Obwohl die Zahl der Corona-Infizierten und -Toten in Deutschland, Europa und weltweit weiter steigt, mehren sich die Stimmen, die auf eine rasche Aufhebung der Kontaktsperren und auf die Rückkehr zur Arbeit drängen. Journalisten, Ökonomen, Politiker und auch Mediziner stimmen die Öffentlichkeit darauf ein, dass im Interesse der Wirtschaft mehr Menschen an Covid-19 erkranken und sterben müssen.
Der Abscheu vor den Verbrechen der Nazis, die „unwertes Leben“ vernichtet und Millionen Zwangsarbeiter zu Tode gearbeitet haben, galt bisher in Deutschland als hohe moralische Hürde dagegen, den Wert eines Menschenlebens in Euro und Cent zu bemessen. Doch jetzt wird in den Medien wieder offen darüber diskutiert, wieviel ein Menschenleben wert ist und wie viele Leben den Interessen der Wirtschaft geopfert werden sollen.
Bereits vor zehn Tagen veröffentlichte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel einen Leitartikel mit dem provokanten Titel: „Ja, man darf den wirtschaftlichen Schaden gegen Menschenleben abwägen.“ Christiane Hoffmann stellt darin die Frage: „Darf man den wirtschaftlichen Schaden des Lockdowns abwägen gegen die Menschenleben, die eine Ausbreitung des Coronavirus kosten würde?“ Ihre Antwort: „Ja, man darf. Man muss sogar.“ Es sei „weder unmoralisch noch zynisch, zu benennen, was gegeneinander abgewogen werden muss“.
Wie zynisch es tatsächlich ist, demonstriert Hoffmann drei Absätze später. Sie behauptet, „die Frage nach dem Preis des Lebens“ habe sich auch bereits vor der Coronakrise gestellt: „Jeder Beschluss, Krankenhauspersonal abzubauen oder eine Notaufnahme schlechter auszustatten, entscheidet indirekt über Leben und Tod, in jeder Diskussion über teure Krebsmedikamente am Ende des Lebens geht es um dieselbe Frage.“ Sie führt also den Kahlschlag im Gesundheitswesen, der Pfleger und Ärzte jetzt zwingt, Covid-19-Patienten in unterbesetzen Abteilungen ohne die nötige Schutzkleidung, unter Einsatz ihres Lebens zu behandeln, als Argument dafür an, noch mehr Menschen sterben zu lassen!
Hoffmann, die auf eine lange Journalistenkarriere bei der F.A.Z. und beim Spiegel zurückblickt und mit einem hochrangigen Schweizer Diplomaten verheiratet ist, gehört zu der Einkommensklasse, die sich keine Sorgen um eine ausreichende Behandlung machen muss, falls sie sich am Coronavirus infiziert. Sie plädiert vor allem deshalb für eine offene Debatte darüber, „welche Risiken wir eingehen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen“, weil sie einen Aufstand gegen ein Gesellschaftssystem fürchtet, dessen schreiende soziale Ungerechtigkeit mit jedem Tag der Pandemie deutlicher zutage tritt. Es bestehe die Gefahr, schreibt sie, dass „eine Welle der Ablehnung, ein regelrechter Hass auf ‚die da oben‘“ folge.
Die Wochenzeitung Die Zeit hat den Ökonomen Clemens Fuest, Chef des Münchener Ifo-Instituts, und den Virologen Alexander Kekulé von der Universität Halle-Wittenberg zu einem gemeinsamen Interview gebeten, um für eine schnelle Aufhebung der Kontaktsperren zu werben – auch wenn dies zusätzliche Todesopfer fordert.
Fuest warnt, „dass die Kosten der Krise im Zeitablauf überproportional steigen“. Den Lockdown nach einem Monat um eine Woche zu verlängern, sei schon teuer, „aber wenn das nach drei Monaten kommt, ist es ungleich teurer“.
Kekulé fordert, man müsse die Frage stellen: „Wie viele Tote nehmen wir in Kauf durch die Pandemie?“ Schließlich stürben in Deutschland in manchem Jahr auch 10.000 oder 20.000 Menschen durch die Influenza. Und auch die Maßnahmen gegen die Pandemie lösten Schäden aus, die Tote erzeugten. Er könne jene nicht verstehen, die sagen: „Gesundheit geht immer vor“. Es sei „dringend notwendig, wirtschaftliche und medizinische Folgen abzuwägen“. Das sei bisher zu wenig passiert.
Er finde es falsch, „dass wir nicht bereit sind zu akzeptieren, dass einzelne Menschen sterben, damit am Ende die Mehrheit immun ist“, findet der Virologe. „Wenn wir die Gesellschaft noch drei Monate oder mehr im Lockdown halten, dann opfern wir alles, was wir unter unserer Identität und Kultur verstehen.“
Auch die Bild-Zeitung hat einen Mediziner gefunden, der für eine gezielte Ausbreitung des Virus eintritt. Prof. Ansgar Lohse vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) befürwortet die Strategie der sogenannten Herdenimmunität, laut der sich möglichst viele aus niedrigen Risikogruppen infizieren müssen, um in der Gesellschaft einen hohen Immunitätsgrad zu erreichen. Der britische Premier Boris Johnson hatte ursprünglich diese Strategie vertreten, musste aber dann aufgrund der öffentlichen Empörung zurückrudern. Inzwischen liegt Johnson mit Covid-19 auf der Intensivstation.
