Die Lage der im Niemandsland an der Grenze zwischen Polen und Belarus gestrandeten Flüchtlinge wird immer dramatischer. Mindestens sechs Menschen sind inzwischen an Kälte und Hunger verstorben.
Dennoch hält die polnische Regierung an ihrer verbrecherischen Haltung fest, keine Flüchtlinge ins Land zu lassen. Der Ausnahmezustand wurde um weitere 60 Tage verlängert und schwerbewaffnete Soldaten riegeln die Grenze ab. Die Regierung in Warschau hat dabei volle Rückendeckung von der Europäischen Union, die in erster Linie die belarussische Regierung für die humanitäre Krise verantwortlich macht.
Tatsächlich tragen die polnische Regierung und Brüssel die volle Verantwortung für das entsetzliche Leid der im Grenzstreifen zwischen Polen und Belarus ausharrenden Flüchtlinge. Entgegen internationalen Verpflichtungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention weigern sich die polnischen Behörden, die Asylanträge der Flüchtlinge auch nur entgegenzunehmen.
Wie viele Flüchtlinge in dem morastigen Waldgebiet entlang der 418 Kilometer langen Grenzlinie zwischen Polen und Belarus bei Temperaturen um den Gefrierpunkt campieren, ist völlig unklar. Seitdem die polnische Regierung am 2. September den Ausnahmezustand über die Grenzregion auf einer Breite von drei Kilometern verhängt hat, ist Journalisten, Flüchtlingshilfsorganisationen und Anwälten jeder Zutritt streng verboten. Gleichzeitig hat die polnische Regierung eine Nachrichtensperre verhängt. In dem schmalen Streifen patrouillieren neben 2.500 schwer bewaffneten Soldaten 4.000 Grenzschützer und 600 Polizisten.
Daher dringen nur wenige Informationen über die dramatische Lage der Flüchtlinge an die Öffentlichkeit. Bekannt geworden ist vor allem ein Camp von 32 Flüchtlingen aus Afghanistan – darunter vier Frauen, ein 15-jähriges Mädchen und ein 17-jähriger Junge – die seit August nahe dem Dorf Unsnarz Gorny darauf warten, in der EU Schutz zu bekommen. Gefangen zwischen Stacheldrahtzäunen und umzingelt von bewaffneten Soldaten, riefen die verzweifelten Menschen den polnischen Soldaten auf Englisch immer wieder zu: „Wir wollen internationalen Schutz!“
Es handelt sich eine Gruppe von Flüchtlingen, für die die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Belege einer illegalen Zwangsrückführung vorgelegt hat. „Unsere Analyse zeigt unwiderlegbar, dass sich ihre Position Ende August über Nacht von Polen nach Belarus verschoben hat“, erklärte Eve Geddie, Direktorin des Amnesty-Büros für Europäische Institutionen. Sie sagte weiter, „Menschen, die um Asyl nachsuchen, zwangsweise zurückzuführen ohne ihre individuellen Schutzbedürfnisse zu prüfen, ist ein schwerer Verstoß gegen europäisches und internationales Recht.“
Die Flüchtlinge lagern bis heute schutzlos auf dem nackten Boden. Hilfsleistungen erhalten sie von polnischer Seite keine. Einer der Flüchtlinge berichtete der polnischen Stiftung Ocalenie vor zehn Tagen, dass sie praktisch kein Trinkwasser und nichts zu essen hätten. Nur die belarussischen Soldaten würden ihre eigenen Essensrationen mit den Afghanen im Niemandsland teilen. „Keiner sagt uns wie es weitergeht. Ich glaube, sie warten, bis hier jemand stirbt. Wenn sich hier nichts tut, dann werden in den nächsten Tagen Menschen vor Hunger und Kälte sterben.“
Eine 52-jährige Afghanin, die an einer schweren Nierenerkrankung leidet, flehte: „Habt Gnade mit uns! Bringt uns irgendwohin, nur holt uns hier weg! Wir bitten nur darum, dass ihr unser Leben rettet. Selbst wenn ihr uns keinen Schutz geben wollt, rettet wenigstens unser Leben!“
Bereits vor Ausrufung des Ausnahmezustands ließen die polnischen Grenzschützer eine Versorgung der Flüchtlinge im Niemandsland nicht zu. Wie die Tageszeitung berichtete, wollten Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes den Flüchtlingen einen Topf heiße Suppe und mehrere Packungen Pizza zukommen lassen. Doch die Grenzschützer ließen das Essen nicht durch, das danach verschimmelte. „Befehl von oben!“ erklärte ein Grenzschützer seine harte Haltung.
Eine weitere Gruppe von 26 syrischen Flüchtlingen sitzt nahe Terespol fest, ebenfalls von belarussischen und polnischen Soldaten mit Waffen im Anschlag umringt. Zu der Gruppe gehören drei Mädchen im Alter von sechs, sieben und elf Jahren. Auch diese Gruppe ist vollständig unversorgt und muss sich eine Trinkflasche Wasser teilen.
Mittlerweile sind mindestens sechs Flüchtlinge dieser menschenverachtenden Politik zum Opfer gefallen. Am 19. September wurden die ersten vier irakischen Flüchtlinge gefunden, die an Hunger, Kälte und Erschöpfung gestorben sind. Am 24. und 27. September wurden jeweils ein weiterer Flüchtling tot aufgefunden.
Insbesondere der Fall der am 19. September wenige Meter hinter der Grenze auf belarussischem Gebiet tot aufgefunden Irakerin macht die Brutalität, mit der die polnischen Soldaten und Grenzpolizisten gegen die Flüchtlinge vorgehen, deutlich.
