Auf die Entscheidung, Betriebe und Schulen trotz explodierender Neuinfektionen offen zu lassen, haben Millionen Arbeiter, Mediziner und Wissenschaftler mit Entsetzen, Fassungslosigkeit und Wut reagiert. Allein in den vergangenen zwei Wochen war die bundesweite Wocheninzidenz von 83 auf 130 angestiegen – ein doppelt so hoher Anstieg wie in den vier vorherigen Wochen zusammen.
Sollte das „Aktivitätslevel“ konstant bleiben, prognostiziert eine aktuelle Modellrechnung von Professor Kai Nagel von der Technischen Universität Berlin für den Mai eine Wocheninzidenz von bis zu 2000 – ein Szenario, das wöchentlich rund 50.000 Tote in Deutschland bedeuten würde.
Professor Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), berichtete am Freitag von zunehmenden Infektionszahlen in Kitas und am Arbeitsplatz und warnte vor 100.000 Neuinfektionen pro Tag, wenn sich an der gegenwärtigen Beschlusslage nichts ändere.
Besonders betroffen seien demnach derzeit die berufstätige Bevölkerung, sowie Kinder und Jugendliche. Es sei zu erwarten, dass „wieder mehr Menschen schwer erkranken, dass Kliniken überlastet und dass viele Menschen auch sterben werden“. Am Tag zuvor hatte Wieler erklärt, eine „dritte Welle“ könne ohne einen „Lockdown, der den Namen verdient“, nicht gestoppt werden – einen solchen habe es zuletzt „im letzten Frühjahr“ gegeben, als auch Schulen, Kitas und Betriebe geschlossen waren.
Die Forderung nach einem „harten Lockdown“ wird von den führenden Intensivmedizinern Deutschlands bereits seit Wochen erhoben. Gernot Marx (DIVI) und Christian Karagiannidis (DGIIN) bekräftigten sie am Wochenende erneut.
„Die Beschlüsse für Modellprojekte nach Ostern sind völlig unpassend und müssen von Bund und Ländern sofort zurückgenommen werden“, so Karagiannidis gegenüber der Rheinischen Post. DIVI-Präsident Marx erklärte: „Wir rennen sehenden Auges ins Verderben.“ Ein „harter Lockdown für zwei oder drei Wochen“ würde „zahlreiche Menschenleben retten und noch viel mehr vor lebenslangen Langzeitfolgen durch Covid bewahren“. Die Patienten der Intensivstationen seien „gezeichnet fürs Leben“, betonte er.
Angesichts dieser eindeutigen Faktenlage und der Weigerung von Bund und Ländern, den nötigen Lockdown zu verhängen, befand sich am Mittwochabend der Hashtag #Generalstreik mehr als drei Stunden lang auf Platz 1 der meistdiskutierten Trendbegriffe auf Twitter. Neben alleinerziehenden Eltern, Medizinern und Schülern beteiligten sich auch wissenschaftliche Mitarbeiter führender deutscher Universitäten und Vertreter der Jugendbewegung „Fridays For Future“ an der Diskussion über einen Generalstreik. Das Schlagwort #HarterLockdownJetzt befand sich mit rund 42.000 Tweets am gesamten Wochenende unter den Top 5 der Trends.
Typisch ist ein Kommentar des Anästesisten und Notfallmediziners Adrian aus Schleswig-Holstein vom Sonntag: „Wenn man sich einig wäre, könnten wir auch einfach in eine Art Generalstreik gehen“, schreibt er auf Twitter. Durch eine solche Schließung von Betrieben, Schulen und Kitas „hätten wir unseren eigenen ‚harten Lockdown‘“. Ein anderer User schreibt: „Ein richtiger #Generalstreik für 14 Tage und die aktuelle Pandemie wäre weitestgehend erledigt, ganz ohne Zutun der Regierenden auf allen Ebenen und deren organisierter Verantwortungslosigkeit.“
Tatsächlich findet die Forderung nach einem harten Lockdown und einem Generalstreik breite Unterstützung. „Ich glaube, die Leute begreifen, dass sie die Pandemie selbst bekämpfen müssen“, erklärte etwa der Infektiologe Dirk Brockmann am Donnerstag im Interview mit der Zeit. Gegenüber dem Youtube-Format Jung&Naiv bezeichnete der Regierungsberater die Pandemiepolitik als „Russisches Roulette mit einer Pistole, in der alle Kammern voll sind“.
