Am Montag führten die wachsenden Spannungen zwischen türkischen und syrischen Streitkräften in der nordwestsyrischen Provinz Idlib zu blutigen Kämpfen. Zahlreiche syrische Soldaten wurden getötet, nachdem türkische Streitkräfte Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad für den Beschuss türkischer Stellungen verantwortlich gemacht hatten, bei dem sechs türkische Soldaten getötet worden waren. Diese gewalttätigen Auseinandersetzungen könnten zu einer direkten Konfrontation zwischen dem Nato-Mitglied Türkei und Russland führen, der Atommacht und dem Verbündeten des syrischen Regimes.
Das türkische Verteidigungsministerium erklärte in einer Stellungnahme, der syrische Beschuss habe „unseren Einheiten gegolten, die als Verstärkung geschickt wurden, um Zusammenstöße in Idlib zu verhindern, obwohl die Koordinaten ihrer Positionen im Voraus mitgeteilt worden waren“.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte kurz vor seiner Abreise zu einem offiziellen Besuch in der Ukraine: „Die Türkei hat auf diesen Angriff mit einem Vergeltungsschlag reagiert, wie sie es bereits zuvor getan hat und weiterhin tun wird. ... In einer noch andauernden Operation wurden etwa 40 Stellungen angegriffen...“ Er erklärte weiter, 30 bis 35 Soldaten des syrischen Regimes seien durch türkischen Haubitzenbeschuss und Luftangriffe mit F-16-Kampfflugzeugen getötet worden. Spätere Berichte deuteten darauf hin, dass 12 syrische Soldaten getötet und etwa 20 weitere verwundet wurden.
Erdoğan: „Wir sind entschlossen, unsere Operationen fortzusetzen, um die Sicherheit unseres Landes, unserer Nation und unserer Brüder in Idlib zu gewährleisten.“ Damit meint er die noch verbliebenen, mit al-Qaida verbündeten Milizen. Er drohte außerdem, Russland solle „der Türkei nicht im Weg stehen“.
Das russische Militär dementierte jedoch die Behauptungen der Türkei, Moskau sei über die Position der türkischen Truppen informiert worden. Laut RT erklärte das russische Zentrum für Versöhnung in Syrien: „Einheiten des türkischen Militärs sind in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar innerhalb der Deeskalationszone Idlib vorgerückt, ohne die russische Seite zu informieren und wurden von syrischen Regierungstruppen angegriffen, die westlich von Saraqib gegen Terroristen kämpften.“
Mindestens vier der 12 militärischen Beobachtungsposten der Türkei in Idlib werden weiterhin von Truppen des syrischen Regimes belagert.
Der Zusammenstoß ereignet sich vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen zwischen türkischen Regierungsvertretern und der russisch-syrischen Seite wegen der Offensive Syriens gegen al-Qaida-nahe Kräfte in Idlib sowie wegen der zunehmenden Bodengewinne syrischer Truppen in den letzten Wochen, die von Russland und dem Iran unterstützt werden. Dazu gehörte u.a. die Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Maaret al-Numan.
Letzte Woche soll Erdoğan erstmals seit dem gescheiterten Militärputsch, der 2016 mit Unterstützung durch die USA und Deutschland organisiert wurde, Kritik an seinem „russischen Partner“ geübt haben. Er warf Russland vor, Moskau halte sich nicht an das Abkommen von Sotschi, mit dem im September 2018 eine gemeinsam überwachte „entmilitarisierte Zone“ zwischen syrischen Regierungstruppen und den vom Westen unterstützten „Rebellen“ in der nordwestsyrischen Provinz Idlib eingerichtet wurde. Er sagte zudem, die Verhandlungen zwischen Russland, dem Iran und der Türkei im Rahmen des Astana-Prozesses seien „tot“.
Erdoğan drohte am Freitag außerdem: „Wir werden die Lage in Syrien nicht untätig beobachten. [...] Wir werden nicht zögern, alles Notwendige zu unternehmen, auch militärische Gewalt einsetzen.“
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow antwortete: „Russland hält sich in der Zone um Idlib an alle Vorgaben aus dem Abkommen von Sotschi... Es befinden sich weiterhin zahlreiche Terroristen in dem Gebiet.“
Am Samstag begannen von der Türkei unterstützte islamistische Kämpfer aus der Region al-Bab, die seit 2017 von der Türkei und der oppositionellen Miliz Syrische Nationale Armee kontrolliert wird, einen Gegenangriff auf die Truppen des syrischen Regimes. Die russische Luftwaffe reagierte darauf mit Angriffen auf al-Bab. Laut Moskau haben islamistische Kämpfer allein letzte Woche mindestens 40 syrische Soldaten getötet. Wie Al-Arabiya am Sonntag berichtete, drangen nach den russischen Angriffen zahlreiche türkische Militärfahrzeuge über den Grenzübergang Kafrlosin in Syrien ein.
Trotz der wachsenden militärisch-strategischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern – etwa die Lieferung russischer S-400-Flugabwehrraketen an die Türkei und die von Washington verurteilte Erdgaspipeline TurkStream – steht das labile Bündnis zwischen Ankara und Moskau so kurz vor einem Scheitern wie zuletzt im November 2015. Damals hatten türkische Jets einen russischen Bomber an der syrisch-türkischen Grenze abgeschossen und beinahe einen Krieg zwischen der Türkei – und damit potenziell der ganzen Nato – gegen Russland ausgelöst.
