Österreich: Trotz steigender Coronainfektionen kein Schutz für Bevölkerung

Österreich hat in Europa eine Vorreiterrolle bei der Aufhebung der Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus gespielt. Nun steigt die Zahl der Neuinfektionen wieder massiv an. Die Regierung von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) reagiert, indem sie die Interessen der Wirtschaft weiterhin über das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung stellt.

Am Samstag verzeichnete Österreich 395 Neuinfektionen, der höchste Zuwachs seit April und rund 100 Fälle mehr als am Vortag. Insgesamt haben sich österreichweit laut offiziellen Zahlen mittlerweile über 27.000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, 733 sind verstorben und 30 werden aktuell intensivmedizinisch betreut.

In Relation zur Einwohnerzahl liegt Österreich damit bei den täglichen Neuinfektionen in Europa im oberen Bereich. In Deutschland, das neun Mal so viele Einwohner zählt, liegen die täglichen Neuinfektionen derzeit bei rund 1500.

Der drastische Anstieg ist europaweit zu beobachten. In Deutschland wurde im August die höchste Zahl von Neuinfektionen seit dem Frühjahr gemeldet. In Frankreich wurden zuletzt mehr als 6000 Neuinfektionen pro Tag registriert.

Während Kroatien und andere Balkanländer zu Hotspots werden, schloss Ungarn wegen rasant steigender Infektionen seine Grenzen zu den Nachbarländern. Die rechtsextreme Regierung von Victor Orban nutzt die Maßnahme, um inmitten der aufflammenden Pandemie weiter Nationalismus zu schüren. Während die Regierung Ausländer und Flüchtlinge beschuldigt, den Coronavirus zu verbreiten, werden ab 1. September die Schulen ohne besondere Sicherheitsmaßnahmen wieder geöffnet.

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz reagierte am Freitag mit einer „Erklärung zur aktuellen Lage“ auf die drastische Zunahme der Infektionen. Er ging kaum auf den Anstieg der Coronafälle und die prekäre Situation vieler Österreicher ein, die aufgrund der Pandemie ihre Arbeitsplätze verloren oder Lohneinbußen erlitten haben und kaum noch über die Runden kommen. Stattdessen versprach er weitere Gelder und Entlastungen für Unternehmen und die Reichen im Land.

Er erklärte, Österreich werde rund sieben Prozent seiner Wirtschaftsleistung einbüßen, doch im nächsten Jahr werde das „Comeback“ kommen. Damit dies gelinge, müsse neben den bestehenden 50 Milliarden an Rettungs- und Hilfsmaßnahmen die Attraktivität des Standorts weiter gestärkt werden. Die Wirtschaft müsse vielfältig entlastet werden. Dazu zählten Steuerentlastungen für Unternehmen. Auch weitere Hilfspakete seien nicht ausgeschlossen.

Dagegen sind keinerlei Unterstützungsmaßnahmen für die steigende Zahl von Arbeitslosen geplant oder für Menschen, die durch Kurzarbeitergeld in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind.

Wirtschaftsvertreter lobten Kurz für seine Rede. Die Wirtschaftskammer kommentierte, er vertrete „zum richtigen Zeitpunkt eine nachhaltige Standortstrategie“. Ähnlich äußerte sich die Industriellenvereinigung. Kurz seinerseits brüstete sich, er habe während der letzten Monate intensive Gespräche mit zahlreichen Wirtschaftsvertretern geführt.

Wie Die Presse berichtete, waren die Infineon-Vorstandsvorsitzende Sabine Herlitschka, Voestalpine-Chef Herbert Eibensteiner, Andritz-CEO Wolfgang Leitner, Boehringer Ingelheim-Generaldirektor Philipp Lattorff, Deutsche-Bank-Aufsichtsratschef Paul Achleitner und die Österreich-Chefs von Google, Microsoft und Apple sowie Vertreter der Energie- und Telekommunikationsbranche im Kanzleramt zu Gast. Zwar wurde über den Inhalt der Gespräche nichts bekannt, aber es dürfte klar sein, dass es darum ging, die Last der Pandemie auf die Bevölkerung abzuwälzen.

Aus demselben Grund war der Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbunds, Wolfgang Katzian, zu Gesprächen bei Kurz. Die Gewerkschaften vermeiden seit Beginn der Coronakrise jede Kritik an der Regierung.

