Die nigerianische Regierung lässt die Proteste gegen Polizeigewalt blutig niederschlagen, die seit zwei Wochen das Land erschüttern. Am Dienstagabend setzte sie Soldaten ein, die mit scharfer Munition auf friedliche Demonstranten schossen. Sie versuchen, eine Bewegung zu unterdrücken, die immer mehr zu einer Gefahr für die Macht des korrupten bürgerlichen Staats unter Führung des ehemaligen Generals und Putschisten, Präsident Muhammadu Buhari, wird.
Twitter-Posts zeigen Protestierende, die bei einem Militärangriff in Lagos getötet oder verwundet wurden. Eine große Menschenmenge hatte die Mautstellen an der Lekki-Ikoyi-Brücke blockiert und eine Schnellstraße lahmgelegt, die die Insel Lagos mit dem Festland von Nigerias Millionenstadt verbindet, das wichtige Handels- und Verkehrszentrum des Landes. Das gesamte Ausmaß des Massakers ist zwar noch nicht klar, aber ein Augenzeuge berichtete gegenüber der BBC, er habe mindestens 20 Leichen und mehr als 50 Verwundete gesehen. Bevor die Truppen einrückten, ließen sie alle Lichter und Überwachungskameras an der Mautstelle ausschalten.
Berichten zufolge haben Soldaten Leichen weggebracht, um die hohe Opferzahl zu vertuschen. Ein Arzt sagte, sie würden Verwundete aus einem nahegelegenen Krankenhaus evakuieren – aus Angst, dass Soldaten kommen, um sie zu töten.
Die Behörden von Lagos kündigten am Dienstag eine 24-stündige Ausgangssperre an und erklärten: „Wir werden keine Anarchie in unserem Staat zulassen.“ Zuvor hatte die nigerianische Armee bereits gewarnt, dass sie bereit sei, gegen „subversive Elemente und Unruhestifter“ einzuschreiten.
Trotzdem blockierten weiterhin Menschenmassen die Hauptstraßen, darunter auch den Zugang zum internationalen Flughafen von Lagos. Zeugen berichteten, dass am Dienstag eine Polizeistation im Stadtteil Orile Iganmu in Brand gesteckt wurde. Während die Ausgangssperre um 16 Uhr beginnen sollte, verlängerten die Behörden die Frist bis 21 Uhr, weil Massen von Menschen die Sperre missachteten.
Die Proteste begannen mit der Forderung nach der Auflösung der verhassten Eliteeinheit der nigerianischen Polizei, SARS (Special Anti-Robbery Squad), die berüchtigt dafür ist, nigerianische Zivilisten, vor allem Jugendliche, zu foltern, zu erpressen und zu ermorden. Jetzt ist die Bewegung weiter angewachsen.
Die Regierung unter Buhari behauptete letzte Woche, dass sie SARS aufgelöst und durch eine neue Einheit – die Special Weapons and Tactics (SWAT) – ersetzt habe. So heißen auch die Elite-Mordkommandos der Polizei in den Vereinigten Staaten. Der nigerianische Präsident erklärte, er würde sich für eine „Polizeireform“ einsetzen und die protestierenden Jugendlichen wie seine eigenen Kinder betrachten. Die brutale Reaktion der Regierung beweist allerdings das Gegenteil.
Dutzende haben bei den Protesten ihr Leben verloren, viele weitere wurden festgenommen. Ein 17-jähriges Mädchen namens Saifullah beendete ihr Leben in einer Gefängniszelle im nördlichen Bundesstaat Kano, nachdem sie mutmaßlich zu Tode gefoltert wurde.
Die Regierung hat Schlägerbanden angeheuert, die mit Knüppeln und Messern gegen die Demonstranten vorgehen. Viele wurden schwer verwundet. Die Polizei selbst hat die Demonstranten mit Tränengas, Wasserwerfern und scharfer Munition angegriffen.
Die Proteste gegen SARS-Polizeieinheiten begannen 2017 oder sogar früher. Die Regierung hat wiederholt behauptet, sie habe die Einheit „reformiert“, obwohl die Polizisten völlig ungestraft weiter wüten. Laut einem Bericht von Amnesty International ist die SARS-Polizei regelmäßig an außergerichtlichen Tötungen, Entführungen und Vergewaltigungen beteiligt, ebenso wie „Folter einschließlich Erhängen, Scheinhinrichtungen, Schlagen, Prügeln und Treten, Verbrennen durch Zigaretten, Waterboarding, beinahe Erstickung mit Plastiktüten, sexueller Gewalt und der Nötigung der Verhafteten, belastende Körperhaltungen einzunehmen“.
Die Massenproteste werden nicht nur vom tiefen Hass auf die repressive und korrupte Polizei getrieben, sondern auch von der weit verbreiteten Wut über Massenarbeitslosigkeit, Armut und eine beispiellose soziale Ungleichheit. In Nigeria, das mit 206 Millionen Menschen das größte Land Afrikas ist, haben sich diese seit langem vorherrschenden Bedingungen durch die Corona-Pandemie und die katastrophale und inkompetente Reaktion der Regierung drastisch verschärft. In völliger Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Arbeiter setzt die Elite alles daran, die Wirtschaft komplett zu öffnen.
