Paris und London drohen sich gegenseitig mit umfangreichen Handelskriegsmaßnahmen, die bereits ab der kommenden Woche in Kraft treten könnten. Der Grund ist ein eskalierender Streit über die Frage, wie nach dem Brexit die Fischereirechte im Ärmelkanal vergeben werden sollen.
Am Mittwoch stoppten französische Polizeiboote zwei britische Fischerboote vor der französischen Küste, eines davon wurde im Hafen von Le Havre festgesetzt. Als Erklärung hieß es, das Boot habe über keine Fischereilizenz verfügt, die Großbritannien von den französischen und EU-Behörden ausgestellt wird. Die französische Polizei drohte mit der Beschlagnahme des Fangs und einem Strafverfahren gegen den Kapitän des Fischerboots.
Tatsächlich handelt es sich um eine Vergeltungsmaßnahme gegen die britischen Behörden, die nur 15 von 47 französischen Anträgen auf Fischereilizenzen in britischen Gewässern bewilligt haben. Auch die Insel Jersey, eine britische Kronbesitzung vor der französischen Küste, hat nur 66 von 170 französischen Anträgen auf Fischereilizenzen bewilligt. Britische Regierungsvertreter behaupten, sie hätten etwa für 1.700 EU-Schiffe, was 97 Prozent aller Anträge entspricht, Fischereilizenzen ausgegeben. Doch der französische Fischereiminister Annick Girardin erwiderte, dass nur 90,3 Prozent der Anträge bewilligt wurden und dass nahezu ausschließlich Anträge von französischen Schiffen abgelehnt werden.
Angesichts dieser Angriffe von Paris und London auf die Fischer der jeweils anderen Seite des Ärmelkanals verschlechtern sich die Beziehungen der europäischen Mächte. Die Spannungen wegen des Brexit vermischen sich mit Frankreichs feindseliger Haltung gegen das australisch-britisch-amerikanische Bündnis AUKUS, das sich gegen China richtet und in dessen Rahmen Australien ohne Vorwarnung von einem Vertrag über den Kauf von französischen U-Booten im Wert von 56 Milliarden Euro zurückgetreten war. Der französische und britische Imperialismus schüren zudem jeweils Nationalismus, um von der Pandemie und der europaweit steigenden Zahl von Toten durch Covid-19 abzulenken.
Am Donnerstag drohte Girardin Großbritannien in einem Interview mit RTL mit umfangreichen Vergeltungsmaßnahmen, wenn London französischen Schiffen nicht bis zum 2. November die Fischereilizenzen ausstellt. Dazu gehören u. a. folgende Maßnahmen:
- verstärkte Überprüfung aller britischen Meeresfrüchte in Frankreich auf Krankheitserreger
- ein Anlegeverbot für britische Fischerboote in französischen Häfen, in denen ihr Fang verarbeitet wird
- die Einführung von Sicherheitskontrollen bei allen britischen Schiffe in französischen Gewässern
- verschärfte Sicherheits- und Zollkontrollen bei der Ladung aller britischen Lastwagen, die in Frankreich ankommen
Die französischen Maßnahmen sollen es Großbritannien praktisch unmöglich machen, Waren nach Frankreich zu exportieren oder Schiffe in französischen Gewässern fahren zu lassen. Über die Entscheidung der britischen Regierung im letzten Jahr, bei der sie plötzlich von dem 2019 ausgehandelten Vertrag mit der EU zurücktrat, erklärte Girardin gegenüber RTL: „Französische Fischer können seit neun Monaten nicht mehr arbeiten. Die Briten halten sich nicht an die Verträge, die sie selbst unterzeichnet haben. Uns reicht es.“
Französische Regierungsvertreter haben noch weitere aggressive Drohungen ausgestoßen. Paris brachte etwa einen Stopp der Stromexporte nach Großbritannien und Jersey, das 90 Prozent seines Stroms aus Frankreich bezieht, ins Spiel. Vermutlich würde dieser Schritt dazu führen, dass Schulen und Krankenhäuser auf der Insel den Betrieb einstellen müssten.
Der französische Europaminister, Clément Beaune, erklärte gegenüber dem rechtsextremen Fernsehsender CNews: „Jetzt müssen wir die Sprache der Gewalt sprechen, weil ich leider glaube, dass diese britische Regierung nichts anderes versteht. … Wir werden keine Toleranz zeigen und keine Ausnahmen machen. … Bei einem Partner, der die Regeln nicht respektiert, können wir nicht so tun, als gäbe es ein Klima des Vertrauens.“
Die britische Regierung bezeichnete die französischen Drohungen in einer Erklärung als „enttäuschend“ und kündigte entsprechende Vergeltungsmaßnahmen an, falls Frankreich seine Drohungen wahrmacht. Die britische Außenministerin, Liz Truss, bestellte am Freitag die französische Botschafterin, Catherine Colonna, ins Foreign Office, um sie am Samstag über „unverhältnismäßige“ Drohungen zu befragen.
