Am Dienstag trafen sich russische und ukrainische Unterhändler in Istanbul, um über ein Ende des Kriegs in der Ukraine zu verhandeln, der seit mehr als einem Monat andauert.
Die Verhandlungen wurden vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ausgerichtet und sollten eigentlich zwei Tage dauern, endeten jedoch bereits nach dem ersten Tag. Beide Seiten sprachen von „positiven Zeichen“.
Die Ukraine hat dem Kreml ihre Vorschläge für ein „Friedensabkommen“ vorgelegt, u.a. mit folgenden Punkten:
1) Im Gegenzug für Sicherheitsgarantien mehrerer Staaten, u.a. von Russland, wird die Ukraine einen formell neutralen Status akzeptieren. Dies umfasst die Garantie, dass das Land keinem Militärbündnis wie der Nato beitreten wird, keine ausländischen Militärbasen auf seinem Staatsgebiet unterhalten und keine gemeinsamen Militärübungen mit Bündnissen unternehmen wird, sofern nicht alle Staaten, die Sicherheitsgarantien abgegeben haben, zustimmen.
2) In den nächsten 15 Jahren werden Verhandlungen über den Status der Halbinsel Krim geführt; in dieser Zeit werden weder Russland noch die Ukraine versuchen, den Disput mit militärischen Mitteln zu lösen.
3) Die Ukraine wird nicht versuchen, die Region Donbass, die seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert wird, mit militärischen Mitteln zurückzuerobern.
4) Russland wird den Eintritt der Ukraine in die Europäische Union akzeptieren.
Diese Vorschläge würden bedeuten, dass die Ukraine die Militärstrategie aufgibt, die sie erst im März 2021 angenommen hatte. Diese Strategie, deren ausdrückliches Ziel die Rückeroberung der Krim und des Donbass ist, war eine der zentralen Provokationen, die zum aktuellen Krieg geführt haben. Doch direkt nach dem Treffen erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij, er sei zu keinen Zugeständnissen bei der „territorialen Integrität“ der Ukraine bereit, d.h. beim Status des Donbass und der Krim.
Russland wiederum erklärte, es werde seine Militäroperationen in Richtung der Hauptstadt Kiew und der Stadt Tschirnigow „drastisch“ verringern, um weitere Verhandlungen zu erleichtern. Der Kreml werde die Vorschläge der Ukraine prüfen und erklärte, Wladimir Putin sei zu einem Treffen mit Selenskyj bereit, sobald ein Friedensabkommen ausgearbeitet wurde.
Bereits vor den Gesprächen gab es Anzeichen für einen Strategiewechsel des russischen Militärs. Am Freitag erklärte der Vizevorsitzende des russischen Generalstabs und Leiter der Militäroperationen in der Ukraine, Sergei Rudskoi, Russland werde den Schwerpunkt seiner Militäroperationen auf den Donbass in der Ostukraine verlagern, weil die „erste Phase“ der Operation „erfolgreich abgeschlossen wurde“.
Zwar wurden seitdem mehrere russische Luftangriffe auf Ziele in der Westukraine gemeldet, doch laut Medienberichten scheinen sich die russischen Truppen aus größeren Gebieten der Südukraine sowie der Umgebung von Kiew zurückzuziehen.
Im Verlauf des letzten Monats hat das russische Militär schwere Verluste erlitten. Laut dem Verteidigungsministerium wurden 1.351 russische Soldaten getötet und weitere 3.925 verwundet, doch Schätzungen des Pentagon gehen von bis zu 7.000 Toten und fast 30.000 Verwundeten aus. Im Vergleich dazu haben die sowjetischen Truppen während des gesamten fast zehn Jahre andauernden Kriegs in Afghanistan von Dezember 1979 bis Februar 1989 etwas weniger als 15.000 Soldaten verloren.
Besonders hoch ist die Zahl der Todesopfer unter hochrangigen russischen Militärs. Laut Berichten wurden 15 Generäle und hohe Offiziere getötet. Der Business Insider schrieb: „Die russische Offizierselite wird in der Ukraine dezimiert.“
Nur wenige Tage vor den Friedensverhandlungen am Dienstag hatte sich US-Präsident Joe Biden in Warschau eine hochprovokante „Entgleisung“ nach der anderen geleistet. Zuerst hatte er Angehörigen der 82nd Airborne Division erzählt, sie würden, wenn sie dort sind, erleben, wie stark der Widerstand in der Ukraine sei – was nahelegt, dass sie bald im Kriegsgebiet eingesetzt werden. Am Samstag kündigte er öffentlich an, was seit langem ein Ziel der US-Strategie ist: ein Regimewechsel in Moskau. Weiter erklärte er, die USA müssten sich auf einen „jahrzehntelangen“ Krieg vorbereiten.
