„Böswillige Untätigkeit“: Russische Oligarchie opfert Gesundheit und Leben der Menschen

Am 11. Mai kündigte der russische Präsident Wladimir Putin für „alle Bereiche der Wirtschaft“ das Ende der „Periode arbeitsfreier Tage“ an, die Ende März eingeführt wurde. Damit sind Millionen russischer Arbeitern an ihre Arbeitsplätze zurück gezwungen, obwohl sie sich dort der Gefahr einer lebensgefährlichen Ansteckung mit Covid-19 aussetzen.

Putin kündigte die Aufhebung der Lockdown-Maßnahmen an, obwohl die Neuinfektionen steil ansteigen; das Land hat mit über 10.000 Neuinfektionen pro Tag den schnellsten Anstieg von ganz Europa erreicht. Mittlerweile nimmt Russland mit 300.000 bestätigten Fällen und fast 3.000 Toten weltweit den zweiten Platz nach den USA ein.

Das Corona-Virus hat sich bis in die höchsten Ebenen des Staates ausgebreitet. Mehrere Kabinettsmitglieder, darunter der neue Premierminister Michail Mischustin, haben sich mit Covid-19 infiziert. Auch in den Klöstern und in der russisch-orthodoxen Kirchenhierarchie ist das Virus weit verbreitet. Sie hat enge Beziehungen zum Kreml und widersetzte sich wochenlang dem Verbot von öffentlichen Versammlungen.

Videos und Berichte von Beatmungsgeräten, die Feuer fangen und Corona-Patienten töten, und von Ärzten, die aus Krankenhausfenstern stürzen, sorgen weltweit für Beunruhigung.

Unter diesen Bedingungen ist das Hochfahren der Wirtschaft so kriminell wie verzweifelt. Der Kreml hat für die Corona-Krise keine Lösung, die auch nur im Mindesten die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung berücksichtigt.

Selbst Kreml-treue Massenmedien haben Zweifel an der Entscheidung geäußert. Die Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta warnte am 13. Mai in einem Leitartikel vorsichtig, die „Abschwächung der Quarantäne birgt neue Risiken … bisher gibt es keine Beweise dafür, dass ein Ende der Quarantänemaßnahmen irgendwelche klaren positiven Ergebnisse haben wird.“

Die minimalen sozialen Maßnahmen, die Putin angekündigt hat, sind reine Kosmetik. Sie richten sich hauptsächlich an Familien mit Kindern, von denen 80 Prozent in Armut leben. Doch diese Maßnahmen werden für die Mehrheit der Bevölkerung nichts Grundlegendes ändern, denn die Verelendung nimmt rapide zu und die Arbeitslosigkeit steigt drastisch.

Etwa ein Viertel aller Arbeiter haben entweder ihre Arbeitsplätze oder Teile ihres Einkommens verloren. Laut Swetlana Misichina von der Hochschule für Wirtschaft in Moskau werden die Maßnahmen der Regierung unter diesen Bedingungen nur „zehn Prozent des verlorenen Einkommens ausgleichen“.

Für die Wirtschaft hat die Regierung Unterstützungsmaßnahmen im Wert von 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (etwa drei Billionen Rubel, bzw. 38 Milliarden Dollar) angekündigt. Allerdings geht der Löwenanteil an die staatlichen und privaten Großkonzerne. Dazu zählt beispielsweise der staatliche Ölkonzern Rosneft, dessen Chef, Igor Setschin, bereits Hilfe direkt beim Präsidenten beantragt und in großem Maßstab erhalten hat, indem die Ölförderleistung verringert und billige Bankkredite zugesagt wurden.

Gleichzeitig weigert sich die Regierung demonstrativ, das „Siegel der Geldkassette“ des Nationalen Sozialfonds (NWF) aufzubrechen. Dieser Fonds hat bis zum 1. April mehr als 12,8 Billionen Rubel (161 Milliarden Euro) oder 11,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehäuft. Die Kreml-Oligarchie betrachtet ihn offensichtlich als ihre Privatschatulle, obwohl gesetzlich festgelegt ist, dass jede Summe im NWF, die sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigt, für Sozialleistungen ausgegeben werden soll.

Finanzminister Anton Siluanow betonte am 5. Mai in einem Interview mit der Wirtschaftszeitung Wedomosti, dass alle zusätzlichen Staatsausgaben aufgrund der Pandemie im Rahmen bestehender Haushaltsmittel bezahlt werden sollen.

