Perspektive

Zügellose Spekulation an der Wall Street: Die Fieberkurve eines unheilbar kranken Systems

Im vergangenen Jahr befand sich das globale Finanzsystem, allen voran die Wall Street, in einem Spekulationsrausch, wie es ihn in der Wirtschaftsgeschichte noch nie gegeben hat. Daher stellen sich zwei unmittelbare Fragen: Wie ist es dazu gekommen und was sind die Folgen?

Im März 2020, als sich die Covid-19-Pandemie bemerkbar machte und die Arbeiter in spontane Streiks traten, um Schutzmaßnahmen für sich und ihre Familien zu fordern, brachen die Kurse an den Finanzmärkten ein.

Fußgänger vor der New York Stock Exchange, Oktober 2020 (AP Photo/Frank Franklin II, Datei) [AP Photo/Frank Franklin II, File]

Die Wall Street befürchtete, dass jede Maßnahme zur wirksamen Eindämmung der Pandemie die Kurse von Wertpapieren, vor allem Aktien, zum Absturz bringen würde. Sie sind durch die Billionen Dollar, die nach dem Crash von 2008 von der US-Notenbank und anderen Zentralbanken in das Finanzsystem gepumpt wurden, künstlich in die Höhe getrieben worden.

In dieser Situation sprangen die US-Regierung und die Fed der Wall Street wie gewohnt zur Seite. Die Trump-Administration organisierte eine milliardenschwere Rettungsaktion im Rahmen des CARES-Gesetzes, und die Fed stützte alle Bereiche des Finanzsystems mit Billionenbeträgen. Erstmals kaufte sie nicht nur Anleihen, sondern auch Aktien an.

Seitdem hat die Welt eine beispiellose Orgie der Finanzspekulation erlebt. Grundlage war die 4-Billionen-Dollar-Rettungsaktion mit steigender Tendenz. Die Fed kauft weiterhin Wertpapiere für mehr als 1,4 Billionen Dollar pro Jahr.

Der wichtigste Aktienindex der Wall Street, der S&P 500, ist seit seinen niedrigsten Ständen im März 2020 um rund 88 Prozent gestiegen und hat in diesem Jahr mehrfach Spitzenwerte erreicht. Aktienspekulationen auf Pump haben Rekordhöhen erreicht, und die Rendite der am niedrigsten bewerteten Schrottanleihen von Unternehmen, die kurz vor der Insolvenz stehen, ist auf historische Tiefststände gefallen.

Aber der ungeheuerlichste Ausdruck der Spekulation ist der Aufstieg des Markts für Kryptowährungen. Im vergangenen Jahr ist die Bewertung der bekanntesten Kryptowährung, Bitcoin, um 600 Prozent gestiegen, von etwa 7.000 US-Dollar pro Bitcoin auf 54.000 Dollar, und erreichte Mitte letzten Monats einen Höchststand von 65.000 US-Dollar.

Letzten Monat startete Coinbase, eine Handelsbörse für Kryptowährungen, an der Wall Street mit einem Börsengang, der ihren Marktwert auf 85 Milliarden US-Dollar brachte. 2018 betrug die Marktbewertung noch 8 Milliarden US-Dollar. Die jetzige ist höher als die Bewertung einiger der größten Banken der Welt und sogar der NASDAQ-Börse selbst, an der die Kryptowährung an den Start ging.

In den letzten Tagen wurden die Bitcoin-Spekulationen von einer anderen Kryptowährung, Dogecoin, noch in den Schatten gestellt.

Der Dogecoin wurde 2013 als Scherz ins Leben gerufen und unterscheidet sich in einem Punkt von Bitcoins. Die Befürworter von Bitcoins behaupten, dass diese einen Wert an sich hätten. Bitcoins könnten dazu verwendet werden, ohne Mitwirkung einer Bank oder eines anderen Dritten über ein Blockchain-Ledger-System Finanztransaktionen abzuwickeln. Für den Dogecoin werden keine solchen Behauptungen aufgestellt.

Obwohl er keinen Wert hat, ist der Dogecoin allein in diesem Jahr um 11.000 Prozent im Preis gestiegen. In dieser Woche erreichte seine Marktbewertung 87 Mrd. US-Dollar, verglichen mit 315 Mio. Dollar vor einem Jahr. Und wenn eine Kryptowährung einen rasanten Aufstieg erlebt, beginnen Spekulanten mit der Suche nach dem nächsten „großen Ding“.

Das Dogecoin-Phänomen ist kein Einzelereignis. Es scheint ein Ausdruck dessen zu sein, was man als neues Funktionsprinzip in der Welt der Spekulation bezeichnen könnte – je wertloser das Asset, desto höher sein Preis.

Ein kleiner Sandwich-Laden in Paulsboro, New Jersey, mit einem Umsatz von gerade einmal 13.976 Dollar hat für finanzielle Schlagzeilen gesorgt, nachdem bekannt wurde, dass seine Muttergesellschaft, Hometown International, im letzten Monat eine Marktbewertung von 100 Millionen Dollar erzielt hat. Zwei der größten Aktionäre sind die Universitäten Duke und Vanderbilt.

Im Aufstieg von Dogecoin spiegelt sich auch die hochrangige Intervention von Hedge-Fonds und anderen Finanzinstituten wider, die versuchen, von seiner Preisdynamik zu profitieren.

