Brasilien: Massendemonstrationen gegen Bolsonaros mörderische Reaktion auf die Corona-Pandemie

Am Samstag fanden in allen 28 brasilianischen Bundesstaaten Massendemonstrationen gegen die faschistische Regierung von Präsident Jair Bolsonaro und seine kriminelle Reaktion auf die Corona-Pandemie statt. Laut Schätzungen der Veranstalter gingen landesweit vermutlich mehr als 100.000 Menschen auf die Straße.

In São Paulo, der größten Metropolregion des Landes, demonstrierten schätzungsweise mehr als 80.000 Menschen. In Porto Alegre, der Hauptstadt von Rio Grande do Sul, waren es etwa 30.000 Menschen. Weitere Tausende protestierten in Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Curitiba und Brasilia. Kleinere Proteste fanden in mehr als 100 weiteren Städten statt.

In Recife (Pernambuco) wurde die Demonstration auf Geheiß von Gouverneur Paulo Câmara von der Partido Socialista Brasileiro (PSB) durch die Militärpolizei brutal unterdrückt, u.a. durch den Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen. Drei Demonstranten wurden verwundet, zwei davon wurden an den Augen getroffen und erblindeten teilweise.

Demonstration gegen die Reaktion der brasilianischen Regierung auf die Corona-Pandemie in Rio de Janeiro am 29. Mai 2021. Die Teilnehmer forderten u.a. die Absetzung von Präsident Jair Bolsonaro. (AP Photo/Bruna Prado)

Die Demonstrationen waren die größten in Brasilien seit den Protesten von Schülern und Lehrern im Jahr 2019 gegen die Kürzungen am Bildungsetat, die Bolsonaro im ersten Jahr seiner Amtszeit durchgesetzt hatte. Sie fallen zusammen mit den Massenerhebungen im benachbarten Kolumbien, wo bereits seit längerer Zeit ununterbrochen und zunehmend radikalere Proteste gegen die Reaktion der rechten Regierung auf die Pandemie und die soziale Krise stattfinden.

Diese Massendemonstrationen sind die ersten gegen die Reaktion der kapitalistischen Regierungen auf die globale Pandemie. Sie drücken aber die wachsende soziale Wut in der internationalen Arbeiterklasse über ähnliche Bedingungen im Rest der Welt aus.

In Brasilien hatten die sozialen Bewegungen aus dem Umfeld der Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT) und ihres pseudolinken Anhängsels, der Partido Socialismo e Liberdade (Partei für Sozialismus und Freiheit, PSOL), zu den Protesten aufgerufen. Zu diesen Bewegungen gehört u.a. die Frente Povo sem Medo (Front der Menschen ohne Angst), die von PSOL-Führer Guilherme Boulos angeführt wird.

Das Ausmaß der Proteste zeigt jedoch ein Anwachsen von sozialem Widerstand, das weit über die engen politischen Grenzen hinausgeht, die diese Organisationen setzen.

Angesichts von offiziell mehr als 460.000 Toten durch die Pandemie und von täglich mehr als 2.000 neuen Todesfällen herrscht in breiten Teilen der Bevölkerung Brasiliens immense aufgestaute Wut.

Zu den Gräueln in Folge der Pandemie ist im letzten Jahr noch ein starkes Anwachsen der sozialen Krise hinzugekommen. Dutzende Millionen Arbeiter haben ihre Stellen oder Einkommensquellen verloren und erweitern die Reihen der Brasilianer, die Elend und Hunger leiden.

Viele Demonstranten hatten selbstgemachte Transparente und Plakate dabei, auf einigen davon waren Namen und Bilder von Eltern, Großeltern und Geschwistern zu sehen, die an Covid-19 gestorben sind. Sie beschuldigten die Regierung des Mordes. Andere forderten Impfstoffe und staatliche Hilfen gegen Hunger, verurteilten Polizeigewalt und forderten die Absetzung Bolsonaros, dem sie „Völkermord“ vorwarfen.

Noch direkter wurden die Proteste von der Untersuchung der staatlichen Reaktion auf die Pandemie durch eine parlamentarische Untersuchungskommission (CPI) angetrieben. Die Corona-CPI, die Anfang Mai vom Senat eingesetzt wurde, hat enthüllt, dass die Bolsonaro-Regierung die Impfkampagne sabotiert und Angebote von Pfizer und dem Butantan-Institut abgelehnt hat.

Letzte Woche erklärte der Direktor des Butantan-Instituts, Dimas Covas, in einer Anhörung vor der CPI, die Bolsonaro-Regierung habe im Oktober 2020 ein Angebot für 100 Millionen Dosen des Impfstoffs CoronaVac abgelehnt, die im Mai dieses Jahres geliefert werden sollten. Laut einer Studie des Epidemiologen Pedro Hallar von der UFPel (staatliche Universität Pelotas), der auch Koordinator der größten epidemiologischen Studie zum Corona-Virus in Brasilien ist, hätten sich mit diesen Impfstoffen mindestens 80.300 Todesfälle verhindern lassen.

Diese Enthüllungen bekräftigen den in der Bevölkerung weit verbreiteten Eindruck, dass das katastrophale Ausmaß der Corona-Pandemie in Brasilien das Ergebnis einer bewussten Politik des sozialen Mordes ist, die der faschistische Präsident mit zunehmend diktatorischen Methoden durchsetzt.

Die Führungen der PT und der PSOL haben zu den Demonstrationen am Samstag aufgerufen, um diese wachsende Unzufriedenheit vor den Karren einer korrupten Politik zu spannen und an den bürgerlichen Staat zu binden.

