Am Sonntagabend brachen in Kenosha im US-Bundesstaat Wisconsin Proteste aus, nachdem ein noch nicht identifizierter Polizeibeamter aus der Stadt einen unbewaffneten afroamerikanischen Vater von drei Kindern, den 29-jährigen Jacob Blake, niedergeschossen hatte. Der Polizist schoss Blake sieben Mal aus nächster Nähe in den Rücken, als dieser versuchte, in sein Fahrzeug einzusteigen, in dem seine Kinder im Alter von drei, fünf und acht Jahren saßen.
Das Video, das in weniger als 24 Stunden millionenfach über verschiedene soziale Netzwerke angesehen wurde, löste einen Ausbruch sozialer Wut in Kenosha und im ganzen Land aus. Es kam zu Demonstrationen gegen die nicht endende Brutalität der Polizei.
Blakes Vater sagte am Montag, dass sein Sohn nach wie vor in kritischem Zustand im Froedtert-Krankenhaus in Milwaukee liegt.
Drei Monate sind vergangen, seitdem die tödlichen Schüsse von Polizisten gegen George Floyd in Minneapolis Massenproteste auslösten, an denen sich Menschen aller Hautfarben und ethnischer Abstammung beteiligten. Doch auch wenn kapitalistische Politiker sich zu „Black Lives Matter“ bekennen, Reformen versprechen und einzelne Solidaritätsaktionen mit knienden Polizisten stattfinden, ist und bleibt die Polizei ein Instrument der Klassenherrschaft. Aller Voraussicht nach wird die amerikanische Polizei 2020 das sechste Jahr in Folge mehr als 1.000 Menschen töten, die Washington Post hat in diesem Jahr bisher 651 tödliche Schüsse durch Polizisten verzeichnet.
Das Justizministeriums von Wisconsin gab innerhalb weniger Stunden nach den Schüssen auf Blake eine Erklärung ab, wonach eine Untersuchung eingeleitet werde mit dem Ziel, „dem Staatsanwalt innerhalb von 30 Tagen einen Bericht über den Vorfall vorzulegen“, wonach der Staatsanwalt eine Entscheidung darüber treffen werde, „welche Anklagepunkte angemessen sind, falls es zur Anklage kommt“.
Zwei nicht näher identifizierte Polizeibeamte aus Kenosha sind beurlaubt, die Untersuchung wird sich vorrangig auf Zeugenaussagen und Videomaterial aus sozialen Medien stützen.
Laut Lokalpresse ist die Polizeibehörde der Stadt eine von landesweit 440 Diensstellen, die keine Körperkameras verwenden. Die Anschaffung und der Einsatz sind frühestens 2022 geplant.
Gouverneur Tony Evers von der Demokratischen Partei versuchte den Klassencharakter der Polizeigewalt durch eine rassistische Interpretation zu verschleiern und machte den „Rassismus in unserem Staat und unserem Land“ für die Tat verantwortlich.
Der demokratische Präsidentschaftskandidat und führende Architekt des modernen US-Strafrechtssystems Joe Biden, der Anfang des Jahres als Lösung für die nicht enden wollenden Polizeigewalt empfahl, dass Polizisten „ins Bein statt ins Herz schießen“ sollten, forderte ebenfalls eine „vollständige und transparente Untersuchung“ sowie Schritte, um „den systemischen Rassismus abzubauen“.
Am Montag erließ Evers eine Verordnung, in der er eine Sondersitzung des Parlaments für den 31. August forderte, um eine Reihe von Gesetzen zu beraten, die Evers im Sommer eingebracht hatte und die kaum zur Eindämmung des Polizeiterrors beitragen werden. Unter den Maßnahmen findet sich eine „landesweite Strategie der Gewaltanwendung“, ein Verbot von Würgegriffen und „Deeskalationstraining“.
Gleichzeitig kündigte Evers an, er werde 125 Soldaten der Nationalgarde von Wisconsin nach Kenosha entsenden, um „die Infrastruktur zu bewachen und sicherzustellen, dass unsere Feuerwehrleute und andere Beteiligte geschützt werden“. „Andere Beteiligte“ meint die Polizei, mit der das Militär eng zusammenarbeiten wird, um Demonstrationen zu unterdrücken und Demonstranten festzunehmen, die sich der Ausgangssperre widersetzen.
Die Spannungen in der verarmten deindustrialisierten Stadt im Südosten von Wisconsin mit einer Arbeitslosenquote von 9,9 Prozent blieben den ganzen Montag über auf Messers Schneide, nachdem eine Pressekonferenz mit Bürgermeister John Antaramian am Nachmittag in zu einem weiteren Schauplatz von Polizeibrutalität wurde. Die Bereitschaftspolizei setzte Pfefferspray gegen die versammelte Menge von Journalisten sowie Bürgerinnen und Bürgern ein, die Zutritt zu dem Gebäude und zur Pressekonferenz forderten.
Später am Montagabend feuerte die Polizei in Montur Tränengas, Gummigeschosse und Pfefferbomben auf die Demonstranten ab, die sich vor dem Gerichtsgebäude der Stadt versammelt hatten, obwohl ab 20 Uhr eine Ausgangssperre galt. Zur Unterstützung der Polizei wurden Humvees der Nationalgarde eingesetzt.