Dann gibt es noch die Sache mit den nicht-fungiblen Tokens (NFTs). Dabei handelt es sich um Bilder von Kunstwerken, ein Sportfoto oder sogar einen Tweet – der allererste Tweet von Twitter-Gründer Jack Dorsey wurde als NFT für 2,9 Millionen Dollar verkauft –, die in einem Blockchain-Ledger gespeichert werden. Sie sind wie Sammlerstücke, werden aber nicht physisch, sondern digital gespeichert.

Die Klassendynamik dieser Spekulationsorgie, angeheizt durch die endlose Versorgung mit praktisch kostenlosem Geld durch die Fed, zeigt sich im Vermögenszuwachs der Milliardäre dieser Welt.

Im letzten Jahr, als Covid-19 unsäglichen Schmerz, Leid und wirtschaftliche Not für Milliarden Menschen rund um die Welt brachte, stieg das kombinierte Vermögen der globalen Milliardäre um 60 Prozent, von 8 auf 13,1 Billionen Dollar. Die Zahl der Milliardäre stieg um 660 auf 2775 – die höchste Steigerungsrate und die größte Zahl aller Zeiten.

In den USA verfügen Amazon-CEO Jeff Bezos und Tesla-CEO Elon Musk über ein Vermögen von 177 Mrd. bzw. 151 Mrd. US-Dollar.

Die Spekulationswut hat sich auf die Wirtschaft im Allgemeinen ausgeweitet. Die Preise für wichtige Industrierohstoffe wie Stahl, Holz, Kupfer und Sojabohnen, die sich in Preissteigerungen für Arbeiter und Verbraucher niederschlagen, steigen rapide an.

Aber die Finanzbehörden, die diesen Rausch durch den endlosen Zufluss von billigem Geld seit dem Crash von 2008 und dem Beinahe-Kollaps vom März 2020 erzeugt haben, sitzen in einer selbstgebauten Falle. Sie befürchten, dass jeder Versuch, die Spekulationsorgie unter Kontrolle zu bringen, und sei es durch ein leichtes Zudrehen des Finanzhahns, eine Finanzkrise auslösen wird.

Ihre extreme Nervosität wurde Anfang der Woche deutlich, als US-Finanzministerin Janet Yellen, die ehemalige Fed-Chefin, den Gedanken äußerte, dass die Zentralbank irgendwann einmal die Zinsen anheben müsse. Aus Angst vor der Reaktion des Marktes nahm sie diese Bemerkung sofort wieder zurück und versicherte, dass sie eine Anhebung der Zinssätze weder befürworte noch vorhersage.

Der Vorfall wirft ein Licht auf eine der wichtigsten aktuellen Entwicklungen in den USA – das offene Eintreten der Biden-Administration für gewerkschaftliche Organisation.

Letzten Monat schuf Biden per Dekret eine „White House Task Force on Worker Organizing and Empowerment“, der neben Yellen auch Verteidigungsminister Lloyd Austin und Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas angehören. Die Regierung fördert die Gewerkschaften also unter der Leitung der Kabinettsmitglieder, die für Militäroperationen, die Wirtschaftspolitik und die Repression im Inneren zuständig sind.

Die Regierung befürchtet, dass die aufgestaute Wut der Arbeiterklasse über die Pandemie und die Bereicherung der Finanzoligarchie durch eine schnellere Inflation weiter angeheizt wird und zu einem unkontrollierten Ausbruch des Klassenkampfs führt, der in direkten Konflikt mit den Institutionen des kapitalistischen Staates geraten wird.

In der Vergangenheit hätte die Fed einen solchen Aufschwung durch eine Anhebung der Zinssätze eingedämmt und eine Rezession herbeigeführt. Aber dieser Weg ist für sie nun gefährlich, denn selbst ein relativ geringer Zinsanstieg droht das spekulative Finanzkartenhaus zum Einsturz zu bringen.

Daher ist die Biden-Administration dazu übergegangen, eine staatlich geförderte Industriepolizei aufzubauen, die sich auf die Gewerkschaften stützt. Auf diese Weise will sie gewährleisten, dass die Arbeiterklasse im Interesse des Finanzkapitals auf organisierte Weise niedergehalten wird.

Die zügellose Spekulation des vergangenen Jahres und das hemmungslose Absahnen der Oberschicht inmitten von Tod und wirtschaftlicher Verwüstung müssen für die Arbeiterklasse Anlass sein, Bilanz über die bisherigen Erfahrungen zu ziehen.

Es gibt keine Aussicht auf eine Reform der kapitalistischen Gesellschaftsordnung im Sinne der Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Das ist eine Illusion, mit der die Demokraten und ihre Anhänger in den pseudolinken Organisationen hausieren gehen. Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass alles in der Gesellschaft – einschließlich des Rechts auf Leben selbst – den unersättlichen Forderungen des Finanzkapitals untergeordnet wird.

Die gegenwärtige Spekulationsblase muss, wie alle anderen zuvor, zwangsläufig irgendwann platzen. Die Finanzoligarchen haben bereits ihre Ausstiegspläne und goldenen Fallschirme vorbereitet. Die Arbeiterklasse hat jedoch keinen Ausweg. Ein Börsencrash wird eine noch größere wirtschaftliche Katastrophe herbeiführen, zusätzlich zu dem, was bereits stattgefunden hat.

Die einzige tragfähige, realistische Lösung für die Todeskrise, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung erfasst hat, ist der Kampf für ein sozialistisches Programm. Es ist notwendig, der herrschenden Klasse die Führung der Wirtschaft und des Finanzsystems zu entreißen und die Wirtschaft auf einer neuen Grundlage wieder aufzubauen, die der Befriedigung sozialer Bedürfnisse Vorrang einräumt.

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