Diese Politik wird die ohnehin schon gigantische soziale Ungleichheit in Russland noch deutlich verschärfen. Schon vor Beginn der Pandemie galten etwa 20 Millionen der 140 Millionen Einwohner Russlands offiziell als „extrem arm“. Gleichzeitig belief sich das Gesamtvermögen der zehn reichsten Russen im Jahr 2019 auf etwa 165 Milliarden Euro. Das oberste Prozent des Landes kontrolliert mehr als ein Drittel des Gesamtvermögens.

Die Politik der russischen Oligarchie entspricht vollständig derjenigen der kapitalistischen herrschenden Klassen im Rest der Welt: Sie ordnen das Existenzrecht der Arbeiterklasse den Interessen der Superreichen und den Profiten der Konzerne unter. Die World Socialist Web Site hat diese Politik treffend als „böswillige Untätigkeit“ bezeichnet.

Selbst als die russische Regierung die ersten Pandemiemaßnahmen einführte und behauptete, die Arbeiter würden weiterhin ihr Einkommen erhalten, erklärte sie niemals, wie das geschehen solle. Zudem weigerte sich die Regierung, einen wirklichen Ausnahmezustand auszurufen, denn dieser hätte sie per Gesetz gezwungen, Individuen und Institutionen für finanzielle Verluste zu entschädigen.

Stattdessen führte sie den völlig neuen Begriff der „Erhöhten Bereitschaft“ ein. Dazu ließ sie ein neues Gesetz an nur einem Tag in drei Lesungen von der Staatsduma verabschieden. In der Praxis bedeutet dies ein Regime der „sozialen Distanzierung“, bei dem die Menschen „freiwillig“ zu Hause bleiben. Gleichzeitig wurden die Befugnisse der Regionalbehörden und von Polizeikontrollen deutlich ausgeweitet und auf eine Stufe mit denen des Ausnahmezustands gestellt.

Hierbei handelt es sich nicht um eine zufällige Improvisation. Im März war der Kreml mit einer „äußerst kritischen Lage erhöhter Bereitschaft“ konfrontiert, wie es einige Kommentatoren formulierten. Abgesehen von der um sich greifenden Pandemie stürzten auch die weltweiten Ölpreise massiv ab. Die Exporte von Öl, Gas und anderen Rohstoffen machen mindestens die Hälfte des russischen Bruttoinlandsprodukts aus.

Ein weiterer Faktor bei der Verschärfung der Krise war die sogenannte „Verfassungsreform“, die Putin Mitte Januar in seiner Rede zur Lage der Nation angekündigt hatte. Das ganze Kabinett wurde umgebildet, um eine beispiellose Stärkung der Befugnisse des Präsidenten zu ermöglichen.

Zudem wird die Verfassung mit rechtsextremen, konservativ-nationalistischen Werten angefüllt, die vieles mit denen der faschistischen und autoritären Regimes der 1930er gemein haben. Im verzweifelten Bestreben, den Änderungen einen Anschein von Legitimität zu verleihen, wollte der Kreml am 22. April ein Referendum über die Änderungen abhalten. Dieses wird jetzt vermutlich am 24. Juni stattfinden.

Zweifellos haben die politischen Erwägungen eine Rolle bei der frühzeitigen Aufhebung des wirtschaftlichen Shutdown gespielt. Am 8. April erklärte Putin in einer Videokonferenz mit Regionalgouverneuren: „Wir können die Wirtschaft nicht einfach anhalten … Wir müssen jetzt Bedingungen schaffen, unter denen Firmen, Organisationen und Unternehmer zu ihren normalen Arbeitsabläufen zurückkehren können.“

Deshalb nahmen bereits am 10. April Hunderte von Fabriken in Moskau und anderen Regionen, viele von ihnen keineswegs „systemrelevant“, die Arbeit wieder auf. Dies war ein wesentlicher Faktor, der zur rapiden Ausbreitung der Pandemie in Russland während der letzten Wochen beigetragen hat. Genau in der Zeit zwischen Mitte April und Mitte Mai stieg die Zahl der bestätigten Corona-Fälle um das Zehnfache. In diesem Zeitraum gab es auch die meisten gemeldeten Todesfälle.

Ein besonders krasses Beispiel für die zynische Haltung von Regierungsvertretern gegenüber dem Leben der arbeitenden Bevölkerung kam von Igor Artamonow, dem Gouverneur der Region Lipezk. Bei einem Treffen im April empfahl er seinen Untergebenen, durch den Einsatz von Chemikalien gegen Zecken Ansammlungen von Menschen auf den Straßen zu zerstreuen, um die „soziale Distanzierung“ durchzusetzen.

