Verfolgt man die deutschen Medien während der letzten Tage, fragt man sich, ob sie den Verstand verloren haben. Sie scheinen wild entschlossen, zum dritten Mal innerhalb von 120 Jahren einen Krieg gegen Russland bzw. die Sowjetunion zu führen, als hätten der Erste und der Zweite Weltkrieg nicht genügend Leid und Zerstörung über Europa gebracht.
Der Spiegel erschien am Wochenende mit dem Leitartikel „Putin als Gegner behandeln – nicht als Partner“. Er fordert die Nato auf, „endlich letale Waffen an die Ukraine [zu] liefern“. Amerikaner und Europäer hätten „lange versucht, den russischen Präsidenten durch Dialog einzuhegen“, heißt es darin. „Vergebens. Es ist Zeit für einen radikalen Strategiewechsel: Der Westen muss den Preis für eine Invasion in die Ukraine in die Höhe treiben, so gewaltig, dass er selbst Putin zu hoch ist. Und das geht nur, indem er die Konfrontation sucht – diplomatisch, wirtschaftlich und indirekt auch militärisch.“
Die Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschuldigt Russland, es strebe nach „Hegemonie über ganz Europa“. Sie vergleicht den „Herrschaftsanspruch“ Moskaus mit der Politik Hitlers, der 1936 den faschistischen Putsch in Spanien unterstützte und dann Österreich, die Tschechoslowakei und Polen zerschlug.
Die Antwort der FAZ lautet nukleare Abschreckung. Der Präsident der Atommacht Frankreich, Emmanuel Macron, habe den Partnern in der EU schon 2020 Gespräche über eine Nuklearstrategie angeboten. Dieses Angebot liege immer noch „auf dem Tisch“. Es sei mit schweren Risiken verbunden: „Am Ende könnte ein Konflikt an der Ostgrenze Lettlands dann zu einem Schlag gegen Paris führen.“
Daher, so die FAZ, „müssen erst einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass alle Teilnehmer bereit sind, dieses Risiko einzugehen“. Dafür müsse die Einigung Europas schnell voranschreiten. In diesem Sinn sprächen die Berliner Ampelkoalition vom Ziel eines „europäischen Bundesstaats“ und Macron vom „souveränen Europa“.
Die Zeit veröffentlichte einen Gastbeitrag von Ulrike Franke mit dem Titel „Die Härten der Welt sind nichts für Softies“. Die 34-jährige Mitarbeiterin des European Council on Foreign Relations, die zum Einsatz von Drohnen in westlichen Armeen promoviert hat, beklagt sich bitter, dass die Mitglieder ihrer Generation, die nun in Deutschland politisch aktiv würden, sich schwertäten mit „Machtpolitik“.
Es dominiere „eine Skepsis gegenüber der Geopolitik, der Unwille, in Begriffen von Macht und Interessen zu denken, und die Ablehnung des Militärs als Element, das geopolitischen Einfluss bestimmt“, jammert Franke. „Meine Generation hat eine geradezu romantische Idee internationaler Beziehungen entwickelt.“
Um sicherzugehen, dass unsere Interessen Gehör finden, folgert sie, „müssen wir mehr über Europas und Deutschlands Macht und Einflussmöglichkeiten nachdenken. Wir müssen die Geopolitik wieder erlernen.“ Dabei gehe es auch „um die Frage, wie die Bundeswehr ausgestattet und geführt werden muss, um auch als Abschreckungsmacht wieder ernst genommen zu werden“.
Es gibt kaum eine Zeitung oder Nachrichtensendung, die nicht Ähnliches vertritt. Die von der CIA und der US-Regierung verbreiteten Gerüchte über einen bevorstehenden russischen Angriff auf die Ukraine dominieren alle Nachrichten, als seien sie feststehende Tatsachen. Dabei sind sie etwa so glaubwürdig, wie die Falschmeldungen über Massenvernichtungswaffen, mit denen die USA 2003 den Krieg gegen den Irak rechtfertigten.
Auch das deutsche Außenministerin hat nach dem Regierungswechsel im Dezember den Ton gegenüber Russland weiter verschärft. Gestern drohte die grüne Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew erneut, Moskau werde im Falle einer Aggression einen „hohen Preis“ bezahlen. Es ist nicht zu erwarten, dass sie bei ihrem heutigen Antrittsbesuch in Moskau einen anderen Ton anschlägt.
Baerbock sagte zwar auch, sie strebe eine diplomatische Entschärfung der hochgefährlichen Situation an, und lehnte die ukrainische Forderung nach deutschen Waffenlieferungen ab. Doch diese Aufgabe übernehmen derzeit die USA, die die Ukraine massiv aufrüsten und offen damit drohen, in der Ukraine einen blutigen Guerillakrieg zu entfesseln, wie sie es in Syrien und zahlreichen anderen Ländern getan haben.
Laut einem Bericht der New York Times haben sowohl Verteidigungsminister Lloyd Austin wie der Vorsitzende des Generalstabs Mark Milley ihre russischen Amtskollegen in Telefongesprächen gewarnt, dass die CIA und das Pentagon einen blutigen Aufstand gegen einen russischen Einmarsch in der Ukraine unterstützen würden.
