75 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus erhebt der Faschismus in Deutschland wieder sein Haupt und wird von Politik und Staat gefördert. 2018 jagten Rechtsradikale in Chemnitz Ausländer und griffen ein jüdisches Restaurant an. 2019 griff ein rechter Terrorist die Synagoge in Halle an. Im selben Jahr erreichte die Zahl antisemitischer Straftaten den höchsten Stand seit Beginn ihrer statistischen Erfassung vor zwanzig Jahren; an jedem Tag wurden im Schnitt fünf bis sechs antisemitische Straftaten verübt.
Warum kommt mit der Krise des Kapitalismus der Antisemitismus wieder auf, was sind seine Wurzeln? Abraham Léon hat in seinem Buch „Die jüdische Frage“ Anfang der 1940er Jahre eine marxistische Antwort auf diese Fragen gegeben. Zusammen mit den Schriften Leo Trotzkis zum Nationalsozialismus ist die Arbeit Léons heute sehr lesenswert.
Abraham Léons Buch „Die jüdische Frage“ kann als E-Book in allen Formaten auf der Website des Mehring Verlags unter diesem Link gekauft werden.
Die gedruckte Ausgabe ist hier erhältlich.
Dies ist die redaktionelle Notiz des Verlags zum Autor und seinem Werk:
Abraham Wejnstok, der sich später Abraham Léon nannte, wurde 1918 in Warschau geboren. Als er das Schulalter erreichte, emigrierte die Familie nach Palästina. Doch der Aufenthalt dauerte nur ein Jahr. Sie musste nach Polen zurückkehren, um dann 1926 endgültig nach Belgien auszuwandern.
Dort schloss sich Abraham noch als Schüler der zionistischen Jugendbewegung „Hashomer Hatzair“ an. Diese versuchte, die Perspektive eines eigenen Staats für das jüdische Volk mit sozialistischen Vorstellungen zu verknüpfen. Sie war der Ansicht, dass die Schaffung eines jüdischen Nationalstaats die Voraussetzung für die Teilnahme der jüdischen Arbeiter am Kampf für den Sozialismus sei. Léon verschrieb sich der politischen Arbeit mit Leib und Seele, stieg rasch in die nationale Führung auf und amtierte ein Jahr lang als Vorsitzender der Brüsseler Föderation der zionistischen Jugend.
Während Europa immer tiefer im nationalistischen Strudel versank und sich die Tragödie der Juden bedrohlich am Horizont abzeichnete, löste sich Léon nach und nach von den nationalistischen Vorstellungen des Zionismus und gelangte zur Überzeugung, dass die Lösung der jüdischen Frage untrennbar mit der Verwirklichung des Sozialismus im Weltmaßstab verbunden sei. Er brach schließlich mit „Hashomer Hatzair“ und schloss sich der trotzkistischen Vierten Internationale an, deren belgische Sektion er während des Zweiten Weltkriegs leitete.
Léons erste Kontakte mit der trotzkistischen Bewegung gingen auf das Jahr 1936 zurück. Damals hörte er den belgischen Trotzkisten Walter Dauge während einer großen Streikwelle im wallonischen Bergbau zu Arbeiterversammlungen sprechen. Er überzeugte sich rasch von der Richtigkeit der Standpunkte Trotzkis im Kampf gegen Stalin und betrachtete sich fortan auch in seiner eigenen Organisation, auf die die Stalinisten einen gewissen Einfluss ausübten, als Parteigänger Trotzkis.
Sein endgültiger Bruch mit dem Zionismus dauerte aber noch einige Zeit. Er war nicht der Mann, der über Nacht seine politischen Überzeugungen wechselt. Er eignete sich die neue Weltanschauung an, indem er gründlich mit den theoretischen Voraussetzungen des Zionismus abrechnete und bis zu den historischen Wurzeln der jüdischen Frage vordrang.
Dieser Arbeit verdankt das vorliegende Buch seine Entstehung. Den ersten Entwurf legte Léon Anfang 1940 unter dem Titel „Thesen zur jüdischen Frage“ in seiner zionistischen Jugendorganisation zur Diskussion vor. In den folgenden Jahren entwickelte und ergänzte er ihn.
Léon geht von einem streng materialistischen Standpunkt an die jüdische Frage heran: Nicht die jüdische Religion und Kultur erklärt seiner Ansicht nach, weshalb sich die Juden als gesonderte gesellschaftliche Gruppe erhalten haben, sondern ihre Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser Rolle, wie sie sich über die Jahrhunderte hinweg verändert hat, spürt er in allen Einzelheiten nach und erklärt daraus sowohl den Fortbestand der jüdischen Religion als auch die Wurzeln des Antisemitismus, mit dem andere gesellschaftliche Gruppen wiederholt auf das Judentum reagiert haben.
