Der frühere Vorsitzende der Europäischen Zentralbank Mario Draghi soll neuer Regierungschef Italiens werden. Staatspräsident Sergio Mattarella beauftragte den 73-Jährigen am Mittwoch mit der Bildung einer Expertenregierung. Die Bemühungen, die bisherige Regierungskoalition aus Fünf Sternen, Demokraten und zwei kleineren Parteien neu zu beleben, waren vorher gescheitert.
Draghi wird nun ein Kabinett von Technokraten zusammenstellen und sich um eine Mehrheit im Parlament bemühen. Dass er diese bekommt, ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. Bisher haben sich nur die faschistischen Fratelli d’Italia klar gegen Draghi und für sofortige Neuwahlen ausgesprochen.
Die Demokraten und Ex-Premier Matteo Renzi, dessen Kleinpartei mit ihrem Rückzug aus der Regierung die Krise ausgelöst hatte, stehen dagegen uneingeschränkt hinter Draghi. „Jetzt ist der Zeitpunkt der Konstruktiven gekommen,“ jubelte Renzi auf Twitter. „Jetzt müssen alle Menschen guten Willens dem Appell von Präsident Mattarella folgen und die Regierung von Mario Draghi unterstützen. Jetzt ist die Zeit für Nüchternheit. Null Polemik. Viva l'Italia.“
Die anderen Parteien lavieren. Die Fünf Sterne, die größte Fraktion im Parlament, steckt in einem Dilemma. Draghi verkörpert das politische Establishment, das sie einst vorgaben zu bekämpfen. Seit sie 2018 in Regierung eingetreten sind, sind sie eine verlässliche Stütze der kapitalistischen Herrschaft. Hinzu kommt die Angst vor dem Mandatsverlust. Infolge sinkender Umfragewerte und einer Verkleinerung des Parlaments würden bei Neuwahlen drei Viertel der Fünf-Sterne-Abgeordneten ihren Sitz verlieren.
Der Führer der rechtsextremen Lega, Matteo Salvini, verlangt zwar vorgezogene Neuwahlen, aber mit wenig Überzeugung. Vor einem knappen Jahr hatte er selbst noch Draghi als Regierungschef vorgeschlagen. Auch jetzt bescheinigt er dem ehemaligen EZB-Chef, dass er „schätzenswert“ sei. Das Problem sei nicht Draghi, „sondern was er tut und für wen er es tut“.
Von Silvio Berlusconis Forza Italia wird erwartet, dass sie Draghi unterstützt. Berlusconi hatte bereits im Voraus versichert, dass er Mattarellas Entscheidung respektieren werde.
Mit Draghi nimmt ein Mann die Zügel der italienischen Politik in die Hand, der wie kein anderer das europäische Finanzkapital verkörpert. 1947 in Rom geboren, studierte er in seiner Heimatstadt Ökonomie und promovierte 1977 am MIT im amerikanischen Cambridge. Seither lehrte er an mehreren Universitäten und bekleidete führende Positionen in staatlichen und privaten Banken. Er war Exekutivdirektor der Weltbank, Generaldirektor des italienischen Finanzministeriums und Vizepräsident der US-Investmentbank Goldman Sachs International in London (2002-2005). Dann übernahm er die Leitung der italienischen Notenbank und anschließend der Europäischen Zentralbank (2011-2019).
Als EZB-Chef wurde Draghis Name zum Synonym für eine Politik, die den Finanzmärkten unbeschränkte Mittel zur Verfügung stellt, während der Lebensstandard der Arbeiterklasse infolge der Spardiktate der Europäischen Union unaufhörlich sinkt. Legendär ist Draghis Satz „Whatever it Takes“, mit dem er 2012 den Geldhahn öffnete, als der Euro an den Finanzmärkten unter Druck geriet. Seither hat die EZB Wertpapiere im Wert von mehreren Billionen Euro aufgekauft, durch niedrige Leitzinsen eine unbegrenzte Refinanzierung der Banken ermöglicht und so den Börsen einen andauernden Höhenflug beschert.
