Lorenz Nasturica-Herschcowici, seit 30 Jahren Erster Konzertmeister bei den Münchner Philharmonikern, ist Ende vorletzter Woche wegen „Russland-Nähe“ gekündigt worden.
Der gebürtige Rumäne wurde 1992 vom damaligen Chefdirigenten, dem weltberühmten Sergiu Celibidache entdeckt und für das Münchner Orchester gewonnen. Er repräsentierte wie kein anderer die Klangschönheit, die so bezeichnend vor allem für die Bruckner-Aufführungen unter Celibidache waren.
Völlig zu Recht wurde Nasturica-Herschcowivi als „Teufelsgeiger“ (Süddeutsche Zeitung, 5. April 2010) gefeiert, in Anlehnung an den Genueser Geigenvirtuosen Niccolo Paganini an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Ein Musikbeispiel findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=hNJUZLXmYDI
Die Münchner rot-grüne Stadtregierung wirft dem rumänischen Geiger schon seit Mai vor, „Teil der Propagandamaschinerie Putins“ (Florian Roth von den Grünen) zu sein, weil er neben seiner Tätigkeit für die Münchner Philharmoniker zusätzlich auch mit dem Mariinsky-Orchester unter Leitung von Valery Gergiev aufgetreten ist. Dies sei rechtlich zwar möglich, so die Münchner SPD-Kultursprecherin Julia Schönfeld-Knor, die auch Mitglied im Philharmonischen Rat ist, aber „aus ethischen Gründen abzulehnen“. Valery Gergiev war bereits Anfang März als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker entlassen worden.
Das Vorgehen erinnert an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte. Vor über 80 Jahren wurden nicht nur die Karrieren von jüdischen Künstlern vernichtet, sondern auch die von ihren Freunden oder Ehepartnern, sofern sie sich nicht von ihnen trennten. Nun wird einem Rumänen mit jüdischen Namen (Herschcovici) zum Vorwurf gemacht, dass er sich nicht vom russischen Dirigenten Valery Gergiev trennt.
Die Medien unterstützen dies und befeuern die anti-russische Hetze: Der Konzertmeister habe „einen lukrativen Nebenjob“ begonnen, indem er mit Gergiev auf Tournee ging, so der Bayrische Rundfunk. Man kenne ja Gergievs „Besitztümer und üppige Honorare“, geht es naserümpfend weiter. „Derweil“ lasse sich dieser „vom russischen Publikum feiern“.
Als ob sich nicht ein herausragender Musiker oder Dirigent von dem Publikum feiern lassen muss, das in der Lage ist, ihm oder ihr zuzuhören. Die Entlassung und Auftrittskündigungen von russischen Musikern seit Beginn des Ukraine-Kriegs in Deutschland und anderen Ländern, darunter neben Gergiev und Nasturica-Herschcowici auch von der Starsängerin Anna Netrebko, sind ein anmaßender Eingriff in die Rechte des Publikums, die künstlerische Meisterschaft dieser Persönlichkeiten zu erleben.
Gergievs „Vergehen“ bestand sicher nicht in seinen „üppigen“ Honoraren, die allenthalben für berühmte Dirigenten und Star-Musiker ausgegeben werden, egal welcher politischen Couleur oder welcher Nationalität. Er wurde entlassen, weil er einem Ultimatum durch den Münchner SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter nicht gefolgt war, er müsse eindeutig die russische Aggression in der Ukraine verurteilen.
In den oberen Etagen des Bildungsbürgertums, in Politik, Kulturinstitutionen und Redaktionen hat sich eine gutverdienende Schicht breitgemacht, die völlig geschichtsvergessen ist. 77 Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors erheben sie Gesinnungsschnüffelei zum Maßstab für Kunst, als habe es Hitlers wütende Säuberungen gegen herausragende Künstler und ihre Werke -- jüdische, russische, ukrainische -- nicht gegeben.
Wie damals werden zudem nicht nur die Orchester und Ensembles, sondern auch die Konzertprogramme gesäubert. Die Münchner Philharmoniker änderten bezeichnenderweise nach der Entlassung von Gergiev das Programm der mit ihm geplanten Konzerte im Mai. Die 7. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, die berühmte „Leningrader“ Antikriegssymphonie, wurde durch die 5. Symphonie des Komponisten ersetzt.
Gegen die antirussische Hysterie in der Kultur formiert sich allerdings auch Widerstand. Bei den diesjährigen Salzburger Osterfestspielen ließ Intendant Nikolaus Bachler, der ehemalige Intendant der Bayrischen Staatsoper, demonstrativ die Leningrader Symphonie durch die Sächsische Staatskapelle Dresden unter Leitung des russischen Dirigenten Tugan Sokhiev aufführen. Den Umgang mit Gergiev und anderen russischen Künstlern bezeichnete er als „Hexenjagd“.
Bachler erklärte, im Moment gebe es „wahrscheinlich kein richtigeres Werk“. Diese Symphonie sei weit über die Ukraine hinaus von Bedeutung. „Wir werden zwar jetzt auf diesen Konflikt fokussiert, der derzeit stattfindet, aber es gibt permanent Krieg“. Die Kriege in Afghanistan und Syrien hätten in der Vergangenheit offensichtlich niemanden interessiert. In der Tat wurde bisher kein amerikanischer oder auch deutscher Komponist oder Dirigent aus dem Musikleben verbannt, weil ihre Herkunftsländer brutale Kriege führten.
