Militärisches Debakel in der Nordost-Ukraine heizt Fraktionskämpfe innerhalb der russischen Oligarchie an

Der Zusammenbruch der russischen Streitkräfte nach der ukrainischen Gegenoffensive im Nordosten des Landes hat die erbitterten Konflikte innerhalb der russischen Oligarchie offengelegt.

Im Verlauf der letzten Woche hat das russische Militär etwa ein Zehntel der Territorien verloren, die es zuvor in der Ukraine besetzt hatte. Die fliehenden Truppen haben fast alle besetzten Teile der Provinz Charkiw geräumt, darunter mehrere strategisch und logistisch wichtige Städte wie Isjum und Balaklija, und dabei militärisches Gerät zurückgelassen.

Das militärische Debakel hat nicht nur die beträchtlichen logistischen und geheimdienstlichen Probleme des russischen Militärs und die extrem schlechte Moral der Soldaten offenbart. Vor allem hat es der Strategie des Putin-Regimes einen schweren Schlag versetzt. Das Putin-Regime, das aus der stalinistischen Zerstörung der Sowjetunion und der Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland hervorgegangen ist, hat auf die jahrzehntelange Einkreisung und die Provokationen der Nato mit einem Einmarsch in die Ukraine reagiert und gehofft, es könne die imperialistischen Mächte damit an den Verhandlungstisch zwingen. Ein Hauptbestandteil dieser Strategie war die Eindämmung eines Kriegs, der im Grunde ein Krieg mit der Nato ist.

Doch das aggressive Vorgehen, mit dem die imperialistischen Mächte den Krieg eskaliert und die ukrainische Armee – die zweitgrößte in Europa nach Russland – zu einer gut ausgerüsteten Streitmacht aufgebaut haben, hat diese Strategie zunichte gemacht. Laut der New York Times hat die Biden-Regierung, die der Ukraine seit Februar Waffen im Wert von 50 Milliarden Dollar geliefert hat, der Selenskyj-Regierung die Offensive vorgeschlagen. Zudem prahlen die amerikanischen Medien und Militärs offen damit, dass von den USA gelieferte Waffen und Geheimdienstinformationen in der Offensive eine zentrale Rolle spielen. Es ist somit mittlerweile nahezu unmöglich zu leugnen, dass das russische Militär in der Ukraine gegen eine Stellvertreterarmee der Nato kämpft.

Der Offensive gingen eine Reihe von schweren Provokationen voraus, darunter Angriffe auf die Krim und die Ermordung von Darja Dugina, einer bekannten Befürworterin des Krieges, nahe Moskau. Sie sind eindeutig Teil der Versuche der imperialistischen Mächte, den Kreml zu einer Ausweitung des Kriegs zu provozieren und die Elemente innerhalb des russischen Staats und der Oligarchie, die am aggressivsten für den Krieg eintreten, zu ermutigen.

Das militärische Debakel hat bereits einen Aufschrei selbst unter den loyalsten Anhängern Putins ausgelöst. In den Medien und im politischen Establishment wird immer offener eine Generalmobilmachung gefordert und ein öffentliches Eingeständnis, dass die Ereignisse in der Ukraine tatsächlich ein umfassender Krieg sind.

Bei einer Sitzung der Staatsduma am 13. September erklärte der Abgeordnete Michail Scheremet von der Regierungspartei Einiges Russland: „Ohne eine Generalmobilmachung und die Umstellung [des ganzen Landes], einschließlich der Wirtschaft, auf Kriegsmodus, werden wir [in der Ukraine] nicht die notwendigen Ergebnisse erzielen. Ich sage, die Gesellschaft muss jetzt soweit wie möglich gefestigt werden, um den Sieg zu erringen.“

Gennadi Sjuganow, der Vorsitzende der stalinistischen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), weigerte sich rundheraus, von einer „militärischen Spezialoperation“ zu sprechen. In den letzten sechs Monaten hat der Kreml darauf bestanden, dass es sich nur um eine „militärische Spezialoperation“ handelt. Der Begriff „Krieg“ wurde aus den russischen Medien in diesem Zusammenhang völlig verbannt.