Gleichzeitig machte Kurz klar, dass es keine Neuauflage von Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung geben werde. Auf konkrete Fragen antwortete der Kanzler, über „weitere Maßnahmen“ solle nächste Woche entschieden werden. Klares Ziel sei es, „einen Lockdown zu verhindern“.

Die österreichische Regierung hatte bereits Anfang Mai nahezu alle Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus aufgehoben. Trotz der raschen Ausbreitung der Pandemie in ganz Europa galt die Kurz-Regierung als Vorreiter bei der „Lockerungspolitik“, die nun für immer mehr Menschen tödlich endet.

Seit Januar regiert Kurz in einer Koalition mit den Grünen, nachdem seine Koalition mit der rechtsextremen FPÖ im Vorjahr auseinandergebrochen war. Doch am arbeiterfeindlichen Kurs der Regierungspolitik hat dies nichts geändert. Die Grünen setzten im Wesentlichen die rechte Politik der FPÖ fort.

Der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober, dessen Ministerium eine Hauptverantwortung für die massive Ausbreitung der Infektionen trägt, schob die Schuld in übler Weise auf Jugendliche, denen er fehlendes „Risikobewusstsein“ unterstellte. Tatsächlich ist es die Regierung, die trotz besseren Wissens jede Art von Schutzmaßnahme ablehnt.

Wie das Nachrichtenmagazin Profil berichtet, besteht das österreichische Unterrichtsministerium darauf, dass es trotz Infektionsgefahr keine Maskenpflicht im Unterricht gibt. Als die polytechnische Schule in Wien Währing den Erlass des Ministers umgehen und über die Hausordnung eine Maskenpflicht während des Unterrichts einführen wollte, reagierte prompt eine Sprecherin von Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) und erklärte, dies sei „keine Option“.

Die Schule argumentiert laut Profil, dass der Corona-Abstand zwischen den Schülern nicht gewährleistet werden könne. Die Maskenpflicht solle nur in den Pausen fallen oder wenn maximal 15 Schüler im Raum seien. Das Ministerium verwies dagegen auf den Erlass, der keine Masken im Unterricht vorsieht, wohl wissend, dass die Schulen damit zu Hotspots für Übertragungen werden.

Aber nicht nur ÖVP und Grüne lehnen den Schutz von Arbeitern und Jugendlichen kategorisch ab, auch alle anderen Parteien stimmen in dieser Frage überein. Die sozialdemokratische SPÖ, die in der Hauptstadt gemeinsam mit den Grünen regiert, fordert zwar öffentlich Hilfen für das angeschlagene Gesundheitswesen, tatsächlich spielt die Landesregierung die steigenden Infektionszahlen aber herunter und stimmt mit den wirtschaftsfreundlichen Maßnahmen der Bundesregierung überein.

Zu den steigenden Infektionszahlen in Wien erklärte Vize-Bürgermeisterin Birgit Heiben (Grüne), Wien sei eine Millionenstadt und teste sehr viel, was der Grund für die hohen Zahlen sei.

Dabei zeigen immer mehr Studien, dass die abgeschafften Schutzmaßnahmen eine Verbreitung des Virus verhindern könnten. „Sobald die Schutzmaßnahmen zurückgenommen werden, ziehen die Fälle wieder an“, sagte die Virologin Judith Aberle dem Standard.

Eine Studie, die Philips Austria in Auftrag gab, hat darüber hinaus den massiven Mangel an Pflegefachkräften in Österreich ans Licht gebracht. Mit 713 Pflegekräften pro 100.000 Einwohner war im Jahr 2018 deutlich weniger Personal im Einsatz als in vergleichbaren europäischen Ländern. In Deutschland waren es 1351 und in Dänemark 1046 Pflegekräfte.

Zudem ist die Personaldichte seit 2008 kaum gestiegen, und das gesamte nicht-medizinische Gesundheitspersonal wird nicht adäquat eingesetzt, merkte das Portal boerse-express dazu an. Bei einer Zunahme der Krankenhausaufnahmen infolge der Coronainfektionen wird das Gesundheitssystem damit schnell an seine Grenzen kommen und eine adäquate Versorgung nicht mehr sichergestellt sein.

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