Verdi würgt Streikbewegung der Hafenarbeiter ab

Die Hafenarbeiter sollten das Tarifergebnis zurückweisen, das die Gewerkschaft Verdi am Montag letzter Woche in der zehnten Verhandlungsrunde mit dem Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) vereinbart hat. Anders als Verdi es darstellt, ist es weder ein „sehr gutes Ergebnis“ noch ein „echter Inflationsausgleich“.

Zentrale Streikkundgebung der Hafenarbeiter in Hamburg

Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich der Tarifabschluss als Mogelpackung. Die verkündete Lohnsteigerung liegt angeblich bei 7,9 bis 9,4 Prozent. Als dauerhafte Lohnbestandteile bleiben aber nur die Erhöhung der Stundenlöhne um 1,20 Euro und eine Pauschale zwischen 750 und 1500 Euro. Das sogenannte Inflationsgeld von 700 Euro ist eine Einmalzahlung.

In den verschiedenen Betriebssparten der Häfen sind die dauerhaften Lohnerhöhungen unterschiedlich. In den Vollcontainerbetrieben (A-Betriebe) sind es 7,7 % in diesem und 4,4 % im nächsten Jahr, in anderen Hafenbetrieben, darunter dem Automobilumschlag (B-Betriebe) sind es 6,24 % bzw. 4,4 % und bei den „Betrieben, die wegen ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten unter den besonderen Bedingungen der Beschäftigungssicherung stehen“ (C-Betriebe) gerade mal 3,5 % und 2,5 %.

Die Medien stellen diese Tarifvereinbarung als erstaunlich hohen Lohnabschluss dar. Verdi selbst feiert ihn als „das bisher beste Tarifergebnis in Deutschland in diesem Jahr“. Den 12.000 Hafenarbeitern soll suggeriert werden, sie hätten damit einen „echten“ Inflationsausgleich erhalten.

Doch die nüchternen Fakten ergeben ein anderes Bild. Erstens deckt der Abschluss, der erst ab dem 1. Juli 2022 gilt, obwohl der alte Vertrag bereits im Mai auslief, das erste inflationäre Halbjahr nicht ab. Die schön gerechneten Prozentzahlen müssen daher halbiert werden, somit bleiben für 2022 nur zwischen 3,95 bis 4,7 Prozent übrig. Beim Nettolohn dürften davon im Schnitt nur 2 bis 3,5 Prozent ankommen.

Zweitens blendet Verdi völlig aus, welchen miserablen Abschluss sie im Juni vergangenen Jahres mit dem ZDS vereinbart hatte. Er lag bei mageren 3 Prozent und bedeutete eine Senkung der Reallöhne. Denn ab Juli 2021 stieg die Inflation über 5 Prozent und ab März 2022 auf 7 bis 8 Prozent. Schon dieser Tarifvertrag bescherte den Arbeitern daher eine satte Senkung ihrer Realeinkommen. Trotzdem hatte Verdi auch diesen Abschluss als großen Erfolg bezeichnet.

Drittens hatte Verdi in den Verhandlungsrunden zwischen Juni und August ihren Mitgliedern vollmundig versichert, sie würde niemals einer längeren Laufzeit als zwölf Monate zustimmen. Der jetzige Abschluss läuft über 24 Monate, und damit sechs Monate länger als die Hafenkonzerne im Juni selbst angeboten hatten.

Obwohl für das Jahr 2023 eine anhaltend hohe Inflation von etwa 10 Prozent prognostiziert wird, hat Verdi ab Juli 2023 nur eine weitere Erhöhung von maximal 4,4 Prozent vereinbart. Sollte die Preissteigerungsrate höher liegen als 5,5 Prozent, sieht eine vereinbarte Klausel vor, die Löhne bis zu dieser Schwelle auszugleichen.

Verdi ist so dreist und verkauft dieses eine zusätzliche Prozent als Inflationsklausel. Um die Hafenarbeiter ruhig zu stellen, stellen die Tarifparteien „für den Fall einer höheren Inflationsrate“ eine „Verhandlungsverpflichtung“ in Aussicht und räumen ein Sonderkündigungsrecht ein.

