Das neue Antiterrorgesetz, das die Schweiz am vergangenen Wochenende angenommen hat, ist das schärfste Polizeigesetz von ganz Europa. Seine Annahme in einer Volksabstimmung macht deutlich, wie dringend es ist, eine echte Arbeiterpartei in der Schweiz aufzubauen, die prinzipiell die demokratischen Rechte der arbeitenden Bevölkerung verteidigt.
Das „Bundesgesetz über polizeiliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus“ (PMT) missachtet krass die Prinzipien des sogenannten „demokratischen Rechtsstaats“. Es setzt sich zum Beispiel über die bürgerlich-demokratische Gewaltenteilung hinweg, denn es erlaubt es der Bundespolizei, auch ohne hinreichende Beweise für ein Strafverfahren und ohne Anordnung eines Richters gegen so genannte „Gefährder“ einzuschreiten.
Das Gesetz missachtet auch das Prinzip des persönlichen Datenschutzes, denn Polizisten dürfen „besonders schützenswerte Personendaten“ abrufen und untereinander austauschen. Darunter fallen unter anderem ausdrücklich auch „Daten über religiöse und weltanschauliche Ansichten oder Tätigkeiten“.
Die vorgesehenen Polizeimaßnahmen reichen von der Auflage, sich regelmäßig bei einer Behörde zu melden, über ein Kontaktverbot, Ausreiseverbot und Passentzug bis hin zu neun Monaten Hausarrest. Sie können schon gegen Jugendliche ab 15 und teilweise gegen Kinder ab 12 Jahren verhängt werden, die in den Augen der Polizei als „Gefährder“ erscheinen. Für Personen ohne Schweizer Pass ist auch die „Ausschaffungshaft“, bzw. Abschiebehaft vorgesehen. Und wer die Anordnungen der Polizei missachtet, kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden.
Das Gesetz wird offiziell mit dem Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion in Frankreich, bzw. mit „den Anschlägen in Paris im Jahr 2015“ rechtfertigt. Es soll der Schweizer Polizei die Möglichkeit verschaffen, „präventiv gegen terroristische Gefahren vorzugehen“. Aber es definiert „terroristische Aktivitäten“ derart schwammig, dass darunter schon unbotmäßige Jugendliche und soziale Proteste fallen könnten. Insbesondere könnte es auf politisch Engagierte Anwendung finden, die ausdrücklich auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Zustände hinarbeiten.
In dem Gesetz heißt es: „Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.“
Diese Terrorismus-Definition ist hochproblematisch und wird von juristischen Experten scharf kritisiert. Dazu gehört beispielsweise Nils Melzer, der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, der auch Julian Assange vehement verteidigt hat. Melzer bezeichnet die Definition als „jenseits von Gut und Böse“, weil sie Terrorismus nicht mehr zwingend als Gewaltverbrechen definiere.
Dazu erklärte auch die UNO-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte, die nordirische Rechtsprofessorin Fionnuala Ní Aoláin, im Gespräch mit der Zeitung Republik: „Diese Definition von Terrorismus wird von autoritären Staaten benutzt, um die Opposition zu unterdrücken.“
Tatsächlich würde diese Definition „terroristischer Aktivität“ auch auf streikende und protestierende Arbeiter passen, die den Zugang zu ihrem Betrieb blockieren, oder auf wütende Mietergruppen, die die Enteignung von Immobilienhaien verlangen. Sie könnte auch auf sozialistische Politiker und Arbeiterführer Anwendung finden, deren erklärtes Ziel es ist, den Kapitalismus abzuschaffen. Denn schon die Äußerungen dieser Gruppen könnten Aktionäre, Wirtschaftsvertreter und Staatsbeamte in „Furcht und Schrecken“ versetzen.
Gegen den „Willkürparagraphen“ hat ein Komitee das Referendum ergriffen, dem unter anderem die Jungen Grünen, die Jusos, die Jungen Grünliberalen und die Piratenpartei, sowie Nichtregierungsorganisationen und Bürgerrechtsinitiativen angehören. Wie sie erklären, ist das Gesetz „ein Angriff auf die Sicherheit der Schweizer Bevölkerung. Es verdächtigt und gefährdet unbescholtene Bürger: Jeder kann, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, bis zu neun Monate unter Hausarrest gestellt werden (…) Wehren können sich Betroffene nur, indem sie beweisen, dass sie in Zukunft nie ein Verbrechen begehen. Das ist schlicht unmöglich.“
Auch die Sozialdemokratische Partei (SP) hat die „Nein“-Parole ausgegeben. Allerdings hat sie keinerlei öffentliche Kampagne gegen das Gesetz geführt, um die arbeitende Bevölkerung zu warnen und zu mobilisieren. Sie sitzt ja selbst in der Regierung, dem siebenköpfigen Bundesrat. In dieser Allparteienkoalition arbeitet die SP einhellig auch mit der rechtsextremen SVP zusammen.
