Russlandpolitik spaltet die EU auf dem Gipfel in Brüssel

Während des zweitägigen Gipfeltreffens der EU-Regierungschefs in Brüssel, bei dem die Vorgehensweise der Europäischen Union gegenüber der Pandemie bestätigt wurde, gerieten die Regierungschefs in außenpolitischen Fragen hart aneinander, vor allem hinsichtlich Russlands.

Am Donnerstagabend veröffentlichte die EU ein vorläufiges Kommuniqué, in dem sie ihre Pandemiepolitik in orwellscher Rhetorik beschönigte: „Der Europäische Rat begrüßt die guten Fortschritte bei den Impfungen und die allgemeine Verbesserung der epidemiologischen Lage“. Und sie bekräftigte „das Bekenntnis der EU zu internationaler Solidarität als Antwort auf die Pandemie“.

In Wirklichkeit sind in Europa mehr als 1,1 Millionen Menschen gestorben, weil die EU wissenschaftlich fundierte Pandemiemaßnahmen abgelehnt hat. Hunderte Millionen Arbeiter und Schüler wurden selbst während der tödlichsten Wochen der Pandemie weiterhin in Betriebe und Schulen geschickt. Jetzt drängen die EU-Staaten auf das Ende aller Distanzierungsmaßnahmen, obwohl sich die Delta-Variante ausbreitet und somit eine neue Infektionswelle droht. Zugleich enthalten die EU-Staaten dem globalen Impfprogramm Covax dringend benötigte Impfstoffdosen vor: Obwohl europaweit bereits 325,1 Millionen Dosen verabreicht wurden, haben die EU-Mächte bis Ende 2021 lediglich eine Lieferung von 100 Millionen Dosen versprochen.

Im Zentrum des Gipfels stand jedoch die Planung einer aggressiven imperialistischen Strategie, die sich gegen Flüchtlinge und Russland richtet. Schon vor Beginn des Gipfeltreffens mehrten sich die Konflikte über die Beziehungen zwischen der EU und Moskau nach dem bilateralen Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Joe Biden und Russlands Präsidenten Wladimir Putin Anfang Juni.

Am Mittwoch war es im Schwarzen Meer zwischen Russland und Großbritannien zu einem gefährlichen Zwischenfall gekommen. Russische Flugzeuge hatten Bomben vor einem britischen Zerstörer abgeworfen, der beschuldigt wird, in russische Hoheitsgewässer im Schwarzen Meer eingedrungen zu sein. Berlin und Paris schlugen daraufhin vor, die Verhandlungen zwischen der EU und Russland wieder aufzunehmen, die nach dem von der Nato unterstützten Regimewechsel in der Ukraine 2014 ausgesetzt worden waren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte den Vorschlag am Donnerstagmorgen vor dem deutschen Bundestag ein: „Es reicht nicht aus, wenn der amerikanische Präsident Joe Biden mit dem russischen Präsidenten spricht; das begrüße ich sehr, aber die Europäische Union muss hier auch Gesprächsformate schaffen.“ Mit Blick auf die Kriege in Libyen und Syrien fügte sie hinzu: „Gleichzeitig müssen wir eine Agenda gemeinsamer strategischer Interessen definieren, zum Beispiel im Bereich des Klimaschutzes, aber natürlich auch in den Bereichen von Frieden und Sicherheit.“

Der französische Präsident Emmanuel Macron unterstützte ihre Äußerungen, als er am Donnerstag in Brüssel ankam. „Dialog ist notwendig, um den europäischen Kontinent zu stabilisieren, aber er muss fest sein, da wir nichts von unseren Werten oder Interessen aufgeben werden“, so Macron. „Wir dürfen uns nicht auf eine rein defensive Haltung gegenüber Russland und eine fallbasierte Herangehensweise beschränken; schließlich haben wir erlebt, dass es zwischen Präsident Biden und Präsident Putin legitimerweise zu einer strukturierten Diskussion kam.“

