Am 17. März reichten Staatsanwälte beim türkischen Verfassungsgericht einen Antrag auf Verbot der kurdisch-nationalistischen Demokratischen Volkspartei (HDP) ein. Am selben Tag wurde dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu das Parlamentsmandat aufgrund seiner Äußerungen in den sozialen Medien entzogen. Diese drakonischen Angriffe auf die demokratischen Rechte einer Partei, die bei der letzten Wahl fast 6 Millionen Stimmen erhalten hat, lösten in zahlreichen Städten der Türkei Proteste aus.
Die Unterstützung für Präsident Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und ihren rechtsextremen Verbündeten, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), nimmt drastisch ab. Grund ist ihre Politik der „Herdenimmunität“ als Antwort auf die Covid-19-Pandemie. Mit drei Millionen Fällen und 30.000 Toten – stark manipulierten offiziellen Zahlen zufolge – ist die Zustimmung für die AKP bei den jüngsten Umfragen auf 36 % gesunken, für die MHP auf nur noch 8 %. Am 2. März kündigte Erdoğan daraufhin „umfangreiche Maßnahmen zur Änderung der politischen Parteien- und Wahlordnung“ an.
Sowohl die AKP als auch die MHP riefen dazu auf, die HDP zu verbieten. Anfang März erklärte der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli: „Wenn die Türkei ein Rechtsstaat ist, ist das Verbot der HDP dringend, lebenswichtig, ein Muss.“ Der stellvertretende AKP-Fraktionsvorsitzende Cahit Özkan behauptete, die gesamte türkische Bevölkerung fordere das Verbot der HDP. Er sagte: „83 Millionen Menschen [in der Türkei] wünschen das Verbot dieser Partei sowohl politisch an den Wahlurnen als auch rechtlich im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung.“
Die Staatsanwälte verlangten außerdem, dass 684 Personen, die der HDP nahestehen, aus der Politik ausgeschlossen werden. Sie behaupten, dass diese Personen mit der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) in Verbindung stehen. Die KCK umfasst als Dachorganisation die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Partei der Demokratischen Union (PYD) in Syrien und Die Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK) im Iran.
Die PKK ist in der Türkei als terroristische Organisation verboten. Die Staatsanwälte erklärten: „Wie die zuvor vom Verfassungsgericht verbotenen Parteien steht die HDP vollständig unter der Kontrolle der PKK/KCK, und es hat sich herausgestellt, dass sie ein sogenannter legaler Ableger der PKK ist.“
Am Freitagmorgen hat die türkische Polizei zehn führende Mitglieder der HDP sowie den Ko-Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, Öztürk Türkdoğan, bei koordinierten Razzien in Istanbul festgenommen. Türkdoğan wurde mittlerweile gegen strenge Auflagen wieder freigelassen.
Die HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar verurteilten das staatliche Vorgehen gegen ihre Partei als „Putsch“ gegen „den Willen der Bevölkerung“. Buldan sagte: „Mein Aufruf an alle demokratischen Kräfte lautet: Was heute mit uns gemacht wird, wird morgen auch mit euch gemacht werden. Gemeinsam dagegen Stellung zu beziehen, ist unser aller Verantwortung.“ Sie rief dazu auf, „der AKP so schnell wie möglich eine Lektion an der Wahlurne zu erteilen“.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale verurteilt diese Angriffe auf die demokratischen Grundrechte auf das Schärfste. Unsere Opposition gegen Erdoğans polizeistaatliche Maßnahmen gegen die Rechte der Kurden und der HDP bedeutet jedoch keine Abschwächung unserer Opposition gegen die bankrotte Politik des kurdischen Nationalismus. Dieser Bankrott ist nun unübersehbar offengelegt. Die HDP hat nicht nur das Bündnis der kurdischen Milizen mit dem US-Imperialismus stillschweigend unterstützt, sondern auch die Politik der „Herdenimmunität“ der herrschenden Klasse in der Türkei, wie in ganz Europa und Amerika.
Zu den „demokratischen Kräften“, auf die sich die HDP beruft, gehören die imperialistischen Mächte und eine Koalition der türkischen bürgerlichen Oppositionsparteien unter der Führung der Republikanischen Volkspartei (CHP). Zu dieser Koalition gehören die CHP, die rechtsextreme Gute Partei (İYİ Parti) und zwei AKP-Abspaltungen: die Zukunftspartei des ehemaligen AKP-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu und die Partei für Demokratie und Fortschritt (DEVA) des ehemaligen AKP-Wirtschaftsministers Ali Babacan.
Während die Europäische Union ihre „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck brachte, kritisierte auch die neue Biden-Regierung in Washington die Politik Erdoğans. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, sagte, Washington beobachte „die beginnenden Bemühungen, die Demokratische Volkspartei [HDP] aufzulösen – eine Entscheidung, die den Willen der türkischen Wähler auf unangemessene Weise unterlaufen und die Demokratie in der Türkei weiter untergraben würde“.
Babacan, Davutoğlu und CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu verurteilten das Verbotsverfahren gegen die HDP. Kılıçdaroğlu erklärte: „Die Entwicklungen haben erneut gezeigt, dass es in diesem Land keine Demokratie gibt.“
Auch in Europa forderten die pseudolinken Schwesterparteien der HDP ihre Regierungen auf, die „Demokratie“ in der Türkei zu verteidigen. Der Bundesgeschäftsführer der Partei Die Linke Jörg Schindler erklärte, Bundeskanzlerin Merkel müsse handeln. „Statt weiter Waffen zu liefern, müssen die Verbrechen der türkischen Regierung klar benannt und verurteilt werden. Ich fordere Bundeskanzlerin Merkel auf, diplomatische Initiative zu ergreifen und Druck auf die Regierung Erdoğan auszuüben, die Angriffe auf die Opposition in der Türkei einzustellen.“ Die französische stalinistische Kommunistische Partei rieg die französische Regierung und die EU auf, Sanktionen gegen das Erdoğan-Regime zu verhängen und die „demokratischen Kräfte“ zu unterstützen.