Sjuganow erklärte: „Worin unterscheidet sich eine militärische Spezialoperation von einem Krieg? Eine Militäroperation kann jederzeit beendet werden. Aber einen Krieg kann man nicht abbrechen, er endet mit einem Sieg oder einer Niederlage. Ich sage Ihnen, was hier geschieht, ist ein Krieg, und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren. Wir dürfen jetzt nicht in Panik verfallen. Wir brauchen eine Generalmobilmachung des Landes, und es sind ganz andere Gesetze notwendig.“ Sjuganow forderte außerdem eine Erhöhung der Militärausgaben und modernere Ausrüstung für die Armee.

Sjuganows Äußerungen sind umso bedeutsamer, als seine Partei – die Josef Stalin und den Großen Terror offen verherrlicht – seit mehr als zwei Jahrzehnten die größte loyale Oppositionspartei des Putin-Regimes ist und eine wichtige Rolle dabei gespielt hat, sozialen Widerstand abzuwürgen und zu desorientieren.

Die Führer der anderen nominellen Oppositionsparteien, darunter der Partei „Gerechtes Russland“, unterstützten Sjuganows Forderung nach einer Generalmobilmachung und betonten ebenfalls, der Krieg sollte als das bezeichnet werden, was er ist.

Nach der hitzigen Duma-Sitzung erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, in der russischen Regierung fände „momentan keine Diskussion“ über eine Teil- oder Generalmobilmachung statt.

Dennoch wird in den russischen Medien weiterhin darüber diskutiert. Viele Medien veröffentlichen ausführliche Analysen darüber, wie eine Teil- oder Generalmobilmachung aussehen würde. Nach russischem Recht darf eine Mobilmachung nur im Fall „einer Aggression gegen Russland, der unmittelbaren Gefahr einer Aggression oder der Entstehung von bewaffneten Konflikten, die sich gegen Russland richten“ ausgerufen werden. Im Fall einer Generalmobilmachung können alle Männer zwischen 18 und 50 Jahren eingezogen und die gesamte Wirtschaft auf Kriegsproduktion umgestellt werden. Das alltägliche soziale und wirtschaftliche Leben würde größtenteils in irgendeiner Form vom Verteidigungsministerium reguliert und überwacht werden. Einige Medien spekulieren, dass eine Mobilmachung, zumindest anfangs, auch teilweise oder im Geheimen durchgeführt werden könnte.

Der Präsident der nordkaukasischen autonomen Republik, Ramsan Kadyrow, der sich öffentlich über „Fehler“ der russischen Armee ausgelassen hat, stand auch an der Spitze einer Kampagne zur Mobilisierung von Freiwilligen als Verstärkung der russischen Truppen. Mehrere Regionalgouverneure haben seine Aufrufe zu einer „Selbstmobilisierung“ in den Regionen unterstützt.

Bisher hat das russische Militär nur einen kleinen Teil seiner mehr als eine Million Soldaten in die Ukraine entsandt. Putin selbst betonte, in der Ukraine würden nur Freiwillige und keine Wehrpflichtigen eingesetzt.

Die erbitterten Konflikte innerhalb der russischen Oligarchie lassen sich nur vor dem Hintergrund der systematischen Intervention des Imperialismus in den Ukraine-Krieg und in die russische Politik verstehen, sowie vor dem Hintergrund des Klassencharakters der russischen Oligarchie. Da sie aus der Zerstörung der Sowjetunion und der Wiedereinführung des Kapitalismus durch die stalinistische Bürokratie hervorgegangen ist, war sie niemals vom Imperialismus unabhängig und konnte dies auch nie sein. All ihre Fraktionen streben, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Mitteln, letztlich eine Einigung mit den imperialistischen Mächten an und fürchten nichts mehr als eine Bewegung der Arbeiterklasse.

Obwohl die Oligarchen ständig versucht haben, sich mit dem Imperialismus zu einigen, haben die imperialistischen Mächte Russland seit 1991 systematisch eingekreist und versuchen, sämtliche Ressourcen der ehemaligen Sowjetunion unter ihre direkte Kontrolle zu bringen. Der derzeitige Krieg in der Ukraine ist der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Letztlich geht es nicht so sehr um die Ukraine selbst, sondern um die vollständige Unterwerfung und Zerstückelung Russlands.

Die Destabilisierung des Putin-Regimes ist daher eine zentrale Komponente der Kriegsstrategie.