Laut Oxfam verfügen die drei reichsten Milliardäre Afrikas – Aliko Dangote aus Nigeria an der Spitze – über mehr Vermögen als die untere Hälfte der Bevölkerung – 650 Millionen Menschen in ganz Afrika. Die fünf reichsten Nigerianer haben demnach zusammen ein Nettovermögen von 29,9 Milliarden Dollar, was ausreichen würde, um 112 Millionen Nigerianer aus der Armut zu befreien.
Der Aufstand in Nigeria hat tiefe historische Wurzeln, die bis zur kolonialen Unterdrückung durch das britische Empire zurückreichen. Das Vereinigte Königreich gewährte die Unabhängigkeit 1960 nur im Rahmen einer Vereinbarung, mit der Königin Elizabeth Monarchin und Staatsoberhaupt von Nigeria bleiben konnte. Weit davon entfernt, die Befreiung der unterdrückten Massen einzuleiten, war dieses Abkommen – wie ähnliche Vereinbarungen in anderen afrikanischen Ländern – der Moment der aufstrebenden nationalen Bourgeoisie, die eifrig daranging, den von den Kolonialisten ererbten Staats- und Unterdrückungsapparat zu übernehmen. Sie verteidigten die künstlich gezogenen Grenzen, die sie als Garantie für ihren eigenen Reichtum und Macht geschaffen hatten.
Die ersten vier Jahrzehnte der Unabhängigkeit waren geprägt von ständigen Militärcoups und erbitterten Bürgerkriegen, darunter der Biafra-Konflikt, der 3,5 Millionen Menschen das Leben kostete, vor allem Kinder, die verhungerten.
Die Kämpfe innerhalb der nigerianischen Bourgeoisie, die bis heute andauern, drehen sich vor allem darum, wer am meisten vom Ölreichtum des Landes profitiert, der 90 Prozent der Deviseneinnahmen und 80 Prozent der Staatseinnahmen ausmacht und weitgehend von transnationalen Energiekonzernen kontrolliert wird, darunter Royal Dutch Shell, Agip, ExxonMobil, Total S.A. und Chevron.
Die bitteren Erfahrungen in Nigeria, wie in ganz Afrika und allen ehemaligen Kolonialgebieten, haben die Theorie der permanenten Revolution im Negativen bestätigt. Sie wurde von dem großen russischen Revolutionär Leo Trotzki entwickelt und von der 1938 gegründeten Vierten Internationale verteidigt. Trotzki erklärte, dass der Kampf gegen den Imperialismus in kolonialen und unterdrückten Ländern nur vorwärts gehen kann, wenn er von der Arbeiterklasse angeführt wird und wenn sie die Macht erobert. Erst dann können eine echte nationale Befreiung errungen und demokratische und soziale Rechte für die Arbeiter und unterdrückten Massen gesichert werden. Diese Revolution ist permanent, da die Arbeiterklasse, nachdem sie die Macht ergriffen hat, sich nicht auf demokratische Aufgaben beschränken kann, sondern gezwungen sein wird, sozialistische Maßnahmen einzuführen. Die Revolution ist außerdem in einem zweiten Sinne permanent, denn sie kann nur in dem Maße siegreich sein, wie sie sich in einen vereinten Kampf der internationalen Arbeiterklasse für die sozialistische Weltrevolution ausweitet.
Die Bedingungen für einen solchen gemeinsamen internationalen Kampf entwickeln sich rasant. Die objektive Grundlage dafür liegt in der beispiellosen globalen Integration der kapitalistischen Produktion und den immer ähnlicheren Bedingungen, mit denen die Arbeiter aller Länder konfrontiert sind.
Dass die Massenproteste gegen Polizeimorde und Gewalt in Nigeria, den Vereinigten Staaten, Chile, Kolumbien und anderen Ländern gleichzeitig stattfinden, beweist in aller Deutlichkeit, dass in diesen Kämpfen die Klassenfrage, nicht die Hautfarbe, entscheidend ist. Die Demokratische Partei und ihre pseudolinken Satelliten in den USA versuchen mit ihrer Identitätspolitik, eine vereinte Bewegung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus in die Irre zu leiten und zu ersticken.
Die nigerianischen Demonstranten ließen sich eindeutig von den multiethnischen Massenprotesten inspirieren, die nach den Polizeimorden an George Floyd, Breonna Taylor und anderen in den USA ausgebrochen waren. In Nigeria verbreiteten sie aber den Slogan „Our Lives Matter“ und sprachen damit für die Arbeiter und Jugend in Nigeria und weltweit.
Die Polizei schützt das Privateigentum an den Produktionsmitteln und den obszönen Reichtum, den die Finanz- und Konzernoligarchen und die privilegiertesten Teile der oberen Mittelschicht angehäuft haben. Sie wacht über die gähnende Kluft der sozialen Ungleichheit, die die herrschende Elite von den Massen der Arbeiter und Unterdrückten trennt.
In jedem Land erfordert ein Ende der Polizeigewalt einen Kampf gegen den Kapitalismus, der nur dann erfolgreich geführt werden kann, wenn die Arbeiterklasse über alle Grenzen der Hautfarbe, Ethnien, Geschlechter und Nationen hinweg in einem gemeinsamen Kampf für den Sozialismus vereint wird.
Nicht nur in Nigeria, sondern in ganz Afrika und weltweit entsteht eine mächtige revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse. Die große Aufgabe ist es, dieser Bewegung eine politische und programmatische Orientierung zu geben. Das erfordert den Aufbau von Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) in jedem Land.