Das Infektionsgeschehen ist an den Schulen längst außer Kontrolle geraten. Oftmals infizieren sich gleich dutzende Schüler und Lehrer an einer Schule. Doch die Bundes- und Landesregierungen haben klar gemacht, dass sie die Schulen um jeden Preis in vollem Umfang offenhalten wollen und Corona-Fälle systematisch vertuschen. Unter diesen Bedingungen beginnen Schüler in ganz Deutschland, den Schutz ihrer Gesundheit und ihrer Familien selbst in die Hand zu nehmen.
Nach Schülerstreiks in Griechenland und Polen und Streiks von Lehrern in Frankreich organisieren Schüler auch in Deutschland in immer mehr Städten Schulstreiks und Proteste. Sie sind nicht länger bereit, sich für eine Politik opfern zu lassen, die den Profitinteressen von milliardenschweren Konzernen Vorrang vor den grundlegendsten Bedürfnissen der Bevölkerung gibt.
Letzten Montag traten die Schüler am Hugo-Kükelhaus-Berufskolleg (HKBK) in Essen in einen „unbefristeten Streik“ für Hybridunterricht, d. h. eine Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht, bei der Klassen geteilt und im Wechsel unterrichtet werden. Die WSWS hat darüber berichtet.
„Wir haben Angst“, schrieb die Schülervertretung des HKBK in einer Erklärung zum Streik. „Angst, Oma und Opa zu infizieren. Angst, uns selber anzustecken. Angst, Menschen zu verlieren, die uns viel bedeuten.“ Während „außerhalb von Schulen die Maßnahmen verschärft“ würden, säßen sie weiter „Tag für Tag über Stunden auf engem Raum zusammen“. Die Essener Schüler richteten einen Appell an ihre Mitschüler an allen „weiterführenden und Schulen und Berufskollegs des Landes, es uns gleich zu tun!“
Die WSWS sprach mit Luisa Maria Cagnazzo, der Schülersprecherin des HKBK, die von einer Reihe bestätigter Fälle an der Schule berichtet. Mit einer Person habe sie persönlich Kontakt gehabt. „Wenn der Unterricht so weiter laufen würde wie bisher, ist es meiner Meinung nach unvermeidlich, dass man sich infiziert“, sagt Luisa. „Die Klassen haben sich nach individueller Klassengröße selbständig in A- und B- Gruppen aufgeteilt. Sie wechseln sich jetzt mit Distanz- und Präsenzunterricht ab, um die Kontakte zu halbieren.“
Luisa berichtet, dass Schülerinnen und Schüler von Behörden, Kultusministerium und Regierung „enorm unter Druck gesetzt werden“, und erklärt: „Viele haben Angst, eine sechs zu bekommen, wenn sie in den Streik treten. Das finde ich nicht richtig. Es geht nicht, dass unser Bildungssystem Schüler dafür bestraft, wenn sie Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitmenschen übernehmen.“
Zu den Gründen, warum Schüler in Gefahr gebracht und unter Druck gesetzt werden, erklärt Luisa: „Die Schulen sollen geöffnet bleiben, um den Regelbetrieb und damit die Wirtschaft aufrechtzuerhalten.“ Der Streik solle zeigen, „dass die Gesundheit von Schülern, Lehrern und ihren Angehörigen wichtiger ist. Bei Infektionsfällen sollte unserer Meinung nach die ganze Klasse in Quarantäne geschickt werden.“ Mehrere Schülervertretungen, „die sich unserem Kampf anschließen wollen“, hätten sich bei ihnen gemeldet.
Auch am Gauß-Gymnasium in Worms haben die Schüler Proteste organisiert, nachdem dort Corona-Fälle, zuletzt in der Oberstufe, bestätigt wurden. Wie die Schüler des HKBK in Essen fordern auch sie Hybridunterricht mit geteilten Lerngruppen, sogenannte A/B-Wochen. „Wir sitzen Arsch an Arsch nebeneinander und haben gar keinen Abstand zueinander“, sagt Can, ein Schüler des Gymnasiums, im Interview mit dem SWR. Seine Mitschülerin Sarah ergänzt: „Ich finde, die Zustände im Moment gehen einfach gar nicht. Die Maßnahmen sind einfach unmöglich.“
Nicht einmal die direkten Sitznachbarn der Infizierten würden in Quarantäne geschickt, berichtet Schülersprecher Emanuel Bauer. Auch seien sie nicht getestet worden. „Und die direkten Sitznachbarn sitzen immer noch hier in der Schule“, erklärt Emanuel. Die Landesregierung aus SPD, FDP und Grünen und das SPD-geführte Bildungsministerium des Landes Rheinland-Pfalz bestehen darauf, dass die Klassen voll bleiben und alle Schüler in Präsenz erscheinen. Auf Anfrage des SWR wollte sich das zuständige Gesundheitsamt nicht äußern und ließ lediglich verlauten, dass alles „regelgerecht“ sei.
In Hessen, wo die Landesregierung für ihre Durchseuchungspolitik besonders berüchtigt ist, haben Schüler die Initiative unverantwortlich.org gegründet. Auf ihrem Instagram-Account sammeln sie Fotostatements von Schülern, die gegen den lebensgefährlichen Regelbetrieb und die Untätigkeit der Bundes- und Landesregierungen protestieren. Die World Socialist Web Site sprach darüber mit Altay, einem Gründungsmitglied der Initiative, der in Hessen die Jahrgangsstufe 12 besucht.
