Österreich: Neuer Kanzler, alte Politik

Mit knapp 9 Millionen Einwohnern zählt Österreich nicht zu den bedeutendsten europäischen Staaten. Doch der Abgrund von Rücksichtslosigkeit, Korruption und Kriminalität, der sich mit der jüngsten Regierungskrise in Wien aufgetan hat, ist symptomatisch für den Zustand der bürgerlichen Demokratie in sämtlichen westlichen Ländern.

Bundeskanzler Sebastian Kurz trat am vergangenen Wochenende zurück, nachdem die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption das Bundeskanzleramt, das Finanzministerium und die Parteizentrale seiner konservativen ÖVP durchsucht hatte. Sie wirft dem Kanzler und seinen engsten Mitarbeitern schwere Untreue zu Lasten der Republik Österreich, Bestechlichkeit und Falschaussagen vor.

Konkret sollen Kurz und sein Team vor vier Jahren manipulierte Meinungsumfragen gekauft, geschönte Artikel in den Medien des Boulevard-Verlegers Wolfgang Fellner platziert und das Ganze mit Geldern aus dem Haushalt des Finanzministeriums finanziert haben, um dem damals 31-Jährigen den Weg an die Spitze der ÖVP und ins Kanzleramt zu bahnen. Das österreichische Gesetz sieht für solche Fälle der Untreue Freiheitsstrafen von einem bis zu zehn Jahren vor.

Kurz bestreitet alle Vorwürfe, obwohl sie faktisch gut belegt sind. Er trat auch erst zurück – oder „zur Seite“, wie er es nannte –, als der grüne Koalitionspartner drohte, andernfalls bei einem Misstrauensvotum mit der Opposition zu stimmen und die ganze Regierung zu Fall zu bringen.

Die Fäden der Regierungspolitik behält Kurz trotzdem in der Hand. Er bleibt Vorsitzender der ÖVP und hat sich nach seinem Rücktritt zusätzlich zum Klubobmann (Fraktionsvorsitzenden) seiner Partei im Nationalrat wählen lassen. In dieser Funktion nimmt er weiterhin an den Sitzungen der Regierung teil.

Auch seinen Nachfolger, den bisherigen Außenminister Alexander Schallenberg, hat Kurz persönlich ausgewählt. Schallenberg, der am Montag vereidigt wurde, hat aus Kurz Sicht drei Vorteile: Erstens zählt er zu seinen treuen Bewunderern und Anhängern, zweitens hat er keinerlei innenpolitische Erfahrung, und drittens verfügt der Karrierediplomat und Spross einer alten Adelsfamilie über gute Beziehungen und einen seriösen Ruf.

Beobachter gehen davon aus, dass Kurz ein Comeback versuchen wird, falls er das Ermittlungsverfahren übersteht, so wie ihm das vor zwei Jahren gelungen war. Damals war er über die sogenannte Ibiza-Affäre gestürzt, vier Monate später aber dank der Unterstützung der Grünen ins Kanzleramt zurückgekehrt.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft stützen sich unter anderem auf zahlreiche Chats, die sich auf dem Handy des Kurz-Vertrauten Thomas Schmid fanden, das im Rahmen einer anderen Ermittlung beschlagnahmt worden war. Sie liefern den Stoff für den Roman eines Autors vom Range eines Balzac, Zola oder – um näher an Österreich zu bleiben – Karl Kraus. Sie zeichnen das Bild einer verschworenen Truppe, die den Aufstieg ins Kanzleramt minutiös plant und vor keinem Mittel zurückschreckt, um ihr Ziel zu erreichen.

So intrigierte Kurz, obwohl er von 2013 bis 2017 selbst Minister in der Großen Koalition von SPÖ und ÖVP war, gegen Kanzler Christian Kern (SPÖ) und den Vizekanzler und ÖVP-Vorsitzenden Reinhold Mitterlehner, um beide zu stürzen. Zu seinen engsten Vertrauten gehörten dabei der junge ÖVP-Chef von Wien, Gernot Blümel, und Thomas Schmid, der als Spitzenfunktionär im Finanzministerium Zugriff auf den Staatshaushalt hatte. Schmid organisierte unter anderem die gefälschten Meinungsumfragen und Medienberichte, die Mitterlehner zu Fall brachten und wegen denen die Staatsanwaltschaft nun ermittelt.

Beide machten unter Kurz‘ Kanzlerschaft steil Karriere. Blümel wurde erst Kanzleramtschef und dann Finanzminister. Schmid wurde mit dem Chefposten der Staatsholding Öbag belohnt, was ihm ein Jahreseinkommen zwischen 400.000 und 610.000 Euro garantierte. Die Umstände seiner Ernennung zum Öbag-Chef sind inzwischen selbst Gegenstand staatsanwaltlicher Ermittlungen.

Die Chats der damaligen Verschwörer sind an Zynismus und Vulgarität kaum zu überbieten. So jubelte Schmid, nachdem es ihm gelungen war, Steuergelder locker zu machen, in einem Chat an Blümel: „Kurz kann jetzt Geld scheißen.“ Mitterlehner wird regelmäßig als „Oasch“ oder „Arsch“ bezeichnet. Bemühungen von Kern und Mitterlehner, sich auf gemeinsame Projekte zu einigen, wurden sabotiert, besonders wenn sie eine soziale Komponente haben.

