Der dreiwöchige Streik bei Teigwaren Riesa und die Sackgasse der gewerkschaftlichen Perspektive

Letzte Woche hat die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) mit einem Tarifabschluss einen dreiwöchigen Streik bei Teigwaren Riesa beendet. Die rund 150 Beschäftigten beim ostdeutschen Marktführer für Nudeln hatten ihre Kampfbereitschaft bewiesen, um das Ende ihrer Billiglöhne einzuleiten, die knapp über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen.

Teigwarenfabrik in Riesa (Bild: Radler 59 / CC BY-SA 4.0)

Doch der jetzt von der NGG ausgehandelte Abschluss ist für die Beschäftigten nicht der Erfolg, den die NGG ausruft. „Happy End für Riesa Nudeln, die Bänder laufen wieder!“, überschrieb die NGG ihre Mitteilung über den Abschluss. „Happy“ kann die Eigentümerfamilie Freidler sein, weil die Bänder endlich wieder laufen.

Je näher man sich den Abschluss anschaut, desto weniger glücklich erscheint er für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Die NGG vereinbarte eine stufenweise Anhebung der Löhne innerhalb der kommenden sieben Monate um einen Euro in der Stunde. Für eine Vollzeitkraft erhöhe sich der Monatslohn damit um 173 Euro, so die NGG. In der untersten Tarifgruppe würden die Löhne um 10,1 Prozent steigen, in der Verpackung, in der die meisten Beschäftigten arbeiten, beliefe sich die prozentuale Erhöhung auf 8,7 Prozent, bei Anlagenfahrerinnen und Anlagenfahrern auf 7,6 Prozent. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von einem Jahr bis zum 31. August 2022.

Doch die von der NGG ins Feld geführten Löhne sind Niedriglöhne, die nun geringfügig erhöht werden. Arbeiterinnen und Arbeiter in der untersten Tarifgruppe kommen auch noch in sieben Monaten auf weniger als 1900 Euro Bruttomonatslohn bei einer 40-Stunden-Woche. Sie bekamen bisher nur 9,94 Euro pro Stunde, und damit nur 34 Cent mehr als der bundesweite Mindestlohn. Nun steigt ihr Stundenlohn um einen Euro auf 10,94 Euro bis nächstes Jahr. In etwa der gleichen Zeit steigt der Mindestlohn um 8,9 Prozent auf 10,45 Euro. Dann beträgt die Lücke zum Mindestlohn bei diesen Beschäftigten des Nudelherstellers nicht mehr 34, sondern 49 Cent!

Auch bei den etwas besser bezahlten Beschäftigten sind die Erhöhungen auf den zweiten Blick weniger beglückend. Die meisten Beschäftigten erhalten nächstes Jahr rund 2160 Euro brutto, die Anlagenfahrerinnen und -fahrer ca. 2450 Euro. Selbst diese Löhne bewegen sich unter und an der Grenze der offiziellen Niedriglohnschwelle.

Die steigende Inflationsrate von aktuell 3,9 Prozent frisst zudem einen Großteil der Erhöhung auf. Bedenkt man, dass Familien mit einem derart geringen Einkommen gezwungen sind, den Großteil ihres Geldes für Miete und Lebensmittel auszugeben, schmälert das noch einmal die tatsächliche Lohnerhöhung, denn dort lagen die Preissteigerungen zuletzt höher als die allgemeine Inflationsrate, nämlich bei 4,5 bis 5 Prozent.

Die jetzt ausgehandelten Erhöhungen schließen noch lange nicht die Lohnlücke zu den westdeutschen Löhnen, sondern zementieren die Niedriglöhne.

Über 30 Jahre nach dem Anschluss der DDR und der Restaurierung kapitalistischer Verhältnisse verdienen die Riesaer durchschnittlich rund 700 Euro weniger als die Arbeiter am baden-württembergischen Stammsitz Trochtelfingen. 1993 hatte das kleine „Familienunternehmen“ Alb-Gold Teigwaren das Riesaer Werk von der Treuhand übernommen. In wenigen Jahren wurde es mit Riesaer Nudeln zum Marktführer in Ostdeutschland und mit über 20.000 Tonnen Jahresproduktion zweitgrößter Nudelproduzent in ganz Deutschland.

Grund dafür waren Billiglöhne, die sogar noch unter dem ohnehin niedrigen ostdeutschen Niveau lagen. So verdienten Arbeiter in Riesa 2018 nur maximal 11,50 brutto. Das heißt für viele Beschäftigte, trotz jahrzehntelangem Arbeiten in rollenden Schichten, Altersarmut. Die Eigentümerfamilie Freidler verzeichnete hingegen jährliche Millionengewinne. 2019 wurde eine Rendite von 7,7 Prozent verbucht. Im selben Jahr war das Maß bei den Arbeitern voll und der Widerstand der Beschäftigten begann, sich Bahn zu brechen.

Die Riesaer Belegschaft war bereit, für eine Anpassung ihrer Löhne an das westdeutsche Niveau zu kämpfen. Sie wandten sich in ihrem Vorhaben der NGG zu. 95 Prozent der Beschäftigten beteiligten sich an der Wahl des ersten Betriebsrats, die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder wuchs innerhalb eines Jahres von 4 auf 123.