Die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Sicherheit und dem Leben der arbeitenden Bevölkerung äußert sich in besonders scharfer Form in Bezug auf das medizinische Personal. Im April und Mai berichteten die Nachrichten unaufhörlich über deren Arbeitsbedingungen: Es fehlt an persönlicher Schutzausrüstung, und die Beschäftigten sind massiv unterbezahlt. Es gab außerdem schwere Fehler bei den Bemühungen, die Krankenhäuser schnell auf die Behandlung von Corona-Patienten umzuorientieren, sodass häufig infizierte mit noch nicht infizierten Patienten zusammengelegt wurden.

Nach Jahrzehnten verheerender Kürzungen im Gesundheitswesen ist deshalb eine Situation entstanden, in der die Krankenhäuser die größten Infektionsquellen des Landes geworden sind. Am 13. Mai erklärte Gesundheitsminister Michail Muraschko vor der Staatsduma, 400 Krankenhäuser gälten als Brennpunkte des Virus, sodass Patienten aus Angst alle Krankenhäuser mieden. Mittlerweile hat Russland weltweit eine der höchsten Zahlen an Todesopfern unter Ärzten und Pflegekräften. Eine Gedenkseite für Todesopfer unter dem Klinikpersonal listete bis zum 17. Mai 222 Namen von Verstorbenen auf.

In seiner Rede am 11. Mai hatte Putin erklärt: „Wir haben uns dafür entschieden, die Gesundheit und das Leben der Menschen zu retten, und zusammen haben wir schon viel erreicht, viel getan und viele Hindernisse überwunden.“ Unter den vorherrschenden Bedingungen kann eine solche Äußerung nur als bewusste und zynische Lüge angesehen werden.

Die böswillige Untätigkeit der Regierung hat Anzeichen für einen wachsenden Widerstand in der Arbeiterklasse hervorgerufen. Hervorzuheben ist der Protest von Gazprom-Arbeitern des Öl- und Gaskondensatfelds Tschajanda im nordrussischen Jakutien. Diese protestierten Ende April gegen ihre entsetzlichen Arbeitsbedingungen angesichts der Ausbreitung des Virus. Von 10.500 Arbeitern in dem Feld hat sich etwa ein Drittel mit dem Virus infiziert. Erst nach den offenen Protesten ließ das Management das Feld evakuieren.

Das Wiederaufleben des Klassenkampfs weltweit und in Russland ist das erste Stadium der Entwicklung eines vereinten internationalen Kampfs der Arbeiter aller Länder gegen das Profitsystem. Der Kampf für die Rechte, die Gesundheit und das Leben der Arbeiterklasse inmitten der Pandemie ist untrennbar mit dem Kampf gegen das kapitalistische System verbunden. Doch dieser Kampf wirft fundamentale Fragen der politischen und historischen Perspektive auf.

Die katastrophalen gesellschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie sind ein direktes Ergebnis der Wiedereinführung des Kapitalismus in den Jahren 1989–1992. Dass Beatmungsgeräte implodieren und Krankenhäuser buchstäblich zerfallen, geht nicht auf das Virus zurück, sondern auf die Auflösung der UdSSR durch die stalinistische Bürokratie und den jahrzehntelangen Austeritätskurs unter der neuen Oligarchie.

Eins fürchtet die russische Oligarchie ganz besonders: dass der wachsende Widerstand in der russischen und internationalen Arbeiterklasse mit dem politischen Programm des sozialistischen Internationalismus ausgerüstet wird, dass er sich die Lehren aus dem Kampf der trotzkistischen Bewegung gegen Stalinismus aneignet.

Aus diesem Grund führt die herrschende Elite eine umfangreiche staatliche Verleumdungskampagne gegen Leo Trotzki, der gemeinsam mit Wladimir Lenin die Oktoberrevolution anführte und danach zum Hauptgegner Stalins wurde. Sie geht außerdem gegen alle Versuche vor, die Verbrechen des Stalinismus zu erforschen. Wir rufen unsere Leser in Russland und der ehemaligen Sowjetunion auf, sich mit uns in Verbindung zu setzen, über diese Fragen zu diskutieren und das Buch Verteidigung Leo Trotzkiszu studieren, das es hier auf Deutsch und hier auf Russisch zu kaufen gibt.

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