Die Ereignisse, die zu den Schüssen am Sonntag führten, sind noch immer ungeklärt. Die Behörden versuchen, den öffentlichen Ärger zu zerstreuen, während eine offizielle Rechtfertigung ausgeheckt wird. Es ist bekannt, dass die Schüsse um 17.11 Uhr auf der Nordseite der Stadt an der 40th St. und 28th Ave. fielen. Nach Angaben der Behörden wurde die Polizei als Reaktion auf einen „häuslichen Zwischenfall“ entsandt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist jedoch unklar, wer genau die Polizei gerufen hat oder warum sie überhaupt Blake angriffen.
Zeugen und der Anwalt von Blake, Benjamin Crump, sagen, dass Blake, der selbst als Sicherheitsmann arbeitet, einen Streit zwischen zwei erwachsenen Frauen beendet hat. Stella London, die mit ihren Töchtern in der Nachbarschaft wohnt, vermutet, der Vorfall habe wegen eines zerkratzten Autos begonnen. Als die Polizei auftauchte, hätten die Beamten „einfach angenommen“, dass Blake das Problem sei, sagte sie gegenüber der Washington Post.
La-Ron Franklin, die mit ABC7 spricht, sagt, sie habe „einige junge Frauen im Streit gesehen“. Franklin sah dann „einen Gentleman, der den Streit unterbrach. Als er sich abwandte, um seine Kinder zu holen, schoss der Polizist sieben Mal auf diesen Mann.“
Blakes Verlobte Laquisha Booke sagte gegenüber ABC7, das Blake keine Waffe trug. „Das macht keinen Sinn, jemanden so zu behandeln, der unbewaffnet ist, mit schreienden Kindern auf dem Rücksitz“, sagte sie.
Nach den Schüssen versammelte sich schnell eine Menschenmenge um die Polizisten. Die Polizei war gezwungen, sich zurückzuziehen. Hunderte Menschen zogen dann vor die örtliche Polizeistation und forderten die Verhaftung des Schützen.
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Als die Gruppe von Menschen aller Hautfarben am Polizeirevier ankam, wurde ihr befohlen, sich zu zerstreuen. Dann traf eine Salve von Gummigeschossen und Tränengas die Demonstranten. Die Polizei versuchte, den Demonstranten mit Müllwagen den Weg zu versperren. Als die Nacht hereinbrach, wurden die Wagen jedoch in Brand gesteckt. Wütende Demonstranten blieben vor dem Gebäude für öffentliche Sicherheit im Bezirk Kenosha auf der Straßen und riefen „No Justice, no peace“ (Keine Gerechtigkeit, kein Frieden).
Hunderte von Demonstranten blieben auf den Straßen und widersetzten sich der hastig verhängten Ausgangssperre am Sonntagabend um 22.15 Uhr. Als Reaktion darauf wurden Eingreiftruppen sowie Bereitschaftspolizei und ein gepanzertes Fahrzeug eingesetzt, um die Ausgangssperre durchzusetzen, wobei die Polizei bis weit nach 1 Uhr morgens Tränengas und Gummigeschosse auf die Demonstranten abfeuerte.
Neben Kenosha fanden am Wochenende in mehreren US-Städten Demonstrationen gegen Polizeigewalt statt, unter anderem in Madison in Wisconsin, Louisville in Kentucky, Detroit in Michigan, Portland in Oregon und Lafayette in Louisiana, wo der 31-jährige Trayford Pellerin am Freitagabend vor einer Tankstelle von der Polizei erschossen wurde. Pellerin, der schwarz war, starb, nachdem mehrere Polizeibeamte 11 Schüsse auf ihn abgefeuert hatten, als er die Tankstelle betreten wollte.
Die Polizei wurde angeblich zum Tatort gerufen, nachdem jemand einen Mann gemeldet hatte, der mit einem Messer in der Hand herumlief. Auf dem Handy-Video ist Pellerin zu sehen, wie er auf die Tankstelle zugeht, während die Polizei zu Fuß und in Fahrzeugen die Verfolgung aufnimmt. Als Pellerin nach der Tür greift, werden Schüsse aus mehreren Waffen abgefeuert.
Rickasha Montgomery, die die Schießerei gefilmt hat, sagte, sie habe gesehen, wie die Polizei Pellerin mit einem Taser einen Elektroschock verpasst habe, bevor sie ihn erschoss. Wie bei der Erschießung von Blake stand keiner der beiden Männer den Polizisten gegenüber, geschweige denn dass sie gewalttätig gewesen wären. Beide wurden jedoch selbst mit tödlicher Gewalt angegriffen.
Als sich die Nachricht von den Schüssen verbreitete, fanden das ganze Wochenende und bis in den Montag hinein Proteste statt in der viertgrößten Stadt im Bundesstaat Louisiana. Drei Demonstranten wurden am Samstagabend verhaftet, nachdem die Polizei die Versammlung auflösen wollte. Die Polizei feuerte in Kampfmontur Tränengas und Rauchbomben in die Menge der Demonstranten. Am Sonntag belagerten fast 200 Demonstranten bis in den Abend hinein das Rathaus von Lafayette und skandierten: „Back turned, don’t shoot!“ (Schießt nicht in den Rücken!)