Doch mit der NGG steckten die Arbeiter auch in der gewerkschaftlichen Zwangsjacke. Die hohe Kampfbereitschaft der Belegschaft mündete in fünf 24-Stunden-Streiks und zwei halbtägigen Streiks, bis die Geschäftsführung im Mai 2019 die Übernahme eines Tarifvertrags und des sächsischen Manteltarifvertrags schrittweise bis 2020 zustimmte.

Betriebsratschef Frank Meyer und die NGG verkauften diesen Kampf als großen Erfolg. In Wirklichkeit waren die Niedriglöhne auch im sächsischen Tarifvertrag der NGG festgeschrieben. Unterstützung erhielt die NGG von der Linkspartei und dem DGB. Letzterer zeichnete den Betriebsrat sogar Anfang dieses Jahres mit dem sächsischen Mitbestimmungspreis aus.

Tatsächlich wurde bereits dieser erste Kampf der Riesaer ausverkauft. Die mickrige Erhöhung auf 11,80 Euro ab Januar 2019 und weitere 4 Prozent Anfang dieses Jahres wurde als „erster Schritt in die richtige Richtung“ schöngeredet.

Mit der Übernahme des Manteltarifvertrags hatte die NGG jedoch de facto die mieseren Bedingungen im Osten durchgesetzt. Anstatt die große Kampfbereitschaft in einem Erzwingungsstreik zu bündeln und eine Angleichung an die Westlöhne zu fordern, hatten Betriebsrat und NGG mit ihrer sattsam bekannt Taktik der Nadelstiche die Kampfkraft der Belegschaft geschmälert und Hungerlöhne für weitere zwei Jahre sanktioniert, die nur knapp über dem Mindestlohn lagen.

Dieses Vorgehen setzte die NGG auch in der jetzigen Auseinandersetzung fort. Der erste 16-stündige Streik Ende Juli wurde beendet, obwohl es keinerlei Angebote seitens des Managements gab. Es wurde weiterverhandelt.

Im August folgten wöchentliche 24-Stunden-Streiks. Nachdem die Chefetage erst nur von einer Einmalzahlung sprach, bot sie Anfang September dann die schrittweise Erhöhung um einen Euro an, bei einer Tariflaufzeit bis zum 31. März 2023. Konfrontiert mit der weiterhin hohen Kampfbereitschaft sah sich die NGG gezwungen, das dreiste Angebot für eine Reallohnsenkung abzulehnen und weitere 50 Cent Erhöhung für 2022 zu fordern. In Anbetracht dessen, dass bis Juli 2022 der gesetzliche Mindestlohn um 85 Cent steigt, kann man das nur als Betrug an der Belegschaft bezeichnen.

Doch kaum eine Woche später stimmte die NGG dem nun ähnlich miesen Ergebnis zu und redet bzw. schreibt es auf ihrer Website schön.

Der Streik bei Riesaer Nudeln macht einige grundlegende Entwicklungen deutlich.

Die große Kampfbereitschaft zeigt die enorme soziale Wut, die sich 30 Jahre nach der Restaurierung kapitalistischer Verhältnisse in Ostdeutschland als Billiglohn-Standort angestaut hat. Wie die NGG selber betont, ist die Kampfbereitschaft bei Riesa nur ein Beispiel unter vielen. Bei den Abschlüssen beim Ölwerk Cargill in Riesa, Frosta-Tiefkühlwerk in Lommatzsch, Fruchtsafthersteller Sonnländer in Rötha und weiteren Betrieben standen die Billiglöhne im Osten im Fokus. Auch hier gab es eine große Kampfbereitschaft.

Ebenso waren sie Thema bei den im Juli abgeschlossenen Tarifverhandlungen der IG Metall oder sind es in den noch laufenden Verhandlungen von Verdi für den Einzelhandel in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Gewerkschaften isolieren all diese Kämpfe gegen miese Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne im Osten voneinander, ebenso wie von den Kämpfen in Westdeutschland und international. So versuchen die Gewerkschaften, die Arbeitskämpfe einen nach dem anderen auszuverkaufen.

Die aktuelle Streikwelle in Ostdeutschland fällt zusammen mit einer internationalen Rückkehr des Klassenkampfes. 30 Jahre nach dem Ende des Stalinismus in Osteuropa und dem angeblichen „historischen Sieg des Kapitalismus“ ist die Lebenswirklichkeit für Milliarden Arbeiter unerträglich geworden. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung dramatisch verschärft. Während die Finanzoligarchie ihre Vermögen parallel zu den Todeszahlen steigert, sind Milliarden Menschen Tod, Krankheit und den sozialen Folgen der Pandemie ausgeliefert.

Die Vierte Internationale hat daher die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees ins Leben gerufen, um diese Kämpfe zu vereinen und zu koordinieren und eine globale Gegenoffensive der Arbeiterklasse einzuleiten. Die Arbeiterklasse ist bereit zu kämpfen. Aber sie wird von reaktionären bürokratischen Organisationen gefesselt, die jeden Ausdruck von Widerstand unterdrücken. In jeder Fabrik und in jedem Betrieb müssen daher von den Gewerkschaften unabhängige Aktionskomitees aufgebaut werden.

Wir rufen auch die Arbeiter bei Teigwaren Riesa auf, ein solches Aktionskomitee unabhängig von der NGG aufzubauen, um die Angleichung der Löhne in Ost und West zu erzwingen. Sie haben große Kampfbereitschaft und Mut bewiesen, nun muss der nächste Schritt folgen. Die World Socialist Website und die Sozialistische Gleichheitspartei wird sie nach Kräften unterstützen. Nehmt Kontakt zu uns auf.

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