Das Gesetz wurde in der Abstimmung vom vergangenen Sonntag, dem 13. Juni, mit 56,6 Prozent angenommen. Die Wahlbeteiligung war für Schweizer Verhältnisse mit 59,5 Prozent relativ hoch, und mit Ausnahme von Basel-Stadt stimmten auch alle Kantone für das neue Polizeigesetz.
Aber was heißt in der Schweiz Abstimmungsmehrheit? Tatsächlich stimmten insgesamt nur 1,85 Millionen, etwas mehr als ein Fünftel der 8,6 Millionen Einwohner, für das Willkürgesetz. Etwa 2,2 Millionen Einwohner haben keinen Schweizer Pass. Vor allem ein großer Teil der Arbeiterklasse hat überhaupt kein Wahlrecht und kann nicht mit abstimmen. Die Schweiz hat eine multinationale Arbeiterklasse, in der neben Schweizer Arbeitern auch Italiener, Tamilen, Deutsche, Türken, Bosnier, Maghrebiner etc. arbeiten.
Das Gesetz drückt zweifellos eine tiefsitzende Furcht der Schweizer Bourgeoisie und Behörden davor aus, dass die Arbeiterklasse sich rühren könnte. Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt, ist jedoch stark von der Weltkonjunktur abhängig. Ihr Reichtum ist zutiefst ungleich verteilt. Die sozialen Gegensätze sind zum Zerreißen gespannt, und die Pandemie hat sie offen sichtbar werden lassen.
Nach wie vor profitiert die Bourgeoisie vom Bankenplatz Schweiz als respektabler Steueroase, wie auch vom gehobenen Alpentourismus. Sie unterhält auch eine kleine, hochspezialisierte Industrie, die jedoch besonders vom Wohl und Wehe der EU abhängig ist.
In der Pandemie hat sich das Land, ähnlich wie Schweden, geweigert, Betriebe und Schulen zu schließen. Obwohl in der zweiten Pandemiewelle die Infizierten- und Todeszahlen steil anstiegen, ließ die Schweiz als einziges Alpenland im Winter die Skisaison eröffnen. Fast 10.870 Covid-19-Patienten sind in der Pandemie gestorben, davon mehr als die Hälfte allein in diesem Jahr. Zweifellos könnten viele Corona-Opfer noch leben, hätten die Bundes- und Kantons-Regierungen ihre Profite-vor-Leben-Politik nicht so verantwortungslos durchgesetzt.
Die Arbeiterklasse trägt in doppelter Hinsicht die Hauptlast der Pandemie: Wer im Krankenhaus oder Altenheim, für die Produktion, auf dem Bau, an der Migros-Kasse, bei der SBB oder in der Gastronomie arbeitet, hat wenig Möglichkeiten, sich vor Corona zu schützen.
Gleichzeitig ist die Arbeiterklasse vom Stellenrückgang in der Pandemie besonders betroffen. Laut Zahlen des Bundesamts für Statistik weisen die Beschäftigungszahlen im ersten Quartal 2021 zum vierten Mal einen starken Rückgang auf, mit Stellenstreichungen im letzten Jahr im verarbeitenden Gewerbe (–14.000 Stellen), im Baugewerbe (–6.000 Stellen), und im Gastgewerbe (–35.000 Stellen). Gerade hat die Fluggesellschaft Swiss wieder Massenentlassungen angekündigt.
Mit ihrem neuen, scharfen Polizeigesetz bereitet sich die Schweizer Bourgeoisie bewusst auf eine bevorstehende soziale Explosion vor. Darauf muss sich auch die Arbeiterklasse vorbereiten!
Die Abstimmung hat einmal mehr gezeigt, wie dringend es ist, in der arbeitenden Bevölkerung der Schweiz eine politische Partei aufzubauen, die ihre demokratischen und sozialen Interessen verteidigt und sie, unabhängig von allen nationalistischen Parteien und Gewerkschaften, mit der Internationalen Arbeiterklasse verbindet. Eine solche Partei kann nur als Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) aufgebaut werden.