Dirigent Tugan Sokhiev hatte im März 2022 seinen Chefdirigentenposten beim Bolschoi-Theater sowie seinen Posten als Musikdirektor des Nationalorchesters am Opernhaus Capitole in Toulouse niedergelegt. In seiner Erklärung betonte er, man habe ihn zu einer „untragbaren Wahl“ zwischen russischen und französischen Musikern genötigt, die er als seine „musikalische Familie“ bezeichnet.
Sokhiev hat Recht: Musik kennt keine nationalen Grenzen. Sie lebt vom internationalen Austausch, heute mehr denn je. Sein Auftritt mit der Leningrader Symphonie in Salzburg wurde vom Publikum mit nicht enden wollenden, stehenden Ovationen gefeiert.
Bei den Salzburger Sommerfestspielen verteidigte Intendant Markus Hinterhäuser den Auftritt des jungen griechisch-russischen Dirigent Teodor Currentzis mit Schostakowitschs 14. Symphonie „Babi-Jar“. Im Wiener Standard, dem Hausblatt der österreichischen Sozialdemokratie, wurde er dafür heftig kritisiert.
Dabei befassen sich die Orchesterlieder dieser Symphonie mit dem Massenmord von 1941 an mehr als 33.000 Juden, den die deutsche Wehrmacht zusammen mit SS-Einsatzgruppen in der Nähe der ukrainischen Hauptstadt Kiew begangen haben. Keiner der verantwortlichen Wehrmachtsoffiziere musste sich jemals vor Gericht verantworten. Nur einige SS-Angehörige wurden später verurteilt.
Teodor Currentzis hat den russischen Einmarsch in der Ukraine verurteilt und sogar im Wiener Konzerthaus ein Benefizkonzert zugunsten der Ukraine organisiert. Es war der ukrainische Botschafter, der die Annahme des Geldes verweigert hat, weil es von russischen Musikern erspielt wurde.
Trotz dieser Tatsachen stichelte und hetzte der Standard gegen den Auftritt von Teodor Currentzis in Salzburg. Der „umstrittene“ Dirigent und sein Orchester pflege ein „Näheverhältnis“ zu Putin. Er und seine MusicAeterna Ensembles – Orchester und Chor – würden von „Putins Hausbank VTB finanziert“, heißt es. „Teile der Klassikwelt“ würden darauf mit Empörung reagieren, so die selbsternannten Vertreter dieser Klassikwelt in der Wiener Presse.
Das freie MusicAeterna-Ensemble von Currentzis, der in Russland lebt, muss in der Tat seine Tourneen mit Hilfe von kapitalistischen Sponsoren finanzieren, zum Beispiel Gazprom. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 durch die stalinistische Bürokratie wurde die öffentliche Finanzierung einer hochentwickelten Kunst- und Musikszene zerstört. Gut ausgebildete Musiker und Dirigenten waren gezwungen, nach Geldgebern zu suchen.
Das ist nicht anders als hierzulande, wo freie Orchester und auch Festivals von den Geldern von Audi, Deutscher Bank, Siemens unter anderen abhängig sind. Gegen die Verbrechen, die solche Konzerne in der deutschen Geschichte finanziert haben und gegen ihre heutige Verwicklung in Milliarden-Schiebereien und Rüstungsgeschäfte, sind die korrupten Machenschaften der russischen Bank VTB eher kleine Fische.
In der irrwitzigen Hysterie gegen russische Künstler, die mit der Kündigung von Lorenz Nasturica-Herschcovici in München einen neuen Höhepunkt erreicht, geht es nicht um Solidarität mit der Ukraine und schon gar nicht mit der ukrainischen Bevölkerung, die unter dem Krieg leiden muss. Längst wird deutlich, dass die russische Invasion von der NATO unter Führung der USA und ebenso Deutschlands als Vehikel benutzt wird, um einen massiven Krieg gegen Russland anzuzetteln. Die ukrainische Bevölkerung, die 1941 zu den ersten Opfern des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion gehörte, dient in diesem Krieg als Kanonenfutter.
Die eifrigen Vertreter einer „ethisch“ sauberen Kultur – unter Ausschluss russischer, und nun auch rumänischer Künstler – beteiligen sich in Wahrheit an der ideologischen Einstimmung der Bevölkerung auf diesen umfassenden Krieg, der zum Atomschlag und zur Auslöschung der Menschheit führen kann.
Bezeichnenderweise hat die Verbannung alles Russischen auch antisemitische Untertöne. So verweist der Name des rumänischen Konzertmeisters Lorenz Nasturica-Herschcowici auf einen jüdischen Hintergrund. Nach dem Studium in seiner Geburtsstadt Bukarest lebte er mit seiner Familie in Israel, und viele seiner umjubelten Auftritte fanden mit israelischen Orchestern statt. Online-Kommentare, die der Bayrische Rundfunk inzwischen gelöscht hat, bemerkten voll Empörung, der Nachfolger von Nasturica-Herschcowici sollte zur Sicherheit unpolitisch sein und besser nicht einen solchen Namen führen.