„Wir müssen zulassen, dass sich diejenigen, für die das Virus am ungefährlichsten ist, zuerst durch eine Ansteckung immunisieren”, sagte Lohse der Bild-Zeitung. Obwohl inzwischen auch viele Jüngere an Covid-19 gestorben sind und keineswegs sicher ist, ob Infizierte hinterher immun sind, will Lohse vor allem Kinder vorschicken, um die Herdenimmunität zu erreichen: „Sowohl Kinder als auch die allermeisten von ihren jungen Eltern gehören nicht zur Risikogruppe. Je schneller diese Gruppe eine Infektion durchmacht, umso besser. Kitas und Schulen sollten deshalb bald wieder öffnen.“ Er sei „mit vielen Kollegen aus ganz verschiedenen Fachrichtungen im Diskurs, die ähnlich denken“.
Der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart frohlockt auf seinem Blog Morning Briefing, „angesichts von Kontaktverbot, Versammlungsverbot, Demonstrationsverbot und einer extrem eingeschränkten Reisefreiheit in Deutschland“ habe sich endlich „Widerstand formiert, der Medizinjuristen, Schriftsteller, Kulturschaffende, Wirtschaftsexperten und Publizisten unterschiedlichster Couleur in ihrem Zweifel an der Verhältnismäßigkeit dieser Politik vereint“.
Unter anderen zitiert er die Schriftstellerin Juli Zeh, die Mitglied der SPD ist und deren Roman „Unterleuten“ kürzlich als Dreiteiler im ZDF ausgestrahlt wurde. Zeh hat im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung geschrieben, große Teile der Fachwelt seien sich einig, „dass eine sogenannte Herdenimmunisierung stattfinden muss, dass sich also mindestens 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infizieren müssen, bis die Pandemie abflaut“.
Der rechtsextreme Publizist Roger Köppel, der das inoffizielle Zentralorgan der ausländerfeindlichen Schweizerischen Volkspartei,Weltwoche, leitet und den Steingart ebenfalls zitiert, schimpft, die Medizin sei schlimmer als die Krankheit. „Hört mit dieser Selbstverbrennung der Wirtschaft auf“, fordert er. „Ohne Wirtschaft bekommen wir kein Corona – dafür verhungern alle.“
Wolfram Weimer, Ex-Chefredakteur von Welt, Cicero und Focus, fordert: „Am 19. April muss Deutschlands Zwangskoma enden!“ Die Pandemie-Bekämpfung durch Schließung des Wirtschaftslebens sei verfehlt, weil es am Ende heißen könnte: Operation gelungen, Patient tot.
Die Forderung, Menschenleben gegen die Interessen der Wirtschaft abzuwägen, ist nicht auf Deutschland beschränkt. Wie die WSWS in einer Perspektive aufgezeigt hat, wird diese Forderung auch in zahlreichen anderen Ländern erhoben – vom britischen Economist, dem amerikanischen Magazin Politico und zahlreichen anderen Publikationen. Sie bedeutet, heißt es in der Perspektive, „nicht mehr und nicht weniger, als Menschenleben für die Profitinteressen der Kapitalisten zu opfern. Vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus muss der Prozess der Klassenausbeutung durch die Produktion fortgesetzt werden. Und diejenigen, die sterben, können ersetzt werden. Die einzige Sorge ist das Wachstum und die Expansion der Börsenwerte zur Bereicherung der Finanzoligarchie.“
Es ist bezeichnend, dass der DAX seit Anfang dieser Woche einen Sprung von 1000 Punkten vollzog und gestern zeitweise über 10.500 Punkte stieg. Obwohl kein Ende der Krise abzusehen ist, wittern die Spekulanten an den Börsen Morgenluft. Nachdem die Bundesregierung ein Jahrzehnt lang im Namen der „Schwarzen Null“ die Sozialausgaben zusammengestrichen und das Gesundheitswesen zerstört hat, öffnet sie nun die Schleusen.
Die Hilfspakete für die Corona-Krise belaufen sich inzwischen auf fast 1200 Milliarden Euro, mehr als das Dreifache des jährlichen Bundeshaushalts. Die überwiegende Mehrheit dieser gewaltigen Summe fließt in die Kassen der Großkonzerne und Banken, nur ein Bruchteil ist für die Bekämpfung der Pandemie und die Linderung der sozialen Folgen bestimmt.
Die gewaltigen Summen, die jetzt in die Finanzmärkte gepumpt werden, müssen durch die verschärfte Ausbeutung der Arbeiterklasse kompensiert werden. Das steckt hinter der Forderung nach der Rückkehr zur Arbeit auf Kosten von Menschenleben.
Siehe auch:
Herrschende Klasse trommelt für eine frühzeitige Rückkehr an die Arbeitsplätze (7. April 2020)
Coronakrise: Gesundheitsminster Spahn will Ältere monatelang isolieren (27. März 2020)
Finanzinvestor Dibelius: Wirtschaft hat Vorrang vor Gesundheit (25. März 2020)
Corona-Notpaket der Bundesregierung: Milliarden für die Reichen, Almosen für die Armen (24. März 2020)