77 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht nutzte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den Jahrestag, um eine beispiellose Aufrüstung der Bundeswehr und eine massive Ausweitung des Stellvertreterkriegs gegen Russland zu rechtfertigen. Zu diesem Zweck verharmloste und relativierte er die Verbrechen des Nazi-Regimes in unsäglicher Weise und knüpfte an die schlimmsten Traditionen deutscher Großmachtpolitik an.
Deutsche Bundeskanzler wenden sich nur selten in einer Fernsehansprache zu aktuellen Themen an die Bevölkerung. Kanzlerin Merkel tat es in ihrer 16-jährigen Amtszeit nur ein einziges Mal, nämlich auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie. Scholz nutzte dieses Mittel nun am Tag der Befreiung vom Faschismus, um einen aggressiven Kriegskurs gegen Russland zu propagieren und weitere Waffenlieferungen an die Ukraine anzukündigen.
Scholz warf dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vor, mit seinem „barbarischen Angriff“ „die Ukraine unterwerfen, ihre Kultur und ihre Identität vernichten“ zu wollen. So bringe er „Krieg, Völkermord und Gewaltherrschaft“ zurück nach Europa. „Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor. Das nicht zu tun, hieße zu kapitulieren vor blanker Gewalt – und den Aggressor zu bestärken“, so Scholz.
Deutschland werde deshalb „einen russischen Diktatfrieden“ nicht akzeptieren, erklärte der Bundeskanzler und gab damit indirekt zu, dass er sich als Kriegspartei in dem Konflikt versteht. Folgerichtig kündigte er an, der Ukraine noch weitere schwere Waffen zu liefern, um Russland eine militärische Niederlage beizubringen, wie Scholz wenige Tage zuvor in einem Interview mit den ZDF erklärt hatte.
Bei dieser historischen Entscheidung, deutsche Panzer wieder gegen Russland rollen zu lassen, geht es nicht um „Sicherheit und Frieden“ und zuallerletzt um den Schutz der ukrainischen Bevölkerung. Deutschland und die übrigen Nato-Mächte haben den reaktionären Überfall Russlands vielmehr systematisch provoziert, um auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen zu können.
Schon im Jahr 2014 unterstütze die deutsche Regierung den Putsch gegen den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, um das Land in den eigenen Einflussbereich und gegen Russland in Stellung zu bringen. Der Putsch stützte sich auf rechtsextreme Paramilitärs wie den Rechten Sektor, die in den folgenden Jahren immer größeren Einfluss auf die Politik erlangen sollten.
In den letzten Monaten bereitete sich die ukrainische Regierung mit massiver Unterstützung der USA und auch Deutschlands darauf vor, die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete im Osten des Landes unter militärische Kontrolle zu bringen. Auch ein Krieg gegen Russland auf der Krim wurde geplant. Dazu erhielt die Ukraine massive militärische Unterstützung.
Das Putin-Regime reagierte auf diese Aggression mit giftigem Nationalismus und seinem reaktionären Überfall auf die Ukraine. Dieser wurde von Deutschland zum Vorwand genommen, die größte Aufrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg zu beschließen. Alle Restriktionen, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auferlegt worden waren, werden beseitigt und die Bundeswehr wird erneut zur größten europäischen Armee aufgebaut.
Wenn Scholz erklärt, Deutschland werde einen „Diktatfrieden“ nicht akzeptieren und kämpfe für die militärische Niederlage Russlands, ist die Logik eine direkte Konfrontation mit Russland, die in einen atomaren Weltkrieg führt. Die Sorge darüber erwähnt Scholz nur kurz und erklärt dann lapidar: „Angst darf uns nicht lähmen.“
Dabei steht nicht Russland in der Traditionslinie der Nazis, wie Scholz in seiner Rede behauptete, sondern der deutsche Militarismus. Die deutsche Regierung hat bereits Panzer aus ehemaligen NVA-Beständen in die Ukraine geliefert und weitere schwere Waffenlieferungen angekündigt. Darunter Flugabwehrpanzer und Panzerhaubitzen, die zu schwersten Zerstörungen fähig sind. Deutschland und die Nato sind bereit, die Ukraine in Schutt und Asche zu legen, um Russland eine Niederlage beizubringen.
Wie vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geht das mit einer ohrenbetäubenden Kriegspropaganda und mit antirussischem Chauvinismus und Rassismus einher. „Alle Russen sind jetzt unsere Feinde,“ betitelte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein Interview mit dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, der ein erklärter Anhänger des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera ist.
Mit ihren schweren Waffen rüstet die Bundesregierung unter anderem das Asow-Regiment und andere Neonazi-Einheiten aus, die in der Tradition der nationalistischen OUN stehen, die mit Hitlers Wehrmacht zusammenarbeitete und die Ermordung tausender ukrainischer Juden zu verantworten hatte.