Der Tarifkampf an den fünf norddeutschen Seehäfen, den Verdi jetzt mit diesem faulen Deal beenden will, hat sich über drei Monate hingezogen. Er hat in mehrfacher Hinsicht große Bedeutung.

Neben dem Zentralverband der Seehafenbetriebe und Verdi hatte auch die Finanz- und Wirtschaftselite ein immenses Interesse, einem umfassenden Streik der Hafenarbeiter zuvorzukommen. Die Hafenarbeiter können große Teile der internationalen Logistik lahmlegen und verfügen daher über eine große Streikmacht. Die Konzerne und ihre politischen Vertreter befürchteten einen umfassenden Arbeitskampf, der sich mit der bereits stattfindenden Streikbewegung in anderen Ländern vereint.

Seit Beginn der Verhandlungen hatten die Hafenarbeiter immer wieder ihre Bereitschaft gezeigt, angesichts rapider Preissteigerungen für einen angemessenen Inflationsausgleich zu streiken – zum ersten Mal seit über 40 Jahren.

Im Juni und Juli beteiligten sich in den großen Seehäfen in Hamburg, Emden, Bremerhaven, Bremen, Brake und Wilhelmshaven Tausende Hafenarbeiter an drei Warnstreiks, der letzte dauerte 48 Stunden. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger nahm die Warnstreiks zum Anlass, eine Einschränkung des Streikrechts zu fordern und einen „nationalen Notstand“ heraufzubeschwören.

Als der Arbeitgeberverband im Juli provokativ die siebte Verhandlungsrunde platzen ließ, weigerte sich Verdi das zu tun, was die Hafenarbeiter erwartet hatten: die Verhandlungen für gescheitert zu erklären, eine Urabstimmung einzuleiten und einen unbefristeten Erzwingungsstreik zu organisieren.

Die Arbeitgeber fühlten sich dadurch ermutigt, in die Offensive zu gehen. Sie versuchten weitere Streiks per Gericht durch einstweilige Verfügungen zu verbieten. Die Arbeitsgerichte in Bremen, Oldenburg und Wilhelmshaven wiesen dies ab. Das Gericht in Hamburg bezweifelte dagegen wegen einer Formalie die Rechtmäßigkeit des Streikbeschlusses und riet zu einem Vergleich.

Verdi nahm dies dankend an. Verdi verzichtete für sechs Wochen freiwillig auf Arbeitskampfmaßnahmen und auf die angedrohte Urabstimmung über einen unbefristeten Vollstreik. In den sechs Wochen entwickelten dann die Hafenkonzerne und Verdi hinter den Kulissen „neue Instrumente“, um die Streikbereitschaft der Hafenarbeiter zu unterlaufen. ZDS-Verhandlungsführerin Ulrike Riedel sagte wörtlich: „In einer gemeinsamen Kraftanstrengung ist es uns auch mit Hilfe neuer Instrumente gelungen, einen Kompromiss zu finden.“

In einer Tarif-Info vom 24. August stellte Verdi klar, dass sie den Abschluss in den Betrieben rücksichtslos durchpeitschen und keine Urabstimmung der betroffenen Hafenarbeiter zulassen wird.

Bis zum 5. September findet in allen Betrieben eine sogenannte „Rückkoppelungsphase“ statt, in der das Ergebnis „in Versammlungen und betrieblichen Treffen“ diskutiert und „erklärt“ wird. Da die Mitglieder der Bundestarifkommission (BTK) dem Tarifergebnis bereits zu 90 % zugestimmt hätten, so Verdi, sehe „die BTK von einer Mitgliederbefragung ab“. Nach der „Diskussionsphase“ werde die BTK am Montag, dem 5. September, den formalen Beschluss zur Anerkennung des Tarifergebnisses fassen, das ihrer Meinung nach alternativlos sei. Laut BTK gebe es „keine Möglichkeit mehr, dass erzielte Ergebnis zu verbessern“.