Auch Altay fordert die Einhaltung der vom RKI empfohlenen Corona-Maßnahmen, die eine Halbierung der Klassen ab einer Inzidenz von mehr als 50 Fällen vorsehen. „Außerdem verlangen wir, dass die Unterrichtsversorgung für alle Schüler sichergestellt wird und für einen flächendeckenden Einbau von Luftfiltern gesorgt wird“, erklärt er. „Obwohl es schon mehrere Infizierte an unserer Schule gegeben hat, werden die Maßnahmen des RKI bislang so gut wie gar nicht umgesetzt. Auch ansonsten betreibt man höchstens Symbolpolitik. In Hessen wurden gerade einmal genügend Gelder bereitgestellt, um an jeder Schule zwei Luftfilteranlagen aufzustellen.“
Eindrücklich schildert Altay die Auswirkungen der kriminellen Politik, die in Bund und Ländern gegen die Schüler, Lehrer und Eltern betrieben wird: „Wenn ich morgens in die Schule gehe, fühle ich mich, als ob ich auf eine staatlich verordnete ‚Corona-Party‘ gehen würde. Die Gänge und Mensen sind immer noch vollgestopft. Trotz der Minustemperaturen wird natürlich weiter regelmäßig gelüftet. Als ich heute eine Arbeit geschrieben habe, war mir so kalt, dass ich meine Hände immer wieder in den Schoß pressen musste, um weiterschreiben zu können.“
Über die große Resonanz auf ihre Initiative seien die Gründer von unverantwortlich.org positiv überrascht gewesen. „Unsere Forderungen sind unter Schülern und Lehrern im Wesentlichen Common Sense. Die Schülerschaft hat unsere Forderungen mit überwältigender Mehrheit unterstützt, und auch in der Bevölkerung haben wir breiten Rückhalt erfahren. Viele Leute haben sich bei uns gemeldet und uns persönlich gedankt, darunter auch Eltern.“
Unterstützt werden die Schüler auch von Lehrern aus Hessen. „Wir können so nicht weitermachen, das Risiko, sich anzustecken, und die psychische Belastung für alle Beteiligten sind zu groß“, erklärt Wolfgang Kuhn, Lehrer an der beruflichen Martin-Luther-King-Schule, gegenüber der HNA.
Viele weitere Kommentare von Lehrern in den sozialen Medien machen deutlich, dass die angebliche Sorge der Kultusminister um „Kindeswohl“ und Bildungsungleichheit mit der Realität nichts zu tun hat. Im Gegenteil hat die jahrzehntelange Sparpolitik in der Bildung – durchgesetzt von allen Bundestagsparteien – die jetzige Situation erst geschaffen. Die Politik des hessischen Kultusministeriums mache in „fassungslos“, erklärt Kuhn.
Mit Blick auf die Massenproteste von Schülern und Lehrern in Griechenland, Polen und Frankreich sagt Altay von unverantwortlich.org: „Wir erklären uns solidarisch mit allen unseren Mitschülern auf dieser Erde, die für ihre Rechte und ihre Gesundheit kämpfen.“
Um diese Kämpfe miteinander zu verbinden, müssen Schüler Aktionskomitees für sichere Bildung aufbauen. Alle etablierten Parteien – von der AfD bis zur Linkspartei – treiben mit einer Mischung aus politischen und administrativen Zwangsmaßnahmen und Vertuschung des Infektionsgeschehens die Durchseuchungspolitik voran. Die Aktionskomitees müssen daher sowohl von den Parteien als auch den Gewerkschaften, die diese Politik mal „kritisch“ begleiten und oftmals an vorderster Front mit durchsetzen, vollkommen unabhängig sein.
Tamino, Gründungsmitglied eines Netzwerks von Aktionskomitees in Karlsruhe, sagt mit Blick auf die anhaltende Durchseuchungspolitik, die von allen Parteien vertreten wird: „Das zeigt, denke ich, einfach mal wieder, dass der Kapitalismus nicht ethisch ist und in keinster Weise ein System der Vielen, der Massen ist, sondern lediglich ein System des Einen-Prozent, das sogar massives Sterben unter den Massen zum Wohle der Ein-Prozent zulässt. Damit ist er weder moralisch, noch demokratisch.“
Berdan, der nicht weit vom HKBK an einem Dortmunder Berufsschulzentrum zur Schule geht und dort bereits im August ein Aktionskomitee mitgegründet hat, erklärt: „Das ist das Wesen des Kapitalismus. Es hat mich nicht gewundert, dass die Herrschenden Menschenleben aufs Spiel setzen, dies kam zu oft in der Vergangenheit vor.“
Angesichts der rapiden Ausbreitung des Virus in den Klassen und Schulgebäuden dürfen Schüler keine Zeit verlieren. Sie müssen die Streiks ausweiten und erkennen, dass sie letztlich im Konflikt mit dem Kapitalismus stehen und dieser bereit ist, die Gesundheit und das Leben einfacher Schüler, Lehrer und Eltern für die Interessen der Wirtschafts- und Finanzeliten zu opfern. Aus dieser Erkenntnis können nur antikapitalistische, d. h. sozialistische Schlussfolgerungen gezogen werden.
Die International Youth and Students for Social Equality vertreten eine sozialistische und internationale Strategie für einen europaweiten Schulstreik. Um der Durchseuchungspolitik der herrschenden Eliten entgegenzutreten und die humanitäre Katastrophe zu beenden, die sich in allen Ländern Europas und der Welt entwickelt, müssen Aktionskomitees von Schülern, Lehrern und Eltern aufgebaut werden, die einen Generalstreik vorbereiten.
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