Biden, der Putin bereits zuvor als „Kriegsverbrecher“ bezeichnet und damit die amerikanisch-russischen Beziehungen an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte, nannte den russischen Präsident außerdem einen „Schlächter“.
Sein Stab ruderte zwar schnell zurück, doch jede dieser öffentlichen Äußerungen des US-Präsidenten hätte die Grundlage für eine deutliche Eskalation des Kriegs schaffen können. Russische Außenpolitikkreise interpretierten sie, wenig überraschend, als klares Anzeichen dafür, dass Washington keinerlei Interesse an einer friedlichen Lösung des Kriegs hat.
Am Montag machte Biden eine weitere ungewöhnliche Äußerung: Die USA würden „dabei Unterstützung leisten, die ukrainischen Truppen in Polen auszubilden“ – was sowohl vom Weißen Haus als auch vom US-Militär zuvor dementiert worden war. Am gleichen Tag legte das Weiße Haus dem Kongress einen weiteren Militäretat in einer Rekordhöhe von 813 Milliarden Dollar für 2023 vor, in dem 682 Millionen für die Ukraine vorgesehen sind.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Deshalb überrascht es nicht, dass Biden auf die Frage nach dem Ergebnis der Gespräche und den Zusicherungen des Kreml, seine Militäroperationen um Kiew einzuschränken, alles andere als begeistert erklärte: „Ich interpretiere da nichts hinein, bis ich sehe, was sie tun.“
Auch Pentagon-Sprecher John Kirby wies die Versicherungen des Kremls mit der Behauptung zurück, niemand solle sich täuschen lassen und ihnen glauben.
Wie ein Artikel von Foreign Affairs kürzlich nahelegte, wäre auch eine vorübergehende Zustimmung Washingtons zur Beilegung des Kriegs mit dem Ziel verknüpft, die Ukraine weiterhin als Stellvertreterin des Imperialismus zu behalten. Der Autor des Artikels, A. Wess Mitchell, der unter Trump von 2017 bis 2019 stellvertretender Staatssekretär für Europa und Eurasien war, schrieb: „Ein Deal muss kein Todesurteil sein.“
Er argumentierte, selbst wenn man eine formelle Neutralität akzeptiere, könnte die Ukraine eine Vereinbarung aushandeln, die „sicherstellt, dass ein Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft nicht auf Kosten der Selbstverteidigungskraft des Landes oder der Aussicht auf eine wirtschaftliche und politische Zukunft im Westen geschieht“.
Ein solches Abkommen würde „die Zusage [des Westens] beinhalten, seine militärische Entwicklung mit ausländischer Hilfe und Beschaffung von Waffen zu unterstützten“, d.h. eine Fortsetzung der massiven milliardenschweren Waffenlieferungen an die Ukraine, die seit Jahren andauern und mit dem Krieg dramatisch verstärkt wurden.
Doch es ist alles andere als sicher, dass Washington oder die extreme Rechte in der Ukraine irgendein Abkommen akzeptieren werden. Letztere hat enormen Einfluss in der ukrainischen Politik und im Staatsapparat und ist mittlerweile mit Nato-Waffen und Panzern ausgerüstet.
Seit Beginn des Kriegs hat der ukrainische Geheimdienst SBU, der sich offen in die Tradition der Nazi-Kollaborateure der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) stellt, eine Terrorkampagne gegen Mitglieder des ukrainischen Verhandlungsteams und prorussische Oppositionelle geführt. Ein Mitglied des Verhaftungsteams wurde getötet, mindestens ein weiteres wegen „Landesverrats“ verhaftet. Viele weitere Politiker wurden verhaftet oder sind verschwunden.
Am Montag berichtete das Wall Street Journal, der Oligarch Roman Abramowitsch, der an den Friedensverhandlungen mit der Ukraine beteiligt war, und mehrere Mitglieder des ukrainischen Verhandlungsteams seien möglicherweise Anfang März während der Verhandlungen vergiftet worden. Der Bericht beruhte auf einer gemeinsamen Untersuchung des Journal und des hochgradig dubiosen „investigativen“ Recherchenetzwerks Bellingcat, das nachweislich Beziehungen zur Nato unterhält. Bellingcat steckte auch hinter den „Enthüllungen“ über den angeblichen Giftanschlag auf den rechten, von den USA unterstützten Putin-Kritiker Alexei Nawalny.
Das Wall Street Journal hatte es sehr eilig mit der Behauptung, dass „Hardliner in Moskau“ hinter dem angeblichen Giftanschlag stecken. Doch wenn es tatsächlich einen Giftanschlag auf Abramowitsch und andere Unterhändler gegeben hat, dann könnten dafür genauso gut der ukrainische SBU oder eine der zahlreichen rechtsextremen Milizen verantwortlich sein. Letztere haben immer wieder gezeigt, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine Beilegung des Konflikts zu verhindern und auch vor Mord nicht haltmachen.