Die Ursache des modernen Antisemitismus, der im Rassenwahn der Nazis seine extremste Form fand, entdeckt er im Niedergang der kapitalistischen Gesellschaft. Hatte der Kapitalismus in seiner Aufstiegsphase die Juden noch assimiliert und integriert, so erweist er sich dazu in seiner Zerfallsperiode nicht mehr in der Lage:
… die furchtbare Krise der kapitalistischen Ordnung im 20. Jahrhundert hat die Lage der Juden unerhört verschlechtert. Den aus ihren wirtschaftlichen Positionen im Feudalismus verdrängten Juden gelang es nicht, sich in die im Auflösungsprozess befindliche kapitalistische Wirtschaft zu integrieren. In seinen Krisenanfällen verwirft der Kapitalismus selbst jene jüdischen Elemente, die er sich noch nicht völlig einverleibt hat.
Überall entwickelt sich ein wütender Antisemitismus in den Mittelschichten, die an den kapitalistischen Widersprüchen zugrunde zu gehen drohen. Das Großkapital bedient sich dieses elementaren Antisemitismus des Kleinbürgertums, um die Massen um die Fahne des Rassismus zu mobilisieren.
Die Juden werden zwischen zwei Systemen zerrieben: dem Feudalismus und dem Kapitalismus, von denen jeder den Fäulnisprozess des anderen vorantreibt.
Der Zionismus entstand als Reaktion auf diese Entwicklung. Doch dieselbe Entwicklung macht ihn auch zur Illusion:
Das jüdische Bürgertum ist verpflichtet, mit allen Mitteln einen eigenständigen Nationalstaat zu schaffen und den objektiven Rahmen für die Entfaltung seiner Produktivkräfte zu sichern – und das zu einer Zeit, wo die Bedingungen einer solchen Entwicklung längst vorüber sind ... Man kann ein Übel nicht ohne seine Ursachen beseitigen. Der Zionismus aber will die jüdische Frage lösen, ohne den Kapitalismus, die Hauptquelle der jüdischen Leiden, zu zerstören.
Einmal bei diesen Überzeugungen angelangt, stürzte sich Léon mit demselben Mut und Eifer in den politischen Kampf, den er zuvor schon im zionistischen Jugendverband an den Tag gelegt hatte. Der deutsche Einmarsch im Mai 1940 hatte die belgische Arbeiterbewegung in ihren Grundfesten erschüttert und auch die trotzkistische Bewegung in eine Krise geworfen. Es war zu einem großen Teil Léon zu verdanken, dass sie wiederaufgebaut wurde und Zugang zu den Arbeitern fand. Er war politischer Sekretär der „Parti communiste révolutionnaire“ (Revolutionäre Kommunistische Partei), leitete die Redaktion der illegalen Zeitung „La Voie de Lénine“ (Lenins Weg), besuchte Betriebskomitees, die in den großen Fabriken im Untergrund arbeiteten, und war für die äußerst riskante Arbeit unter den deutschen Besatzungssoldaten verantwortlich.
Als überzeugter Internationalist bemühte er sich, die Isolation der belgischen Bewegung zu überwinden und die Arbeit der Vierten Internationale neu zu beleben. Im Januar 1942 organisierte er in Brüssel ein Treffen mit drei führenden französischen Genossen. Im Sommer 1943 beteiligte er sich in den belgischen Ardennen an der Gründung eines provisorischen Europäischen Sekretariats, dem er fortan angehörte. Und im Februar 1944 wagte er eine Reise nach Frankreich, um in Saint-Germain-la-Poterie bei Beauvais an der Oise an der ersten – illegalen – Europäischen Konferenz der Vierten Internationale seit ihrer Gründung im Jahr 1938 teilzunehmen.
Die Vierte Internationale bereitete sich auf einen Aufschwung der Arbeiterbewegung am Ende des Kriegs vor. Den belgischen Trotzkisten war es gelungen, in den wallonischen Bergwerken eine illegale Struktur von Vertrauensleuten aufzubauen. Um diese Arbeit aus nächster Nähe zu verfolgen, entschloss sich Léon, nach Charleroi umzuziehen. Dieser Schritt wurde ihm zum Verhängnis.
Noch am Abend seiner Ankunft, dem 18. Juni 1944, wurde er verhaftet und tagelanger, schrecklicher Folter ausgesetzt. Es gelang ihm noch einmal, schriftlichen Kontakt zu seinen Genossen aufzunehmen. Doch dann wurde er von der Gestapo deportiert – nach Auschwitz.
Die Zwangsarbeit richtete seine Gesundheit rasch zugrunde. Er wurde für die Gaskammer selektiert und am 7. Oktober 1944 ermordet.
Eine erste französische Ausgabe seines Buchs erschien 1946, unmittelbar nach dem Krieg. Es folgten 1950 eine englische und 1968 eine weitere französische, 1970 auch eine arabische Ausgabe. In deutscher Sprache erschien es erstmals 1971 unter dem Titel „Judenfrage & Kapitalismus“ in München. Das Buch wurde 1995 in überarbeiteter Übersetzung im Arbeiterpresse Verlag, jetzt Mehring Verlag, veröffentlicht. Für die E-Book-Ausgabe 2020 wurden die Quellenangaben überprüft und ergänzt.
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