Auch der frühere Nato-Oberkommandierende James Stavridis drohte: „Sollte Putin mit einer größeren Streitmacht in die Ukraine einmarschieren, würde die militärische Unterstützung durch die USA und die NATO – Geheimdienst, Cyberspace, Panzer- und Luftabwehrwaffen, offensive Marineraketen – deutlich zunehmen.“
Der Krieg gegen Russland, den die Regierungen in Washington und Berlin und die unterwürfigen Medien vorbereiten, ist heller Wahnsinn. Es ist nicht anzunehmen, dass auch nur einer der Schreiberlinge, die jetzt Konfrontation, Machtpolitik und atomare Abschreckung predigen, auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hat, welche katastrophale Folgen der von ihnen verfolgte Kurs hätte.
In ihrem Eifer, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu dämonisieren, übersehen sie völlig, dass auch keine andere russische Regierung bereit und in der Lage wäre, das stetige Vorrücken der Nato hinzunehmen. Im Nachfolgestaat der Sowjetunion, die im Zweiten Weltkrieg den entscheidenden Beitrag zum Sieg über die Nazi-Barbarei leistete und 25 Millionen Menschen verlor, lebt die Erinnerung an diese schreckliche Erfahrung weiter.
Der russischen Öffentlichkeit ist nicht entgangen, dass im Nato- und EU-Mitglied Lettland jedes Jahr am 16. März, dem Tag der „Tag der Legionäre“, SS-Veteranen gefeiert werden, die auf Seite der Nazis unsägliche Verbrechen begangen haben, und dass in der angeblich demokratischen Ukraine Statuen von Nazi-Kollaborateuren wie Stepan Bandera errichtet werden, der ebenfalls an Massenmorden beteiligt war.
Auch die Mär vom russischen Hegemonialstreben stellt die Tatsachen auf den Kopf. Seit Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, der politische Ziehvater Wladimir Putins, vor dreißig Jahren den Warschauer Pakt und die Sowjetunion auflösten, hat die Nato Russland trotz gegenteiliger Versprechen immer weiter eingekreist. Mittlerweile steht sie direkt an der russischen Grenze.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Sie hat Jugoslawien zerstückelt und dabei die bestehenden Grenzen, die sie nun im Falle der Krim für unantastbar erklärt, grob missachtet. Um den Kosovo von Serbien abzuspalten, hat sie sogar einen völkerrechtswidrigen Krieg geführt und dabei mit Elementen zusammengearbeitet, die inzwischen wegen Menschheitsverbrechen und organisierter Kriminalität angeklagt oder verurteilt worden sind.
Auch gegen Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien haben die USA und ihre Nato-Verbündeten Krieg geführt, um ihre geostrategische Hegemonie zu verteidigen. Doch jeder dieser Kriege endete in einer Katastrophe. Dutzende Millionen mussten flüchten, Millionen starben, ganze Gesellschaften wurden zerstört. Selbst die afghanischen Taliban konnten die USA und ihre Verbündeten nicht besiegen, trotz Billionen, die sie in Waffen und Bomben investierten. Ein Krieg um die Ukraine würde zu einem noch weit größeren Desaster führen und große Teile Europas zerstören.
Auch in Osteuropa hat die Expansion der EU und der Nato nicht zu Wohlstand und Demokratie geführt. Stattdessen herrschen Niedriglöhne und Armut, während sich eine korrupte Elite maßlos bereichert. Die Regierungen in Polen und Ungarn missachten elementare demokratische Rechte inzwischen derart offen, dass sich selbst die Europäische Union zu Maßnahmen gezwungen sah.
Das Regime in Kiew wurde 2014 durch einen von den USA und Deutschland unterstützten Putsch an die Macht gebracht, der sich auf faschistische Milizen stützte.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem die deutsche Außenministerin Baerbock Kiew besuchte, kehrte auch Petro Poroschenko in das Land zurück und stellte sich einem Gericht. Der milliardenschwere Oligarch war 2014 durch den Putsch an die Macht gelangt und blieb fünf Jahre lang Präsident des Landes. Nun verfolgt ihn sein Nachfolger Wolodymyr Selenskyj wegen Hochverrats. Er soll während seiner Präsidentschaft, als er rechte Nationalisten unterstützte, gleichzeitig lukrative Geschäfte mit pro-russischen Separatisten gemacht haben, was Poroschenko bestreitet.
Der erbitterte Machtkampf zwischen den verschiedenen ukrainischen Oligarchencliquen ist ein weiterer Faktor, der die Kriegsgefahr erhöht. Die Kriegsvorbereitungen gegen Russland gleichen dem Spiel mit dem Feuer in einem Munitionsdepot. Nur eine herrschende Klasse, die völlig den Kopf verloren hat, kann eine derart abenteuerliche Politik verfolgen.
Letztlich sind sie das Ergebnis des Bankrotts eines kapitalistischen Systems, das von unlösbaren Widersprüchen zerrissen ist. Die Pandemie hat die sozialen Gegensätze auf die Spitze getrieben. Während weltweit mindestens 15 Millionen Menschen dem Virus zum Opfer gefallen und 163 Millionen wegen der Pandemie in Armut gestürzt sind, haben die reichsten zehn Milliardäre der Welt ihr Vermögen laut dem jüngsten Oxfam-Bericht auf 1,5 Billionen Dollar verdoppelt. Dagegen entwickelt sich zunehmender Widerstand der Arbeiterklasse.
Darauf reagiert die herrschende Klasse – wie 1914 und 1939 – mit ihrer irrsinnigen Kriegspolitik. Nur eine vereinte Bewegung der internationalen Arbeiterklasse, die gegen soziale Ungleichheit, Krieg und Kapitalismus und für eine sozialistische Gesellschaft kämpft, kann diesen Wahnsinn stoppen.