Umweltminister George Eustice erklärte gegenüber Sky News: „Wir wissen nicht, was sie tun werden. Sie haben gesagt, sie würden diese Maßnahmen möglicherweise am Dienstag einführen, also werden wir abwarten, was sie tun. Aber wenn sie es machen, dann können wir das auch, und wir behalten uns das Recht vor, in angemessener Weise zu reagieren.“
Die eskalierenden gegenseitigen Angriffe auf wichtige wirtschaftliche Aktivitäten und internationalen Handel, von dem Millionen Arbeitsplätze abhängen, verdeutlichen die Irrationalität des kapitalistischen Nationalstaatensystems und bestätigen die prinzipielle Haltung der britischen Socialist Equality Party zum Brexit-Referendum im Jahr 2016. Sie forderte einen aktiven Boykott des Referendums und die Mobilisierung der Arbeiterklasse in Großbritannien und ganz Europa sowohl gegen den Nationalismus der Brexit-Befürworter als auch gegen die EU, die ein brutales Werkzeug des europäischen Finanzkapitals ist.
Das Brexit-Referendum hat den Streit um die Aufteilung der Fischereirechte ausgelöst, nachdem Großbritannien die EU verlassen hatte, doch die Politik der EU und die französischen Drohungen mit einem Handelskrieg sind ein immer schärferer Ausdruck der gleichen nationalistischen Tendenzen. Das zeigt sich besonders deutlich in der Corona-Pandemie. London und die Hauptstädte der EU haben eine nahezu identische Politik des „Lebens mit dem Virus“ verfolgt. Das Ergebnis waren eine Viertelmillion Tote in Großbritannien und 1,3 Millionen im Rest Europas.
Angesichts des weit fortgeschrittenen Zusammenbruchs der internationalen Beziehungen in Europa wächst rasch die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes. Bereits im Mai kam es zu einer Konfrontation zwischen Seestreitkräften, als London und Paris wegen eines früheren französisch-britischen Streits um Fischereirechte vor Jersey Kriegsschiffe in die umstrittenen Gewässer schickten.
Jetzt entwickelt sich der Fischereistreit zu einer diplomatischen Krise aller europäischen Staaten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron traf sich am Samstag mit US-Präsident Biden, um im Vorfeld des G20-Gipfels in Rom die amerikanisch-französischen Beziehungen zu reparieren, die durch den AUKUS-Vertrag beschädigt wurden.
Anfang des Monats hatte sich der französische Premierminister, Jean Castex, vor der Nationalversammlung zu dem Fischereistreit geäußert und „stärkere Unterstützung“ der EU gegen London eingefordert, um „dafür zu sorgen, dass Großbritannien die Bedingungen des Brexit-Abkommens einhält“. Er drohte mit einem Veto gegen das Inkrafttreten des Brexit-Abkommens und außerdem damit, „die bilateralen Beziehungen mit Großbritannien … in Frage zu stellen“.
Am Freitagmorgen veröffentlichten Deutschland, Italien, Spanien, die Niederlande, Belgien, Irland, Zypern, Griechenland, Portugal und Schweden eine gemeinsame Erklärung, in der sie Großbritannien aufforderten, auf die französischen Anträge auf Fischereilizenzen in einer Weise zu reagieren, die mit dem Brexit-Abkommen im Einklang stehen. Am Schluss hieß es: „Wir fordern das Vereinigte Königreich auf, schnellstmöglich zu reagieren und die fachliche Arbeit im Einklang mit dem Geist und dem Inhalt des Abkommens fortzusetzen.“
Britische Regierungsvertreter wiederum kündigten Pläne für ein Bündnis mit der so genannten Visegrad-Gruppe (Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn) gegen Frankreich an. Die rechte britische Zeitung Daily Express schrieb, London wolle ein „Bündnis mit ,gleichgesinnten‘ Nationen gegen das antibritische Frankreich“ aufbauen und zitierte eine hochrangige Quelle aus dem nahen Umfeld des britischen Außenministers Truss. Diese Person erklärte, Truss spreche „viel mit den baltischen Staaten [Litauen, Estland, Lettland] und der Visegrad-Gruppe“.
Weiter erklärte die Person, „die EU ist praktisch Frankreich“, und tat das Ganze mit der Bemerkung ab, Truss nehme es „ziemlich gelassen, egal was sie denken“. Die Person deutete an, Großbritannien werde Polen und andere Visegrad-Staaten dazu ermutigen, dem Beispiel des Brexit zu folgen: „Vielleicht sollten wir eine Beratungsstelle zum Austritt aus der EU gründen.“
Die Arbeiterklasse muss diese Äußerungen als Warnung vor den gefährlichen Spannungen verstehen, die den europäischen und den Weltkapitalismus zerreißen. Es ist wichtig, dass die Arbeiter die protektionistischen Angriffe auf Fischer und Arbeiter anderer Branchen, sowohl von Paris als auch von London, zurückweisen. Um eine neue Eskalation diplomatischer und militärischer Konflikte in Europa zu verhindern und die tödliche Pandemiepolitik der kapitalistischen Regierungen zu beenden, ist es notwendig, die Arbeiter in Großbritannien und ganz Europa in einem Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu vereinigen.