Jean-Luc Mélenchon von der Partei Unbeugsames Frankreich (La France insoumise, LFI) gab am Sonntagabend bereits kurz nach 20 Uhr, noch vor dem offiziellen Ende der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen, rasch seine Niederlage bekannt und unterstützte den reaktionären Amtsinhaber Emmanuel Macron. Kurze Zeit später kündigte LFI überraschend Mélenchons Rückzug aus der Politik an.
Das Timing dieser Ankündigungen war außergewöhnlich. Mélenchon erhielt insgesamt 22 Prozent der Stimmen und lag nur 300.000 Stimmen hinter der neofaschistischen Kandidatin Marine Le Pen. Zudem hatte die Auszählung der Stimmen aus dem Raum Paris, von denen hunderttausende an Mélenchon gingen, gerade erst begonnen. Doch Mélenchon erklärte sofort seine Niederlage und rief zur Unterstützung Macrons gegen Le Pen auf. Vor laufenden Fernsehkameras rief er immer wieder: „Wir dürfen Madame Le Pen keine einzige Stimme geben.“
Später am Abend, als die Stimmen aus dem Raum Paris ausgezählt waren, stieg Mélenchons Anteil deutlich. Bis 1 Uhr morgens am Montag war noch nicht klar, ob Mélenchon Le Pen nicht schlagen und in die Stichwahl gegen Macron vorrücken würde. Unter diesen Umständen war die Entscheidung von LFI, die Niederlage einzugestehen und das Ausscheiden ihres Parteichefs bekanntzugeben, erstaunlich selbstzerstörerisch.
Zu argumentieren, Mélenchon habe verloren und damit sei die Sache erledigt, würde die politische Situation verfälschen. Objektiv gesehen ist LFI in einer sehr starken Position. Die Partei konnte sich mit 7,7 Millionen Stimmen unter der Jugend und in den Arbeitervierteln von 10 der 16 größten Städte Frankreichs durchsetzen, u.a. in Paris, Marseille und Toulouse. Diese sozialen Kräfte werden zweifellos eine wichtige Rolle bei Streiks und Protesten spielen, die gegen den „Präsidenten der Reichen“ Macron oder die erste neofaschistische Präsidentin ausbrechen werden.
Diese Ereignisse enthüllen den feigen, kleinbürgerlichen Charakter von LFI und Mélenchon selbst und die Klassenkluft, welche die LFI und ähnliche pseudolinke Parteien in Frankreich von einer trotzkistischen, auf die Arbeiterklasse orientierten Partei trennt. Statt ihren Rückhalt zu konsolidieren und eine Bewegung in der Arbeiterklasse aufzubauen, ist LFI verzweifelt bestrebt, die aufgebaute Stärke von sich zu weisen und sich mit Macron ins Bett zu legen.
Die Parti de l’égalité socialiste (PES), die französische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI), hat zu einem aktiven Boykott der Stichwahl zwischen Macron und Le Pen aufgerufen. Unabhängig davon, wer die Wahl gewinnt, wird sie zur Bildung einer extrem rechten Regierung führen, die brutale Angriffe gegen die Arbeiterklasse führen wird. Die PES ruft Arbeiter und Jugendliche dazu auf, bei dieser Abstimmung nicht zu wählen, die vergiftete Wahl zwischen dem „Präsidenten der Reichen“ und Frankreichs bekanntester Neofaschistin zurückzuweisen und stattdessen eine Bewegung der Arbeiterklasse gegen den Wahlsieger aufzubauen.
Mélenchon und LFI hingegen reagierten eindeutig mit Schock und Entsetzen auf das Ergebnis. Ende März, als Mélenchon in den Umfragen noch bei etwa elf Prozent lag, erklärte er bei einer Wahlkampfrede in Marseille, er wolle weiterhin eine aktive Rolle im politischen Leben spielen, obwohl er bald 70 Jahre alt wird. Mélenchon erklärte, er werde nach den jetzigen Wahlen „zweifellos noch an weiteren Wahlkämpfen teilnehmen“.