Wie die Tageszeitung berichtete, war die junge Frau mit ihrem Mann und ihren drei Kindern bereits auf polnischer Seite und wollte in einem Dorf bei einer Familie, die sie aufgenommen hatte, die nassen Jacken und Schuhe trocknen. Doch die über den Grenzübertritt verständigte Grenzpolizei trieb die Familie barfuß wieder in Richtung belarussischer Seite. Als die Frau vor Erschöpfung zusammenbrach, wurden ihr Mann und ihre Kinder über die Grenze getrieben und ihr leblose Körper einige Meter über die Grenze geschleift, wo sie dann umringt von ihrer Familie gefunden wurde.
Die polnische Regierung macht das belarussische Regime von Alexander Lukaschenko für die dramatische Situation an der Grenze verantwortlich. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von der rechtspopulistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) erklärte, „die Menschen werden von Lukaschenko für seine Außenpolitik instrumentalisiert. Das ist der Versuch, eine große europäische Migrationskrise auszulösen“. In einer gemeinsamen Erklärung der Regierungschefs von Polen und den baltischen EU-Mitgliedsstaaten Estland, Lettland und Litauen heißt es, der Andrang von Migranten an der östlichen Grenze der EU sei von Lukaschenko „geplant und systematisch organisiert“.
Die Weigerung der polnischen Regierung, die Asylbegehren der Flüchtlinge auch nur anzuhören, begründet der polnische Innenminister Mariusz Kaminski mit angeblichen Verbindungen der Flüchtlinge zu islamistischen und terroristischen Organisationen. Laut Kaminski hätten „kompetente Behörden“ festgestellt, dass von 200 überprüften Flüchtlingen, die in Polen aufgegriffen worden waren, 50 „eine kriminelle Vergangenheit, einschließlich Verbindungen zu Terrorgruppen“ hätten. „Das sind junge, kampfgeschulte Männer, die sich an bewaffneten Formationen im nahen Osten beteiligt hatten“, behauptete er weiter.
Belege dafür hat Kaminski nicht vorgelegt. Er verstieg sich aber zu Anschuldigungen gegenüber den Flüchtlingen, die sich nicht von der Hetze eines faschistischen Regimes unterscheiden. Er behauptete, dass die überprüften Flüchtlinge in Verbindung zu Enthauptungen von Geiseln, Kindesmisshandlungen und Pädophilie stünden und Sex mit Tieren hätten. Er legte dazu Fotomaterial vor, dass angeblich von Mobiltelefonen der Flüchtlingen stammte, und erklärte die Flüchtlinge „seien eine ernsthafte Bedrohung für die nationale Sicherheit Polens“. Die „Beweise“ entpuppten sich jedoch schnell als fabriziert und gefälscht.
Die falschen Anschuldigungen werden dazu benutzt, ein harsches Asylregime einzuführen, dass jedem Flüchtling die Aufnahme eines Asylverfahrens schlichtweg verweigert. Stattdessen werden die schutzsuchenden Menschen einfach illegal wieder über die Grenze nach Belarus getrieben. Innenminister Kaminski erklärte, dass es seit Anfang August „mehr als 9.400 versuchte illegale Grenzübertritte“ gegeben habe. 1.200 Flüchtlinge sind dabei in bewachte Auffanglager gebracht worden und in 8.200 Fällen sei ein Übertritt verhindert worden.
In den meisten Fällen handelte es sich dabei um illegale Rückführungen. „Die Situation ist vollkommen irregulär und vorschriftswidrig. Und mit Beunruhigung beobachten wir, dass mit den Regeln des Ausnahmezustands der Zugang noch weiter erschwert und verunmöglicht wird. Wir bemühen uns, wenigstens für uns und einige andere Organisationen Zutritt zu erlangen“, erklärte Rafal Kostrzynski vom polnischen Ableger des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR).
Doch die polnische Regierung will den Ausnahmezustand in der Grenzregion um weitere 60 Tage verlängern und damit weiter Hilfsorganisationen und Journalisten ausschließen. Die Flüchtlinge würden dann weiter ohne Nahrung und Schutz bleiben und den Misshandlungen der Soldaten und Grenzpolizisten weiter hilflos ausgeliefert sein.
Diese barbarische Politik der Flüchtlingsabwehr durch die polnischen Behörden hat die volle Rückendeckung der Europäischen Union. Ein Sprecher der EU-Kommissarin für Migration, Ylva Johannson, betonte, die Zusammenarbeit mit Polen sei von großer Bedeutung, da der Schutz der Außengrenzen im Interesse aller 27 EU-Mitgliedsstaaten liege. Zynisch fügte er hinzu, die Kommissarin habe „noch einmal die Bedeutung des Schutzes von EU-Werten und Grundrechten unterstrichen“.
Tatsächlich macht auch Johannson Lukaschenko für die Krise in der Grenzregion verantwortlich und diffamiert Flüchtlinge als Terroristen. „Wir sollten uns da nichts vormachen. Was Lukaschenko da macht, kann durchaus auch dazu führen, dass Terroristen und andere Kriminelle in die EU kommen. Deshalb muss jeder, der in die EU kommt, registriert und überprüft werden.“
Besonders zynisch agiert die deutsche Regierung, die als zentrale EU-Macht eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der mörderischen Abschottungspolitik spielt. Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert heuchelte am Freitag zwar, „dass schnell humane Lösungen für diese Menschen gefunden werden“ müssten, die „im Einklang mit europäischem und internationalem Recht stehen“. Dann schob er die Verantwortung ebenfalls der Regierung in Belarus zu, da diese „Flüchtlinge und Migranten instrumentalisiert“, was „völlig inakzeptabel“ sei.