Der Vorschlag ging den meisten EU-Staaten zu weit und wurde vor allem von den osteuropäischen Regierungen rundheraus abgelehnt. Die polnische Regierung forderte, Putin müsse zuerst die Forderungen der EU erfüllen, vor allem müsse er das Minsker Abkommen mit der Ukraine umsetzen. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda erklärte gleich zu Beginn des EU-Gipfels, es wäre ein „schlechtes Signal“, bereits vorher auf Russland zuzugehen: „Das wäre, als wenn man mit dem Bären reden wollte, um einen Teil des Honigs zu retten.“

Stattdessen forderte die EU einen härteren Kurs gegenüber Russland. In ihrem Kommuniqué steht, dass es einer „entschlossenen und koordinierten Reaktion der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf jedwede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivitäten Russlands unter umfassendem Einsatz des gesamten der EU zur Verfügung stehenden Instrumentariums und in Abstimmung mit den Partnern bedarf". Zu diesem Zweck ersuche „der Europäische Rat die Kommission und den Hohen Vertreter auch, Optionen für zusätzliche restriktive Maßnahmen einschließlich Wirtschaftssanktionen vorzulegen.“

In Wirklichkeit hat Merkels und Macrons Vorschlag nichts mit einer friedlicheren Herangehensweise zu tun. Er dient der Entwicklung einer von den USA unabhängigeren Außen- und Militärpolitik gegenüber Russland, um die EU gegen ausländische Rivalen zu stärken und ihre Politik der Austerität und „Herdenimmunität“ im Inland durchzusetzen.

Aus ihrer Sicht genügt es jedoch nicht, sich „hinterher vom Präsidenten der Vereinigten Staaten über die Verhandlungen unterrichten zu lassen“, wie Merkel erklärte. Die EU müsse „Manns und Frau genug sein, ihre Position in direkten Gesprächen durchzusetzen“.

Berlin und Paris verschärfen den militärischen Druck auf Russland. Frankreich wird an der riesigen Marineübung Sea Breeze im Schwarzen Meer teilnehmen, die vom 28. Juni bis 10. Juli andauern soll. Organisiert vom US-amerikanischen und ukrainischen Militär werden 5.000 Soldaten, 32 Schiffe und 40 Flugzeuge aus dutzenden Staaten daran teilnehmen.

Diese Woche beteiligt sich die deutsche Luftwaffe erstmals an einer Nato-Luftraum-Überwachungsmission über dem Schwarzen Meer. Zwei Eurofighter vom taktischen Luftwaffengeschwader 71 („Richthofen“) landeten am Donnerstag auf dem rumänischen Luftwaffenstützpunkt Mihail Kogălniceanu in Konstanza. Von dort aus sollen sie bis zum 9. Juli zusammen mit britischen Streitkräften im Luftraum über dem Schwarzen Meer Patrouille fliegen.

Während die EU ihre militärischen Drohungen verschärft, mehren sich auch die Spaltungen innerhalb der Mitgliedsstaaten. Der Spiegel schrieb über das Unvermögen von Paris und Berlin, sich Unterstützung für ihren Vorschlag zu sichern: „Die Niederlage Merkels und Macrons reicht dennoch über den Tag hinaus... Auch der Umgang mit Ungarn entzweit die Union: Aus dem Riss zwischen Ost und West droht ein Abgrund zu werden.“

Neben Ungarn und Portugal – das derzeit turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft innehat – verweigerten noch acht weitere osteuropäische Staaten (Bulgarien, Kroatien, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien und die Tschechische Republik) auf dem Gipfel die Unterschrift unter einen gemeinsamen Brief, der Ungarn wegen seines neuen LGBT-feindlichen Gesetzes angreift. Dieses Gesetz verbietet in Schulen den Einsatz jeglichen Unterrichtsmaterials, das als „förderlich“ für Homosexualität betrachtet wird. Reuters bezeichnete dies als den „seit Jahren schwersten persönlichen Zusammenstoß zwischen Spitzenpolitikern des Blocks“.