Mélenchons Enthusiasmus für seine politische Zukunft löste sich jedoch in nichts auf, nachdem sein Wahlkampf in den zwei Wochen vor dem Wahltag Massen von Arbeitern und Jugendlichen anzog. Als er am Sonntagabend zu seinen Anhängern sprach, befand er sich plötzlich in einer sehr starken Position, sogar sein Vorrücken in die Stichwahl stand im Raum. Doch Mélenchon schlug zutiefst pessimistische und entmutigende Töne an.
Nachdem er seine Niederlage verlautbart hatte, machte Mélenchon eine obskure Anspielung auf die griechische Legende von Sisyphos und betonte seine Angst vor der Wut seiner Anhänger: „Die einzige Aufgabe, die wir uns selbst stellen müssen, ist diejenige aus der Legende von Sisyphos. Der Stein fällt auf den Boden der Schlucht, und wir schleppen ihn wieder hinauf. Ich kenne eure Wut, lasst nicht zu, dass sie euch zu Fehlern hinreißt, die nicht wiedergutzumachen sind. Der Kampf geht weiter, solange das Leben weitergeht.“
Mélenchons Bezugnahme auf die Legende von Sisyphos hat vielleicht mehr ausgesagt, als er wollte. Gemäß der Legende wird Sisyphos in der Unterwelt dazu verurteilt, einen schweren Stein einen Hügel hinaufzurollen, doch sobald er den Gipfel erreicht, rollt der Stein wieder hinunter. Man sollte sich fragen: Warum vergleicht Mélenchon die Mitglieder und Anhänger von LFI mit einem Mann, der von den Göttern auf ewig verurteilt wird, genau in dem Moment zu scheitern, in dem er sein Ziel erreicht?
Die Finanzaristokratie, die Mélenchon anbetet, ist sehr erfreut darüber, dass Millionen Arbeiter für LFI stimmen und sie den Hügel hinaufschieben, solange die Partei wieder hinunterrollt, sobald sie den Gipfel erreicht hat. LFI und Mélenchon erhalten Zugang zu den Medien und Posten im Staat, weil das gesamte herrschende Establishment – von Mélenchons Spießgesellen im milliardenschweren Dassault-Clan bis hin zur LFI-Führung selbst – die Bedingungen des Deals kennt. Mélenchon darf nicht erfolgreich gewählt werden, und seine Unterstützer aus der Arbeiterklasse sollen durch die Wahl enttäuscht, demoralisiert und passiv gemacht werden.
Mélenchons Angst vor der Wut seiner Wähler am Wahlabend kommt daher, dass die massive Unterstützung, die er gewonnen hat, diesen Deal zu gefährden droht. In der Bevölkerung herrscht offensichtlich massive Unterstützung für linke Politik, und radikalere Forderungen würden ihm nicht nur Unterstützung in den Städten einbringen, sondern auch von jenen wütenden Arbeitern in den Kleinstädten, die gegenwärtig Le Pen wählen. Millionen Arbeiter würden nicht enttäuscht und isoliert aus der Wahl hervorgehen, sondern gestärkt und mit der Erwartungshaltung, dass Mélenchon linke Politik verfolgt und sogar Präsident werden könnte. Das kann Mélenchon nicht zulassen.
Bemerkenswerterweise unterlief Mélenchon während seiner Rede ein wutschnaubender Versprecher, als er seinen Anhängern schroff drohte, er werde sie verlassen, wenn sie von ihm etwas Besseres als den dritten Platz erwarten: „Natürlich werden mir die Jüngeren sagen: ,Wir haben es noch nicht geschafft.‘ Ihr glaubt, es ist in Reichweite, ja? Dann macht ihr es besser, danke.“
Auf Fragen der Presse nach dieser verbitterten Äußerung erklärten Vertreter von LFI diplomatisch, Mélenchon habe die jüngere Generation aufgerufen, seinen Posten als Präsidentschaftskandidat von LFI zu übernehmen, da er nicht mehr antreten werde. Gegenüber Le Parisien spekulierten sie, er könnte nach seinem Austritt aus der Politik eine Stiftung namens La-Boétie-Institut gründen, um mit einem hohen Startkapital „politische Kader und hochrangige Regierungsmitglieder auszubilden und internationale Debatten und Initiativen ins Leben zu rufen“.