Guilherme Boulos von der PSOL erklärte in einem Interview mit El País, das am Samstag erschien, er wolle die Demonstrationen in das politische Fahrwasser der CPI lenken: „Die CPI schafft ein politisches Umfeld, das zum Zerfall von [Bolsonaros] sozialer und parlamentarischer Basis führen kann. Die Demonstrationen können also eine wichtige Rolle darin spielen, seine Absetzung zu ermöglichen.“

Diese Äußerungen müssen im Kontext von Boulos' Versuchen verstanden werden, seine Politik gegen Bolsonaro auf prinzipienlose Weise an diejenige der reaktionärsten Teile des politischen Establishments anzupassen.

Ende 2020 hatte Boulos gegenüber Jacobin erklärt, es solle positiv gesehen werden, dass „Teile der alten brasilianischen Rechten sich vom Bolsonarismus distanzieren und lossagen“. Er rief zu einem „Bündnis gegen Bolsonaro“ auf, „an dem alle teilnehmen sollten, die diese Ansicht teilen“. Entsprechend dieser Politik traf sich Boulos im April mit dem Führer der faschistischen Republicanos (der Bolsonaros Söhne nahestehen) und bat sie um Hilfe dabei, sich gegenüber den rechteren Teilen der Bourgeoisie als gemäßigter Politiker zu verkaufen.

Egal ob sie Bolsonaros Amtsenthebung fordern oder auf die Wahl 2022 warten, in der sie auf eine Rückkehr des ehemaligen PT-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ins Amt drängen, beinhaltet der politische Kurs der PSOL und der PT einen schmutzigen Deal im Rahmen des kapitalistischen Staats. Ihr „Widerstand“ gegen Bolsonaro stellt keine Alternative zu der katastrophalen Lage der Pandemie in Brasilien dar.

Eine ernsthafte Untersuchung der mörderischen Politik der Herdenimmunität durch die Bolsonaro-Regierung – im Gegensatz zu derjenigen, die von den politischen Kräften hinter der CPI durchgeführt wird – würde auch die direkte Komplizenschaft der lokalen Regierungen aus PT, der maoistischen Kommunistischen Partei Brasiliens (PcdoB), der PSB und der traditionellen rechten Parteien wie der PSDB entlarven.

Die öffentliche Gesundheitsbehörde Fiocruz warnte letzte Woche, aufgrund der landesweiten Maßnahmen zur „Rückkehr zur Normalität“ drohe eine dritte Welle der Pandemie. Diese Warnung entlarvt die Tatsache, dass die PT und ihre Verbündeten keine wissenschaftliche Reaktion auf die Pandemie vertreten können, weil dafür den kapitalistischen Interessen ein umfassender Lockdown und wirtschaftliche Entschädigung für alle Arbeiterfamilien entgegensetzt werden müsste.

Die gleichen politischen Kräfte sabotieren durch die von ihnen kontrollierten Gewerkschaften systematisch die Kämpfe der Arbeiterklasse gegen die Pandemie und den Niedergang ihrer Lebensbedingungen. Die CUT, die von der PT angeführt wird, und die anderen Gewerkschaftsbünde haben die Wiederöffnung der Arbeitsstätten unterstützt und die Streiks isoliert, die im Widerstand gegen ihre Führung ausgebrochen sind.

Genauso verlief es bei den Streiks gegen die Privatisierung der Petrobras-Raffinerien und die Corona-Ausbrüche unter Ölarbeitern, bei den monatelangen Streiks von Lehrkräften in São Paulo und in anderen Bundesstaaten gegen die tödliche Wiederöffnung der Schulen und bei den Streiks der Bus- und Verkehrsbeschäftigten im ganzen Land, die sich seit Anfang des Jahres verschärft haben. Ebenso war es bei den Streiks in den Ford- und LG-Werken, in denen Tausende von Arbeitern Ausverkäufe und Werksschließungen akzeptieren mussten, und bei den vielen Krankenhäusern, in denen die Beschäftigten ohne Unterstützung der Gewerkschaften angesichts der tödlichen Bedingungen die Arbeit niedergelegt hatten.

Obwohl in verschiedenen Städten einzelne Arbeiter teilnahmen, wurde die Arbeiterklasse nicht als soziale Kraft zu den Protesten gegen Bolsonaro mobilisiert.

Es herrscht ein immenser Interessenkonflikt: Auf der einen Seite stehen die Zehntausenden Demonstranten, die im ganzen Land auf die Straße gegangen sind, und die Arbeiter, die für ihre Arbeitsplätze kämpfen. Auf der anderen stehen die korrupten Führungen, die sie angeblich repräsentieren.

Eine wirkliche Antwort auf die Pandemie, die soziale Krise und die Angriffe auf die Demokratie, die von Bolsonaro und der brasilianischen herrschenden Klasse propagiert werden, erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse als unabhängige soziale Kraft über alle nationalen Grenzen hinweg.

Um diesen Kampf voran zu bringen, ruft das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) zur Bildung der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) auf. Noch wichtiger ist jedoch: Sie ruft alle Arbeiter, Jugendlichen und Intellektuellen, die aus der derzeitigen katastrophalen Lage revolutionäre Schlüsse ziehen, dazu auf, das IKVI zu kontaktieren und sich am Kampf für den Aufbau einer sozialistischen und internationalistischen Partei in Brasilien zu beteiligen.

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