Die Stimmung unter Wissenschaftlern und Medizinern wird auch von einem viralen Twitter-Beitrag der Allgemeinmedizinerin Dr. Werner auf den Punkt gebracht. „Mir war immer klar, dass es einmal eine Pandemie geben wird“, schreibt sie. „Dass man einen gewissen Teil der Gesellschaft nicht überzeugen könnte von den Fakten, das konnte ich mir etwas vorstellen. Aber dass zu diesem Teil die Regierung gehört? Dass ich das Gefühl hätte, sie stünde auf der ‚Gegenseite‘, das hätte ich nie geglaubt. Aber dies ist die aktuelle Lage.“
Stattdessen, so die Ärztin, würden „Randmeinungen gepusht“ und „die Mehrheit der Wissenschaftler nicht gehört“: „Die Regierung stellt sich teils tot, verschiebt Masken und Pöstchen, und lässt uns an die Wand fahren.“
Laut den aktuellen repräsentativen Zahlen des ZDF-Politbarometers bezeichnen 36 Prozent der Befragten die „geltenden Corona-Maßnahmen“ als „nicht hart genug“ – eine Zunahme von 18 Prozentpunkten im Vergleich zum Vormonat. Die gegenteilige Auffassung nahm in diesem Zeitraum lediglich um 3 Prozentpunkte auf 26 Prozent zu. „Wir hatten noch nie eine Mehrheit für Lockerungen“, stellte Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen am Freitag gegenüber dem ZDF fest.
Inmitten dieser massenhaften Opposition gegen die Durchseuchungspolitik von Bund und Ländern stießen die Artikel der World Socialist Web Site in der vergangenen Woche auf eine große Resonanz. Eine am Dienstag veröffentlichte Einschätzung der Gipfelbeschlüsse und ein Kommentar zu Bundeskanzlerin Angela Merkels Aufhebung des sogenannten „Osterlockdowns“ wurden in den sozialen Medien jeweils hundertfach kommentiert. Lehrer, Erzieher und Arbeiter sprachen anschließend mit der WSWS über die Perspektive eines europaweiten Generalstreiks im Kampf um einen wirklichen Shutdown von Schulen, Kitas und Betrieben.
„Wir in der chemischen Industrie mussten am Gründonnerstag ganz normal arbeiten gehen – auch die nicht systemrelevanten Bereiche wie Kantinen, IT und Büros“, schreibt etwa Jana*, eine Laborantin bei BASF. Der Konzernbetriebsrat habe dies bereits bekannt gegeben, bevor der Beschluss von Kanzlerin Merkel auch formal zurückgenommen wurde. „Als ob sich der weltgrößte Chemiekonzern nach der deutschen Politik richten würde!“, kommentiert Jana bitter.
„Hier im Hauptwerk in Ludwigshafen haben wir 33.000 Stammmitarbeiter und die Produktion arbeitet durchgehend“, fährt sie fort. „Etliche Bereiche gehören zur Grundversorgung, sind systemrelevant. Das komplette Werk kann man eh nicht schließen. Anscheinend gibt es da eine Lücke, die den Konzern dazu berechtigt, komplett offen zu lassen.“
Die Explosion der Fallzahlen unter Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern betrachtet Jana mit großer Sorge. „Wenn ich die positiven Tests der letzten Wochen nachverfolge, sind es fast durchgehend Kitas, Schulen, im Job. Hier in Rheinland-Pfalz schickt so gut wie jeder seine Kinder seit Juni/Juli in die Einrichtungen. Einen Nachweis auf Notbetreuung braucht es nicht – dieselben Berichte gibt es auch aus anderen Bundesländern von Erzieherinnen und Lehrerinnen.“
„Die Schulen waren seit der ersten Welle außer zu den Ferien nie gänzlich geschlossen“, stellt sie fest. „Irgendein Jahrgang war immer da – erst nur die Wechselstufler, dann die Grundschule, dann mal die Abschlussjahrgänge. Prüfungen wurden vor Ort geschrieben, es gab Wechseluntericht und so weiter. Seitdem die Nachverfolgung wieder klappt, findet man in diesen Bereichen immer mehr Ketten.“
„Ich denke da ähnlich wie Sie“, berichtet uns Elke G. aus Nordrhein-Westfalen. „Ich habe inzwischen so eine Angst, wenn ich ungeimpft vor meinen Klassen stehe. Da sind auch Schüler dabei, die per Attest von der Maskenpflicht befreit sind. Ich habe wenn möglich das Fenster dauergeöffnet und habe trotzdem Angst. Während andere ins Home-Office gehen, betreue ich durchgehend dreimal wöchentlich Abiturkurse und seit zwei Wochen sind alle wieder im Wechselunterricht. Beamte streiken nicht und setzen sich dafür täglich Lebensgefahr aus. Ich habe Angst! Demnächst kriegen wir aus Mallorca den brasilianischen Virus.“
Mit Blick auf die Berichterstattung der WSWS ruft die Lehrerin „alle Kolleginnen und Kollegen“ auf, sich „gegen diese Missstände zu solidarisieren“.