Als die beiden planten, Erlöse aus der Bankenabgabe in Ganztagsschulen und Nachmittagsbetreuung zu stecken, schrieb Schmid an Kurz: „Mega Sprengstoff!“ Kurz erwiderte: „Gar nicht gut!!! Wie kannst du das aufhalten. Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“ Schmid bejahte und ergänzte: „Wenn Mitterlehner das macht – 1,2 Mrd für Kern mit einem Nachgeben bei allen Bildungspunkten, wäre das irre.“ Dabei ging es ihnen ausschließlich um politische Obstruktion. Das Programm, so Schmid, sei „nämlich echt geil“.

Interessanter als diese Intrigen, über die Publikationen wie Der Standard, Der Spiegel oder Falter ausführlich berichtet haben, ist die Frage, weshalb Kurz und seine Vertrauten damit Erfolg hatten. Denn ihre Pläne und Machenschaften waren zwar kriminell und perfide, aber weder besonders originell noch unbekannt. So hatte die linksliberale Wochenzeitung Falter bereits im September 2019 unter dem Titel „Projekt Ballhausplatz“ einen ausführlichen Artikel über die Machenschaften von Kurz und seinem Team veröffentlicht, der sich auf interne Dokumente stützte.

Die Antwort auf diese Frage führt zum eigentlichen Kern des Problems: der Fäulnis der bürgerlichen Demokratie. Gäbe es nur eine politische Partei, die ansatzweise die Bedürfnisse und Interessen der arbeitenden Bevölkerung vertritt, wären Kurz und seine verschworene Bande schnell an ihre Grenzen gestoßen. Doch eine solche Partei gibt es im etablierten politischen Spektrum nicht. Sie haben alle weit mehr Angst vor einer Bewegung der Arbeiterklasse als vor der rechtesten Politik.

Als vor drei Jahrzehnten der Kapitalismus in Osteuropa, der Sowjetunion und China wieder eingeführt wurde, jubelten die Medien über den Sieg von „Freiheit“ und „Demokratie“. Tatsächlich verlor das Kapital jede Hemmung. Im Osten raubten Oligarchen das gesellschaftliche Eigentum und brachten Regime an die Macht, die ebenso korrupt wie rechts sind. Im Westen bereicherte sich eine kleine Minderheit auf Kosten der großen Mehrheit. Inzwischen hat die Kluft zwischen arm und reich Dimensionen erreicht, die nicht mehr mit demokratischen Verhältnissen vereinbar sind.

Alle Parteien, die den Kapitalismus verteidigen, reagieren auf die wachsenden sozialen Spannungen mit einem scharfen Ruck nach rechts. Die Sozialdemokratie, in Österreich jahrzehntelang die dominierende politische Kraft, ist wie die mit ihr verbundenen Gewerkschaften zu einem Werkzeug der sozialen Konterrevolution geworden. Seit 1987 regierte die SPÖ nur noch in Koalitionen mit der ÖVP, bis sie schließlich 2017 ganz von der Macht verdrängt wurde.

Kurz bildete damals ein Bündnis mit der rechtsextremen FPÖ und verwirklichte deren Politik. Von den anderen Parteien gab es keinen Widerstand. Erst die Ibiza-Affäre, die den Vizekanzler und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache als käuflichen Politiker bloßstellte, brachte die Koalition mit der FPÖ zum Platzen.

Nun traten die Grünen in die Bresche und verhalfen Kurz zurück an die Macht, ohne dass sich an seiner Politik etwas änderte. In der Flüchtlingspolitik steht Österreich im flüchtlingsfeindlichen Europa auf dem äußersten rechten Flügel. Es unterhält enge Beziehungen zum rechten Orbán-Regime in Ungarn. 17,5 Prozent der Einwohner des Landes, über 1,5 Millionen Menschen, leben in Armut. Die Arbeitslosenrate liegt bei 10 Prozent. Auch in der Corona-Politik hat Österreich immer wieder den Vorreiter bei verfrühten und menschenverachtenden Öffnungen gespielt. Als Folge haben sich 763.000 Menschen infiziert und 11.100 sind gestorben.

An dieser Politik wird auch der Wechsel von Kurz zu Schallenberg nichts ändern. Der neue Kanzler hat bisher nur in einer Frage wirklich Farbe bekannt. Wenn es um die Migrationsfrage gehe, sei er ein „Überzeugungstäter“, sagte er dem Magazin Profil. Die Rettung von Kindern aus dem unmenschlichen griechischen Lager Moria hatte er bereits als Außenminister als „Geschrei um die Verteilung“ denunziert.

In seiner ersten Rede im Parlament betonte Schallenberg am Dienstag, er werde weiterhin eng mit Kurz zusammenarbeiten, alles andere wäre demokratiepolitisch absurd. Kurz‘ Minister, einschließlich Finanzminister Gernot Blümel, bleiben im Amt.

Die Rolle der österreichischen Grünen als Steigbügelhalter für eine ultrarechte Politik wirft auch ein Licht auf die Verhandlungen über eine Ampel-Koalition, die gegenwärtig in Deutschland stattfinden. Der voraussichtliche Bundeskanzler Olaf Scholz steht am rechten Flügel der SPD, die FDP sieht sich als Garant für den Schutz der Vermögen der Reichen und die Einhaltung der Schuldenbremse, und die Grünen versuchen, beide rechts zu überholen.

Nur eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse, orientiert an einem internationalen, sozialistischen Programm, kann dieser rechten Politik wirkungsvoll entgegentreten.

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