternehmen sind darüber begeistert. „Damit bei den Beschäftigten netto 1000 Euro ankommen, müssten wir sonst 1600 Euro in die Hand nehmen,“ sagte Verhandlungsführer Hans Oberschulte der WAZ.
Der Abschluss in der Chemieindustrie wurde in Rekordzeit vereinbart, um einen Maßstab für die Metallindustrie und den öffentlichen Dienst zu setzen, wo die Gewerkschaften mit erheblichem Widerstand gegen ein ähnliches Lohndiktat rechnen.
„Wir haben geliefert, die anderen sind noch dran“, kommentierte Michael Vassiliadis den Abschluss zufrieden. „In dieser historischen Ausnahmesituation mit ungekannten Inflationsraten und drohender Rezession haben die Tarifparteien Verantwortung für die Beschäftigten, den Industriestandort und die Binnennachfrage zugleich übernommen.“ Der Abschluss habe „Signalwirkung über die Branche hinaus“.
Auch der Unternehmerverband zeigte sich zufrieden. „Arbeitgeber und Gewerkschaft ziehen in der Krise an einem Strang“, kommentiert BAVC-Präsident Kai Beckmann. „Die Folgen des Krieges treffen unsere Branche besonders. Umso wichtiger ist, dass wir die vorhandenen Gegensätze mit konstruktiver Tarifpolitik überbrücken. Das zeichnet die Sozialpartnerschaft unserer Branche aus.“
Die massive Senkung der Reallöhne ist nur ein Ergebnis dieser „Sozialpartnerschaft“ zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Regierung. Der Branchenriese BASF, in dessen Aufsichtsrat Vassiliadis sitzt, hat für die Jahre 2023 und 2024 ein drastisches Sparprogramm angekündigt, einschließlich Stellenstreichungen. Er will die jährlichen Kosten außerhalb der Produktion um 500 Millionen Euro senken, mehr als die Hälfte davon in Ludwigshafen, wo 39.000 der weltweit 111.000 Beschäftigten arbeiten.
OECD und IWF sagen Deutschland für das kommende Jahr eine tiefe Rezession voraus, auf die zahlreiche Unternehmen mit Stilllegungen und Massenentlassungen reagieren. Eine Studie der Deutschen Bank betrachtet die gegenwärtige Energiekrise als „Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung Deutschlands“.
Arbeiter können diesen Angriffen nur entgegentreten, indem sie mit den mafiösen Strukturen der Sozialpartnerschaft und der Gewerkschaften brechen, sich unabhängig organisieren und sich mit ihren Kollegen in anderen Ländern verbünden. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und die Vierte Internationale, der sie angehört, haben die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees ins Leben gerufen, um eine globale Gegenoffensive gegen Sozialabbau, Krieg und die ungebremste Ausbreitung der Corona-Pandemie einzuleiten.
In Frankreich gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Folgen der Inflation zur protestieren und die streikenden Raffinerie-Arbeiter zu verteidigen, die von der Regierung Macron zwangsverpflichtet werden. In Großbritannien bahnt sich ein Generalstreik an. Die Angst, dass sich die Arbeiter in Deutschland dieser Bewegung anschließen, verfolgt die Gewerkschaftsbürokraten wie ein Alptraum. Das ist der einzige Grund, weshalb sie versuchen, die historischen Lohnsenkungen durch Einmalzahlungen zu kaschieren.