Die Gefahr, die von den mutierten Virusstämmen für Schulkinder und Personal ausgeht, wird von Elkes Kollege Holger* aus Berlin bestätigt. „An unserer Grundschule sind mehrere aus dem Kollegium und dem Hort mit B117 infiziert – unter den Schülerinnen und Schülern und ihren Familien gibt es offenbar Infektionsketten, die bisher niemand nachvollziehen kann“, sagt er. „Das Virus ist enorm schnell an vielen Stellen aufgetaucht. Binnen weniger Tage hat es mehr als ein Dutzend Fälle gegeben. Dennoch bleibt die Schule offen und nur die ‚Betroffenen‘ wurden in Quarantäne geschickt. Unser Leben wird bewusst einer enormen Gefahr ausgesetzt.“
„Nur wenn alle Klassen durchgetestet würden, könnte man das ganze Ausmaß sehen“, stellt Holger fest. „Das wird aber nicht getan. Was vom Senat zur Verfügung gestellt wurde, ist ein schlechter Witz und hat keine Struktur. Selbst wenn manches auf dem Papier gut klingt, kann ich spätestens bei der Umsetzung wirklich nur noch den Kopf in die Hände sinken lassen. Da funktioniert gar nichts! Ich kann das nicht anders deuten, als dass es der Politik offenbar egal ist, was mit uns passiert.“
„In den letzten Tagen vor Ostern wurden die Kinder, ihre Familien und das Schulpersonal noch einmal völlig sinnlos in Gefahr gebracht“, fährt Holger fort. „Die Kollegen sind stinksauer und große Wut macht sich breit. Wer jetzt eingesetzt ist, muss alles auffangen, während diejenigen, die in Quarantäne sind, durch schwere Tage gehen. Einige hat das Virus heftig erwischt. Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz zeigen, dass es nie um die Kinder ging. Unser Leben wird als Opfer angesehen, das die Landesregierungen und die Bundesregierung bereit sind zu bringen. Der Kapitalismus stellt Profite über Leben.“
„Ich sehe es auch so, dass schon seit der ganzen Zeit Profite vor Leben gelten“, sagt Ursula B., die in Niedersachsen als Heilpraktikerin arbeitet. „Die sogenannte ‚Osterruhe‘ hätte ohnehin nicht viel gebracht, zumal sie auch noch durch einen Tag unterbrochen werden sollte. Sofortiges Reagieren wäre angesagt, aber das wird leider nicht passieren. Wir können also durchaus ehrlich sagen: Hier werden gerade bewusst viele weitere schwere Erkrankungen und Tote in Kauf genommen.“ Hintergrund seien kapitalistische Profitinteressen, ist sie sich sicher: „Das ließen schon die Schul- und Kitaöffnungen um jeden Preis vermuten.“
Einen Generalstreik, der die Wirtschaft auf das absolut lebensnotwendige Niveau herunterfährt, befürwortet Ursula „absolut“: „Wenn die Politik es nicht schafft, uns runterzufahren, damit wir die Pandemie in den Griff bekommen, dann sollten wir das als Gesellschaft tun. Wir könnten europaweit innerhalb von acht Wochen bei Inzidenzen von unter 10 oder 15 sein und dann einen Weg finden, wie wir Ausbrüche schnell und konsequent schon bei minimaler Anzahl lokal bekämpfen. Um einen harten Lockdown kommen wir nicht herum.“
„Der Artikel trifft absolut ins Schwarze“, sagt Silke Aretz aus Nordrhein-Westfalen, die eine Eltern-Initiative gegen die lebensbedrohliche Durchseuchungspolitik ins Leben gerufen hat. „Die Stimmung war noch nie so aufgeheizt, wie in den letzten Tagen“, stellt sie fest. „Alles geht vor die Hunde, nur die Aktionäre nicht. Die Intensivstationen sind bereits am Limit – vor allem das Personal. Die Altparteien schenken sich gegenseitig nichts. Sie machen Politik für drei Prozent der Bevölkerung und um sich selbst die Taschen voll zu machen – mit Demokratie hat das schon lange nicht mehr viel gemein.“
Im Kampf gegen diese „Irrationalität“, so Silke, sei ein gemeinsamer europaweiter Generalstreik „die einzige Möglichkeit“: „Wer kann, sollte streiken – Lehrer sollten auf kollektive Sickouts zurückgreifen. Das ganze System müsste geändert werden, nicht erst seit Covid. Mittlerweile bezeichne ich mich als Sozialistin: Ich möchte für eine humane Welt kämpfen, in der alle Menschen die gleichen Chancen haben. Die Krise wäre eine Chance für einen Umbruch.“
*Die Namen von Holger und Jana wurden von der Redaktion geändert.