In der Praxis haben sich alle diese Kräfte längst als ausgewiesene Feinde demokratischer Rechte und der Arbeiterklasse in der Türkei und im Nahen Osten erwiesen.
Die Erklärungen der türkischen bürgerlichen Oppositionsparteien gegen die Verfolgung der HDP strotzen vor Heuchelei. Während Erdoğans jahrelange Gefolgsleute Davutoğlu und Babacan ihn in seinem Bestreben unterstützten, einen Polizeistaat aufzubauen, stimmte die CHP für eine Verfassungsänderung, die von der AKP initiiert wurde und die parlamentarische Immunität der HDP-Abgeordneten aufhob. Infolgedessen sitzen mehrere HDP-Führer, darunter Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, seit 2016 im Gefängnis.
Was die imperialistischen Regierungen und ihre pseudolinken Komplizen betrifft, so haben sie die Kriegstreiberei unter der Führung der USA im Nahen Osten unterstützt, die mit dem Golfkrieg und der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 begann. Ihre Kriegstreiberei begrenzte sich nicht nur auf die Verwüstung des Nahen Ostens, indem sie ethnische Konflikte und Angriffe auf demokratische Rechte entfachte, sondern untergrub auch die Löhne und die Gesundheitsversorgung der Arbeiter in ihren eigenen Ländern. Infolge dieser Ereignisse sind über eine Million Menschen in Amerika und Europa an Covid-19 gestorben.
Im Februar ordnete Biden einen Raketenangriff auf Syrien an, bei dem 17 Menschen getötet wurden. Er signalisierte damit, dass Washington beabsichtigt, die imperialistische Vergewaltigung des Nahen Ostens fortzusetzen – während Hunderttausende seiner eigenen Bürger aufgrund der Politik der Herdenimmunität an Covid-19 sterben.
Die Covid-19-Pandemie und die imperialistische Kriegstreiberei im Nahen Osten haben den Bankrott des Kapitalismus offenbart. Gleichzeit zeigen sie, dass es mit einer nationalistischen Perspektive nicht möglich ist, die internationalen Probleme zu lösen, vor denen die Menschheit heute steht. Die einzige Kraft mit einer fortschrittlichen Lösung für diese Probleme ist die internationale Arbeiterklasse. Dazu muss sie auf einer sozialistischen Grundlage den Kampf gegen Krieg und für eine wissenschaftlich fundierte, globale medizinische Antwort auf die Pandemie aufnehmen.
Die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie in der Türkei sind alle untrennbar mit dem Imperialismus verbunden. Erdoğan reagierte auf Bidens Raketenangriff mit einem erbärmlichen Appell an Washington und die EU, ihn zu unterstützen: „Der Westen sollte der Türkei helfen, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden.“ Er bittet Biden, den Kampf für „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“ wieder aufzunehmen, indem er die türkische Regierung in dem schmutzigen Krieg in Syrien militärisch unterstützt.
Erdoğan rühmte sich, er habe „sichere Zonen“ geschaffen und die „regelwidrige Migration“ nach Europa gestoppt, indem er Syrien bombardierte und Lager für Millionen von Flüchtlingen errichtete. Im Gegenzug sollten Washington und die EU die kurdischen Nationalisten nicht unterstützen. Er schrieb: „Vor allem erwarten wir, dass der Westen eine klare Position gegen die YPG, den syrischen Arm der PKK, bezieht.“
Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind der bewaffnete Flügel der PYD und das Rückgrat der von den USA und Europa unterstützten Miliz Demokratische Kräfte Syriens (SDF).
Die Biden-Regierung weigert sich bislang, Erdoğans Bitten zu debattieren, und hat stattdessen deutlich gemacht, dass sie die kurdischen Kräfte in Syrien weiterhin unterstützen wird. In einer Erklärung des Außenministeriums von Ende Januar, kurz nach Bidens Amtsantritt, hieß es: „Die Vereinigten Staaten bleiben in enger Koordinierung mit den lokalen Partnern im Nordosten Syriens, einschließlich der SDF.“
Seit Washington und seine europäischen imperialistischen Verbündeten kurdische Verbände als ihre wichtigsten Stellvertreter in Syrien einsetzen, nimmt die Erdoğan-Regierung die HDP ins Visier. Die türkische Regierung fürchtet, dass versucht werden könnte, einen separaten kurdischen Staat innerhalb der derzeitigen Grenzen der Türkei zu errichten. Im Jahr 2016 wurde die parlamentarische Immunität der HDP-Abgeordneten aufgehoben. Seitdem wurden über 15.000 Menschen festgenommen und 6.000 verhaftet, weil sie Mitglieder oder Anhänger der HDP sind. Im vergangenen Juni wurden den HDP-Abgeordneten Leyla Güven und Musa Farisoğulları ihre Parlamentsmandate entzogen.
Angesichts einer erwarteten weiteren imperialistischen Aggression im Nahen Osten unter der neuen Biden-Regierung eskaliert Erdoğan seine reaktionären Angriffe auf die HDP.
Die Verteidigung demokratischer Rechte, der Gesundheit und des Lebens der Kurden und aller Menschen darf nicht den Manipulationen der bürgerlich-nationalistischen Fraktionen untergeordnet werden. Diese Verteidigung erfordert die internationale Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen Krieg, Imperialismus und die Politik der Herdenimmunität, die von der Kapitalistenklasse durchgesetzt wird.