Scholz Gerede von „Freiheit und Sicherheit in Europa“ ist genauso glaubwürdig, wie Hitlers Rede an das deutsche Volk vom 22. Juni 1941, dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Auch Hitler begründete seinen Krieg mit Angriffen der Sowjetunion auf Finnland und Rumänien und erklärte: „Wenn ich aber bisher durch die Umstände gezwungen war, immer wieder zu schweigen, so ist doch jetzt der Augenblick gekommen, wo ein weiteres Zusehen nicht nur eine Unterlassungssünde, sondern ein Verbrechen am deutschen Volk, ja, an ganz Europa wäre.“
Dass sich Scholz in dieser Tradition bewegt, macht sein Umgang mit dieser Geschichte deutlich. In seiner offiziellen Fernsehansprache zum Tag der bedingungslosen Kapitulation kamen die Begriffe „Holocaust“, in dem sechs Millionen Juden industriell vernichtet worden waren, und „Vernichtungskrieg“, der von Nazi-Deutschland im Detail geplant worden war, nicht vor. Er bemühte zu Beginn seiner Rede lediglich einige allgemeine Floskeln über 60 Millionen Kriegstote und Millionen, die an der Front und in den Konzentrationslagern ermordet wurden.
Der Rest der Rede war dem russischen Krieg gegen die Ukraine gewidmet. Für diesen hatte er nur zwei Tage zuvor in einer Rede in Hamburg die Worte „Vernichtungskrieg“ und „Zivilisationsbruch“ durchaus gefunden, die bisher der Beschreibung der beispiellosen Verbrechen der Wehrmacht vorbehalten waren. Scholz behauptete, dass Russland einen „Vernichtungskrieg“ führe und in „zivilisatorischer Hinsicht einen Bruch“ vollziehe.
Das ist eine bodenlose Geschichtsklitterung, die die Verbrechen des deutschen Imperialismus in unerträglicher Weise verharmlost und relativiert. Der russische Einmarsch in die Ukraine ist reaktionär und von einem abstoßenden Nationalismus motiviert, aber er zielt nicht auf die Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung ab und hat nicht ansatzweise die Dimension des Vernichtungskriegs der Wehrmacht, geschweige denn des Holocaust.
Der russische Feldzug reicht auch nicht an die Brutalität der US-geführten und von Deutschland unterstützten Kriege im Irak, in Afghanistan oder in Libyen heran, wo ganze Länder dem Erdboden gleichgemacht und Millionen von Menschen getötet wurden. Das musste selbst die New York Times zugeben, die in einem Artikel vom 3. Mai US-Beamte zitiert, dass die russischen Streitkräfte in diesem Krieg eine „bemerkenswerte Zurückhaltung“ an den Tag legten.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die Rede des Bundeskanzlers ist Teil einer breitangelegten Geschichtsfälschung. Der rot-rot-grüne Senat in Berlin hat an den Gedenkstätten der Roten Armee das Zeigen sowjetischer Flaggen verboten, während er der neonazistischen Gruppe „Der Dritte Weg“ erlaubte, am Holocaust-Mahnmal für die Ukraine zu demonstrieren.
Schon als die Bundesregierung den Putsch von 2014 unterstützte und das „Ende der militärischen Zurückhaltung Deutschlands“ verkündete, ging das mit der Verharmlosung der Nazi-Verbrechen einher. Im Spiegel erschien im Februar 2014 ein Artikel, der den mittlerweile verstorbenen Nazi-Apologeten Ernst Nolte mit der Behauptung zitierte, „dass man den Anteil der Polen und der Engländer [am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs] stärker gewichten muss, als es meist geschieht“.
Im gleichen Artikel kam Jörg Baberowski, Professor an der Humboldt-Universität, zu Wort, der erklärte: „Nolte wurde unrecht getan, er hatte historisch recht.“ Als Begründung führte er an: „Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.“ Zudem verglich er den Holocaust und Erschießungen im russischen Bürgerkrieg mit den Worten: „Im Grunde war es das Gleiche: industrielle Tötung.“
Baberowski wurde von Vertretern sämtlicher Parteien gefeiert. Heute sind seine revanchistischen Standpunkte offizielle Politik. Besonders übel ist Scholz’ Versuch, seine Kriegspolitik und seine Geschichtsfälschung mit der Parole „Nie wieder Krieg!“ zu rechtfertigen. Zu „Freiheit und Sicherheit“ nach Kräften beizutragen bedeute heute „Nie wieder“, erklärte er.
Die Parole war schon nach dem ersten Weltkrieg populär und wurde von der kommunistischen Künstlerin Käthe Kollwitz unvergesslich ins Bild gesetzt. Nach den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, die der deutsche Imperialismus im Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte, verankerte sich der Satz tief im Bewusstsein der Massen in Deutschland und auf der ganzen Welt.
Scholz und die Bundesregierung werden diese tiefe Überzeugung mit der Kaperung des Slogans für ihre Kriegstreiberei nicht auslöschen. Ganz im Gegenteil tritt der Charakter der deutschen Kriegspolitik immer offener zutage. Sie trifft in der arbeitenden Bevölkerung überwiegend auf Opposition.
Es kommt jetzt darauf an, diese Opposition in bewussten Widerstand zu verwandeln und mit einer internationalistischen und sozialistischen Perspektive zu bewaffnen. Nur das aktive Eingreifen der russischen und ukrainischen Arbeiter zusammen mit den Arbeitern aller Länder kann den Wahnsinn stoppen.
Diese Perspektive diskutiert die Sozialistische Gleichheitspartei am Dienstag, den 24. Mai um 19 Uhr mit allen Interessierten auf einer Online-Veranstaltung. Registriert Euch jetzt, um daran teilzunehmen.