Draghi übernimmt die Führung der italienischen Regierung zu einem Zeitpunkt, an dem das Land in der tiefsten ökonomischen, sozialen und Gesundheitskrise steckt und am Vorabend einer sozialen Explosion steht. Es hat mit 2,6 Millionen Infizierten und 90.000 Toten eine der höchsten Corona-Raten der Welt. Die Arbeitslosenzahlen weisen steil nach oben und die Staatsverschuldung liegt mit 160 Prozent des BIPs fast drei Mal so hoch, wie von der EU erlaubt.
Nun soll Draghi dafür sorgen, dass die 209 Milliarden Euro, die dem Land als Beihilfen und Kredite aus dem Corona-Fonds der EU zustehen, eingesetzt werden, um die italienische Wirtschaft auf Kosten der Arbeiterklasse auf Profit zu trimmen – und nicht um die verheerenden Folgen der Pandemie zu lindern.
Die Neue Zürcher Zeitung, die in solchen Fragen kein Blatt vor den Mund nimmt, kommentiert: „Auf den 73-jährigen Draghi warten Aufgaben, die während zwei Jahrzehnten nicht angepackt oder jedenfalls nicht zu Ende gebracht wurden. Jetzt werden Reformen von der Europäischen Union unmissverständlich eingefordert, weil ohne sie Italien zum systemischen Risiko für die gesamte politische und wirtschaftliche Verfassung Europas zu werden droht.“
Eine solche Politik lässt sich nicht mit demokratischen Mitteln verwirklichen. Präsident Mattarella forderte die Parteien und ihre Abgeordneten in einem dramatischen Appell auf, „sofort eine neue Regierung ins Leben rufen, die in der Lage ist, die ernsten Notlagen zu bewältigen: die gesundheitliche, soziale, wirtschaftliche und finanzielle“.
Wahlen – also eine Mitsprache der Bürger – könne sich das Land gegenwärtig nicht leisten, betonte der Präsident. Sie seien ein zu großes Wagnis in dieser Zeit der Pandemie. Italien könne es sich nicht leisten, monatelang in den Wahlkampfmodus zu schalten, mit allen Risiken, die das beinhaltet. Die kommenden Monate seien entscheidend. „Dies bedarf einer Regierung in voller Funktionsfähigkeit,“ betonte er.
Eine solche Regierung wäre eine Diktatur der Banken. Sie würde die Austeritäts- und Durchseuchungspolitik verschärfen und damit den faschistischen Kräften weiter Auftrieb geben.
Nur das unabhängige Eingreifen der Arbeiterklasse kann die Hinwendung der herrschenden Klasse zu Diktatur und Faschismus in Italien und ganz Europa stoppen. Die Wut und Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse ist enorm. Aber ihr fehlt eine politische Perspektive und Führung. Die Demokraten, ihr pseudolinkes Umfeld und die Gewerkschaften haben seit den 1990er Jahren alle sozialen Kämpfe unterdrückt und eine Politik im Interesse des Kapitals verfolgt. Davon haben die rechtesten Kräfte profitiert. Lega und Fratelli d’Italia liegen in den jüngsten Umfragen zusammen bei 40 Prozent.
Vor acht Jahren hatten noch die Fünf Sterne das politische Vakuum gefüllt. Mit lautem Geschimpfe auf die Korruption der politischen Eliten gewannen sie auf Anhieb ein Viertel aller Wählerstimmen. Fünf Jahre später verbündeten sich die Fünf Sterne mit der rechtsextremen Lega und bildeten eine gemeinsame Regierung. Und nun verhelfen sie voraussichtlich Draghi an die Macht.
Die Arbeiterklasse muss die Lehren aus diesen Erfahrungen ziehen und ihre eigene Partei – eine Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale – aufbauen. Der Kampf gegen die Corona-Pandemie, Sozialabbau und Faschismus kann nur mit einem internationalen sozialistischen Programm gewonnen werden.