Während hohe US-Regierungsvertreter die in der Provinz Idlib kämpfenden syrischen und russischen Truppen verurteilen, scheint die türkische Regierung wieder auf eine engere Beziehung mit Washington hinzusteuern. Ende Dezember twitterte Trump zum Thema Idlib: „Russland, Syrien und der Iran sind dabei Tausende von unschuldigen Zivilisten in der Provinz Idlib zu töten. Macht es nicht! Die Türkei bemüht sich sehr, dieses Blutbad zu stoppen.“
US-Außenminister Mike Pompeo äußerte sich letzte Woche ähnlich: „Die USA beobachten die Lage im Nordwesten Syriens mit großer Sorge. Die Streitkräfte Russlands, des iranischen Regimes, der Hisbollah und des Assad-Regimes sollen dort zusammen einen groß angelegten Angriff auf die Bevölkerung von Idlib und der westlichen Provinzen von Aleppo führen.“
General Tod Wolters von der US Air Force, der Befehlshaber des US European Command und Oberbefehlshaber der Nato-Truppen in Europa, war am 30. Januar zu Besuch in Ankara, hauptsächlich um über Syrien zu reden. Er traf sich mit dem türkischen Verteidigungsminister und dem Chef des Generalstabs.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Die akute Kriegsgefahr in Syrien ist das direkte Ergebnis des Stellvertreterkriegs, den die imperialistischen Mächte seit 2011 in Syrien führen und der auch von Erdoğans Regierung unterstützt wird. Der Nato-Krieg in Libyen 2011 und die darauf folgende Bewaffnung islamistischer Milizen gegen das Assad-Regime waren die Reaktion der imperialistischen Mächte auf den Sturz ihrer Marionettendiktatoren durch revolutionäre Aufstände der Arbeiterklasse in Ägypten und Tunesien. Das Ziel war, den Einfluss Russlands und des Iran zurückzudrängen und Syrien als Operationsbasis zu benutzen.
Die Kämpfe zwischen türkischen und syrischen Truppen sind das blutige Ergebnis wiederholter Manöver und strategischer Kurswechsel der imperialistischen Mächte während dieses Kriegsjahrzehnts.
Anfangs schleusten die imperialistischen Mächte – allen voran Washington, die Ölscheichtümer am Persischen Golf und die Türkei – Zehntausende von al-Qaida-nahen Islamisten nach Syrien, vor allem über die Türkei. Dieser Prozess wurde von der CIA koordiniert und führte zur Entstehung des Islamischen Staates im Irak und Syrien (IS), Washingtons eigenem Frankenstein-Monster. Als der IS im Jahr 2014 von Syrien aus in den Irak einfiel und Washingtons dortigen Marionettenstaat bedrohte, begannen die Nato-Mächte eine erneute Intervention im Irak und Syrien, die sie als „Krieg gegen den IS“ bezeichneten.
Nachdem ihre islamistischen Verbündeten in Syrien gespalten und besiegt waren, machten die imperialistischen Mächte die kurdisch-nationalistischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) zu ihrer wichtigsten Stellvertretermiliz in Syrien. Diese sind jedoch mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbündet, gegen die Ankara im Südosten der Türkei seit 35 Jahren einen blutigen Antiterrorkrieg führt. Deshalb sieht Ankara sie als fundamentale Gefahr für die territoriale Integrität der Türkei. Erdoğan ist im Kampf gegen die YPG näher an Moskau gerückt, was zu dem Putschversuch im Juli 2016 führte, den die USA und Deutschland unterstützten. Seither ging die Türkei im Norden Syriens mehrmals gegen die kurdischen Kräfte vor.
Letztes Jahr hat Washington seine kurdischen Stellvertreter in Nordsyrien im Stich gelassen, woraufhin türkische und syrische Truppen in deren Gebiet einmarschierten. Die World Socialist Web Site warnte damals: „Während die syrische Armee mit Unterstützung des Iran nach Norden marschiert, um sich den türkischen Invasoren und den mit Al-Qaida verbündeten ,Rebellen‘ entgegenzustellen, geraten der Nahe Osten und die ganze Welt an den Rand eines umfassenden Krieges... Die Türkei ist in den Strudel geraten, der durch dreißig Jahre imperialistischer Kriege im Nahen Osten entstanden ist.“
Moskau hat zwar letztes Jahr einen labilen Waffenstillstand zwischen der türkischen und der syrischen Regierung in der Region ausgehandelt, doch dieser steht kurz vor dem Scheitern. Ein Grund dafür ist die Verschärfung der Spannungen zwischen der Türkei und Russland in Libyen, wo sie rivalisierende Seiten in dem Bürgerkrieg unterstützen, der infolge des Nato-Kriegs 2011 begann.
Vor allem aber verschärft Washington die Spannungen in Syrien weiterhin, während die Vereinigten Staaten gleichzeitig dem Iran mit einem Krieg drohen, der sich auf die ganze Region ausweiten könnte. Die USA halten mit den YPG-Stellvertretertruppen weiterhin die Öl- und Gasvorkommen in der Provinz Deir Ezzor besetzt und haben durch den Drohnenmord an dem iranischen General Qassim Soleimani am 3. Januar in Bagdad die Spannungen in der ganzen Region verschärft. Diese Politik ist Teil der groß angelegten Vorbereitungen auf „Großmachtkonflikte“ mit Russland und China im ganzen Nahen Osten und bringt die Welt an den Rand eines offenen Kriegs zwischen Atommächten.