Die Hafenarbeiter sollten den Gewerkschaftsfunktionären, die ihnen das Ergebnis aufzwingen wollen, die Hölle heiß machen. Noch ist nichts entschieden, und die Hafenarbeiter sollten Verdi klar machen, dass sie diesen Ausverkauf nicht akzeptieren werden.

Dazu ist es notwendig, sich sofort unabhängig von Verdi zu organisieren. Die Verdi-Funktionäre sehen die Hafenbetriebe aus der gleichen pro-kapitalistischen Sicht wie die Konzernmanager. Deshalb können sie mühelos die Seite wechseln. So saß in der jetzigen Tarifrunde der ehemalige Leiter der Verdi-Bundesfachgruppe „Maritime Wirtschaft“ Torben Seebold für die Arbeitgeber mit am Verhandlungstisch.

Und wie alle Gewerkschaften ist Verdi eng mit den Regierungsparteien SPD und Grüne sowie der Linkspartei verbunden. Verdi unterstützt ihre Regierungs- und Kriegspolitik, die die Kosten für die Milliardengeschenke an die Konzerne und die militärische Aufrüstung durch massive Preissteigerungen und niedrige Lohnabschlüsse der Arbeiterklasse aufbürdet. Diesem Zweck dient auch der Abschluss in den Häfen.

Hafenarbeiter müssen unabhängige Aktionskomitees aufbauen, die den Kampf für höhere Löhne und den Ausgleich der Lebenshaltungskosten selbst in die Hand nehmen. Als ersten Schritt müssen sie eine demokratische Abstimmung gegen den Abschluss durchsetzen, die Beschlussempfehlung der BTK zurückweisen und einen umfassenden Streik planen und in Gang setzen.

Zweitens müssen sie sich über alle Betriebe, Branchen und Länder hinweg zusammenschließen, um die volle Kampfkraft zu entfalten. Millionen von Arbeitern befinden sich ebenfalls im Konflikt mit Unternehmern und Regierungen. Die mächtigsten Verbündeten der Hafenarbeiter in Norddeutschland sind die Arbeiter im Rest der Welt, die mit den gleichen Angriffen konfrontiert sind. Die Häfen sind wichtige Knotenpunkte der globalisierten Produktion und verbinden Arbeiter auf der ganzen Welt.

Die Zeit für eine internationale Gegenoffensive der Hafenarbeiter ist günstig. Nicht nur, dass die Hafeneigner riesige Gewinne gemacht haben und die Macht der Belegschaften in den Warnstreiks sichtbar geworden ist. Es befinden sich gegenwärtig auch 2000 Arbeiter im Hafen Felixstowe in Suffolk, dem größten Containerhafen des Vereinigten Königreichs, in einem achttägigen Streik.

Die Kranführer, Schlepperfahrer und Stauer in Felixstowe haben das Angebot einer siebenprozentigen Lohnerhöhung des Hafenbetreibers CK Hutchison Holding Ltd. abgelehnt. Die Gewerkschaft Unite setzte, ähnlich wie hier Verdi, alles daran, einen Streik zu verhindern. Erst unter dem Druck der Mitglieder sah sie sich gezwungen, Urabstimmungen durchzuführen und widerwillig zu einem längeren Streik aufzurufen. In Interviews und Gesprächen der WSWS während des Streiks appellierten viele britische Hafenarbeiter direkt an ihre deutschen Kollegen.

In Deutschland, Großbritannien und weltweit waren Arbeiter in den letzten zwei Jahren massiven Angriffen ausgesetzt – Arbeitszwang trotz Pandemie, explodierenden Lebenshaltungskosten und unerträglichen Arbeitsbedingungen. Immer mehr Arbeiter setzen sich zur Wehr und reagieren mit Streiks und anderen Arbeitskampfmaßnahmen.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat vor einem Jahr die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) ins Leben gerufen, um diesen Kämpfen eine organisatorische Form und eine politische Orientierung zu geben.

Hafenarbeiter, die den Ausverkauf Verdis nicht akzeptieren und gegen die Hafenkonzerne kämpfen wollen, sind aufgerufen, sich bei uns zu melden, um Aktionskomitees aufzubauen und den Kampf vorzubereiten.

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