Quellen aus der LFI distanzierten sich am Dienstag von Mélenchons Äußerungen und erklärten, er erwäge die Teilnahme an weiteren Wahlen, darunter den Parlamentswahlen am 12. Juni, deren Wahlkampf direkt nach der Präsidentschaftswahl beginnt. Scheinbar soll Mélenchons Rückzug nur so lange dauern, bis ein rechter Präsident oder eine neofaschistische Präsidentin an der Macht ist.
Eine trotzkistische Partei würde in dieser Lage Millionen von Wählern aufrufen, Proteste und Streiks zu organisieren – gegen die Gefahr eines Nato-Kriegs gegen Russland; gegen die rapide steigenden Preise für Energie und Nahrungsmittel, die die Arbeiter in den Ruin treiben; und gegen Macrons Weigerung, Covid-19 zu bekämpfen. Solche Streiks, bei denen große Teile der Arbeiterklasse in den meisten Großstädten des Landes mobilisiert würden, könnten die französische Wirtschaft in kurzer Zeit zum Erliegen bringen. Sie könnten außerdem zum Ausgangspunkt eines mächtigen internationalen Kampfs der Arbeiterklasse gegen Krieg, Pandemie und die Verarmung der Bevölkerung werden.
Mélenchon ist jedoch kein Trotzkist, sondern ein ehemaliger sozialdemokratischer Minister und ein antimarxistischer „Linkspopulist“. Er ist Vorsitzender einer kleinbürgerlichen Partei, die die sozialistische Revolution ablehnt und stattdessen eine „Ära des Volks“ ausruft, nicht der Arbeiterklasse. Deshalb lehnt Mélenchon es ab, die den Widerstand der Arbeiterklasse gegen Krieg, Austerität oder die Pandemie zu mobilisieren.
Zudem ist Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen nicht untätig, sondern verhandelt hinter den Kulissen heimlich mit Vertretern der Superreichen. Am Dienstag erklärte Macron bei einem Wahlkampftermin, er tausche sich mit Mélenchon in Chatnachrichten aus. Er sagte jedoch nichts über den Inhalt und erklärte, es handele sich um eine private Diskussion.
Bemerkenswerterweise lässt sich Mélenchon nicht einmal auf einen bankrotten Kuhhandel über mögliche Bedingungen ein, die er von Macron als Gegenleistung für einen Wahlaufruf an seine Unterstützer fordern würde. Er verlangt von Macron keinerlei Einschränkungen der geplanten Maßnahmen gegen die Arbeiterklasse, sondern wird seine Wähler gefesselt und geknebelt dem allseits verhassten „Präsidenten der Reichen“ ausliefern.
Die ganze Angelegenheit macht äußerst deutlich, mit welch reaktionären politischen Mechanismen die herrschende Elite Frankreichs den explosiven Widerstand der Arbeiterklasse spaltet und unterdrückt und trotz der wachsenden Wut der Arbeiterklasse rechte Kandidaten wie Macron oder Le Pen an die Macht bringen kann.
Sie bestätigt auch die Analyse der PES, dass es in der Arbeiterklasse und unter der Jugend eine beträchtliche Basis für eine linke revolutionäre Politik gibt, die mobilisiert werden kann und muss. Da pseudolinke Parteien wie LFI diesen Widerstand nicht mobilisieren können, und nicht mobilisieren werden, ist es wichtig, die Kampagne der PES für einen aktiven Boykott der Wahlen zu unterstützen, Arbeiter gegen Macron und Le Pen zu mobilisieren und die PES als Alternative zu LFI aufzubauen.