Die EU reagiert auf ihre brisanten inneren Spaltungen und den wachsenden sozialen und politischen Widerstand von Arbeitern und Jugendlichen mit dem kontinuierlichen Aufbau eines Polizeistaats und mit militärischer Aufrüstung.

Mit Bezug auf das Mittelmeer und Afrika fordert die EU eine engere Zusammenarbeit mit regionalen Verbündeten, um Migranten aufzuhalten, ihnen das Recht auf Asyl zu verweigern und in Lager zu sperren: „Eine für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern als integraler Bestandteil des auswärtigen Handelns der Europäischen Union [wird] ausgebaut.“ Dieses Vorgehen hat zum Bau von Internierungslagern u.a. in der Türkei, in Libyen, Bosnien, Griechenland und Spanien geführt, in denen Hunderttausende Flüchtlinge unter unerträglichen Bedingungen festgehalten werden.

Die EU bezeichnet die Türkei als wichtigen Partner gegen Flüchtlinge und lobt sie für ihre „Vorbereitungsarbeiten für die Dialoge auf hoher Ebene mit der Türkei über Themen von beiderseitigem Interesse wie Migration, öffentliche Gesundheit, Klima und Terrorismusbekämpfung sowie regionale Fragen“.

Weiter heißt es: „Der Europäische Rat fordert die Kommission auf, unverzüglich förmliche Vorschläge für die weitere Bereitstellung von Finanzmitteln für syrische Flüchtlinge und die Aufnahmegemeinschaften in der Türkei, Jordanien, Libanon und anderen Teilen der Region“ vorzulegen und begrüßt die „Deeskalation im östlichen Mittelmeerraum“, wo es zu Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und Griechenland sowie Frankreich gekommen war, sowie die neuen Zollabkommen mit der Türkei.

Das Kommuniqué der EU unterstützt auch Frankreichs Krieg in Mali und seine Zusammenarbeit mit der Militärjunta, die im August 2020 durch einen Putsch in Bamako eingesetzt wurde. Es fordert „die malische Übergangsregierung erneut auf, die Übergangscharta vollständig umzusetzen“ und zur nominellen zivilen Herrschaft zurückzukehren.

Zuvor waren bei Ichagara in der nordmalischen Region Gao bei einem Autobombenanschlag 12 deutsche Soldaten sowie ein weiterer Soldat eines noch unbekannten Landes verwundet worden, die die französischen Truppen in Mali unterstützen. Nur vier Tage zuvor wurden bei einem weiteren Autobombenanschlag bei Kaigourou sechs französische Soldaten verwundet. Laut der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer wurden drei der deutschen Soldaten schwer verwundet.

Dennoch lobte die EU ihre Missionen in Afrika zur Unterstützung Frankreichs, darunter „die Fortsetzung der GSVP-Missionen der EU und das Engagement in der Taskforce ‚Takuba‘“. An Letzterer sind neben Frankreich Soldaten aus 12 europäischen Staaten beteiligt.

Der Gipfel endete mit einer Diskussion hinter verschlossenen Türen über den Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“, eines der zahlreichen Rettungspakete, die im Zuge der Pandemie gemeinsam mehr als zwei Billionen Euro an die Banken und Konzerne überreichen werden. Diese Geldspritzen sollen durch Sparmaßnahmen zu Lasten der Arbeiterklasse gegenfinanziert werden, etwa durch die neuen Arbeitsmarktreformen in Spanien und die Rentenkürzungen in Frankreich, die bereits in Vorbereitung sind.

Das Gipfeltreffen hat ein weiteres Mal unwiderlegbare Beweise für den reaktionären Charakter der EU geliefert und die Notwendigkeit aufgezeigt, Arbeiter in ganz Europa in einem Kampf zum Sturz der EU zu vereinen und zu mobilisieren und an ihrer Stelle die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa aufzubauen.

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