Die RAND Corporation, eine führende US-Denkfabrik, veröffentlichte im Jahr 2019 einen Bericht, in dem sie eine Strategie zur „Überdehnung Russlands“ skizzierte, um das Regime zu destabilisieren. Laut RAND besteht das wichtigste Mittel, um eine solche wirtschaftliche „Überdehnung“ zu erreichen – neben Sanktionen vor allem im Energiesektor – darin, das russische Regime zu zwingen, mehr in sein Militär zu investieren. Der Bericht betonte, der Kreml tue dies nur widerwillig. Deshalb würde es den USA „schwer fallen, Russland dazu zu bewegen, seine Verteidigungsausgaben substantiell zu erhöhen, solange der Kreml nicht davon überzeugt wird, dass neue Bedrohungen der russischen Sicherheit einen Kurswechsel erfordern“.

Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass die systematischen Provokationen der Nato im Vorfeld der russischen Invasion darauf abzielten, genau diesen Kurswechsel in der russischen Außenpolitik herbeizuführen. Seit dem Einmarsch führen die Nato-Mächte immer offener einen De-facto-Krieg gegen Russland auf ukrainischem Staatsgebiet. Dabei setzt sie auf eine Armee und paramilitärische Truppen, die hauptsächlich von den imperialistischen Mächten bewaffnet und ausgebildet werden.

Das Kalkül dabei ist, Russland zu einer Ausweitung des Kriegs zu provozieren, einschließlich einer Generalmobilmachung, um das Putin-Regime so schwer zu destabilisieren, dass es in einer von den USA unterstützten Operation von einer anderen Fraktion der Oligarchie gestürzt werden kann. Die jüngste Offensive und die Krise in der russischen herrschenden Klasse hat die Hoffnung geweckt, dass sich dieses Ziel schneller als erwartet erreichen lässt. Der ehemalige US-General Ben Hodges, einer der lautstärksten Wortführer der imperialistischen US-Politik gegenüber Russland, schrieb Anfang letzter Woche im Telegraph: „Es ist durchaus möglich, dass Wladimir Putins zutage getretene Schwächen so groß sind, dass wir den Anfang vom Ende erleben – nicht nur seines Regimes, sondern der Russischen Föderation selbst.“

Bei dieser Operation stützen sich die imperialistischen Mächte auf eine Fraktion innerhalb der russischen Oligarchie, die sich um die irreführend als „liberale Opposition“ bezeichneten Nato-Befürworter versammelt. Ihr wichtigstes Aushängeschild, Alexei Nawalny, sitzt zwar weiterhin im Gefängnis, doch als die Nachricht über den Zusammenbruch der russischen Offensive bekannt wurde, veröffentlichten Vertreter der Stadtverwaltung von Petersburg aus dem Umfeld der „liberalen Opposition“ sofort eine Petition für die Absetzung Putins wegen „Hochverrats“. Diese Schichten stehen in der Tradition einer Fraktion der russischen Oligarchie, die eine Integration Russlands in die Nato befürwortet hat. Faktisch fordern sie eine totale Kapitulation vor dem Imperialismus in der Hoffnung, sie würden dann in das Marionettenregime aufgenommen, das aus einer solchen imperialistischen Aufteilung Russlands hervorgehen würde.

Angesichts des wachsenden Drucks unterschiedlicher Fraktionen der Oligarchie ist die Hauptsorge des Putin-Regimes, dass der Krieg eine soziale Revolution in Russland und der Welt auslösen könnte – ähnlich wie der Erste Weltkrieg durch die von den Bolschewiki angeführte Oktoberrevolution beendet wurde. Sergei Karaganow, ein führender Außenpolitikexperte, warnte vor kurzem in einem Artikel für eine Kreml-nahe Denkfabrik ausdrücklich vor einer Wiederholung der „Katastrophe von 1917“, wie er es nannte. Das ist der Hauptgrund für Putins verzweifelte Versuche, den Konflikt einzudämmen und seine Auswirkungen auf die Heimatfront zu begrenzen – mehr noch als der wahnhafte Glaube der Oligarchie, sie könne sich mit den imperialistischen Mächten einigen.

Die entscheidende Aufgabe für die Arbeiterklasse besteht darin, ihre eigene sozialistische Antwort auf den drohenden Weltkrieg zu entwickeln – unabhängig von und gegen alle Fraktionen der Oligarchie und des Imperialismus. Sich das gesamte politische Erbe des Kampfs der trotzkistischen Bewegung gegen den stalinistischen Verrat an der Oktoberrevolution und für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse anzueignen, ist die wichtigste politische Grundlage für diesen Kampf. Dies erfordert einen entschlossenen Kampf zum Aufbau von Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Russland und der Ukraine.

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