Am Mittwoch beteiligten sich Millionen indischer Arbeiter, Jugendlicher und Landarbeiter an einem eintägigen landesweiten Generalstreik gegen die unternehmerfreundliche und hinduistisch-kommunalistische Politik der Bharatiya Jananta Party (BJP).
Seit ihrer Wiederwahl im letzten Mai, bei der sie massiv vom Großkapital und den Mainstreammedien unterstützt wurde, hat die BJP-Regierung von Premierminister Narendra Modi ihren Angriff auf die Arbeiterklasse dramatisch verschärft. Durch Änderungen im Arbeitsrecht fördert sie die Verbreitung von prekären Leiharbeitsverhältnissen und schränkt das Recht der Arbeiter auf Streik und Organisation weiter ein. Sie hat außerdem die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen deutlich verschärft und forciert ihre Pläne, das indische Schienennetz und die Kohleindustrie an private Investoren zu verkaufen sowie die Staatsbetriebe Air India und Bharat Petroleum zu privatisieren. Auch die Senkung der Körperschaftssteuer um acht Prozentpunkte, d.h. um mehr als ein Viertel, hat dem Großkapital eine weitere Geldspritze gegeben.
Die Modi-Regierung will die Arbeiterklasse spalten und ihre hindu-chauvinistische Basis als Rammbock gegen den wachsenden sozialen Widerstand einsetzen. Zu diesem Zweck hat sie eine Reihe von provokanten Maßnahmen zu Lasten der muslimischen Minderheit des Landes getroffen. Sie hat rechtswidrig den halbautonomen Sonderstatus der Region Jammu und Kaschmir aufgehoben, dem einzigen indischen Bundesstaat mit einer muslimischen Mehrheit, und das diskriminierende Staatsbürgerschaftsgesetz CAA durch das Parlament gepeitscht.
Zu dem Streik am Mittwoch hatten die zehn größten Gewerkschaftsbünde aufgerufen. Die beiden stalinistischen Parteien im Parlament – die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten) oder KPM und die Kommunistische Partei Indiens (KPI) – unterstützten ihn ausdrücklich, ebenso wie die wirtschaftsnahe Kongresspartei, mit der die Stalinisten eng verbündet sind.
Die wichtigsten Forderungen formulierten die Gewerkschaften in einer Charta mit zwölf Punkten. Dazu gehören Arbeitsplätze für die mittlerweile etwa 73 Millionen Arbeitslosen (fast acht Prozent der Erwerbsbevölkerung); grundlegende soziale Schutzmaßnahmen für alle Arbeiter; sowie eine Erhöhung der Renten und des lächerlich niedrigen Mindestlohns. Außerdem wurden die Rücknahme des CAA und die Einstellung der Pläne gefordert, alle 1,3 Milliarden Einwohner des Landes zu zwingen, ihren Anspruch auf eine indische Staatsbürgerschaft zu belegen. Diese Regierungsmaßnahme zielt offensichtlich darauf ab, die muslimische Minderheit einzuschüchtern und zu verfolgen.
Die Mainstreammedien, das Großkapital und die Modi-Regierung versuchen, das Ausmaß des Streiks herunterzuspielen.
Doch obwohl Größe und Ausmaß des Streiks in Bundesstaaten und Zweigen der Wirtschaft variierten, hatte er zweifellos insgesamt massive Auswirkungen. Zudem verdeutlichte der Streik die wachsende Militanz und die immense soziale Stärke der Arbeiterklasse.
Laut dem stalinistisch beherrschten Centre of Indian Trade Unions (CITU) beteiligten sich 35 Millionen Bus-, Lastwagen- und Motorrikschafahrer an dem Streik. In vielen Städten, u.a. in den ostindischen Staaten Westbengalen, Odisha und Bihar sowie im südwestindischen Kerala, kam ein großer Teil des öffentlichen Verkehrs zum Erliegen.
Auch Bankangestellte beteiligten sich in großer Zahl an dem Streik, um gegen die Pläne der BJP-Regierung zu protestieren, viele staatseigene Banken zusammenzulegen und zu privatisieren, die genau wie das gesamte indische Finanzsystem von massiven Unternehmensschulden belastet werden.
Viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes nahmen am Streik teil, obwohl die BJP-geführte Zentralregierung und diverse Bundesstaatsregierungen mit Repressalien gedroht hatten. In einer Anweisung der Zentralregierung hieß es, dass Arbeitern als „Konsequenzen“ für eine Teilnahme am Streik u.a. „Lohnabzüge“ und „angemessene Disziplinarstrafen“ drohen.
Medienberichte deuten darauf hin, dass sich Industriearbeiter, zum Beispiel in der global vernetzten indischen Autoindustrie, im großen Stil an dem Streik beteiligten. Laut Outlook India legten die Arbeiter des Honda-Motorradwerks, des Scooter-Werks in Manesar (Haryana) sowie zahlreicher Autozulieferer in der Industrieregion Manesar-Gurgaon nahe der indischen Hauptstadt Delhi die Arbeit nieder. Der Streik legte außerdem im Bajaj Auto-Werk in Chakan (Maharashtra), dem Bus- und Lkw-Werk von Volvo, dem Toyota-Autowerk, dem Bosch-Zulieferer und den Vikrant Tyres-Werken im benachbarten Karnataka die Produktion lahm. In Jharkand und ganz Indien beteiligten sich Hunderttausende Arbeiter von Coal India und von Juteplantagen in Westbengalen an dem Streik.
Der Energiesektor war stark von dem Streik betroffen. Die Stromerzeugung ging um bis zu fünf Prozent zurück, etwa 1,5 Millionen Ingenieure und andere Beschäftigte legten die Arbeit nieder.
Auch unter den Anganwadi, den extrem schlecht bezahlten, staatlich finanzierten Kinderbetreuerinnen auf dem Land, die meist Frauen sind, fand der Streik große Unterstützung.
In einigen Staaten kam es zu Massenverhaftungen von Streikenden und Demonstranten. In Tamil Nadu ordnete die Bundesstaatsregierung die Verhaftung von Demonstranten sowohl in der Hauptstadt Chennai als auch dem Industriezentrum Coimbatore an. Der Bundesstaat wird von der Regionalpartei AIADMK regiert, die mit der BJP verbündet ist. Mehr als eintausend Menschen wurden verhaftet.
Im Bundesstaat Westbengalen, der von dem rechten regionalen Rivalen der BJP, Trinamool Congress (TMC), regiert wird, kam es zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften, Schlägern des TMC und Unterstützern des Streiks. Nachdem Streikunterstützer Züge blockierten, warf der Regierungschef Mamata Banerjee der KPM und der mit ihnen verbündeten Linksfront vor, sie würden „mit Streikaufrufen und Bombenanschlägen auf Busse Aufmerksamkeit erregen“ wollen.
Laut der Website Newsclick beteiligten sich auch Bauern und Landarbeiter an den Kundgebungen, Straßensperren und sonstigen Protestaktionen in fast 480 der 732 Distrikte Indiens. An 60 Universitäten boykottierten Studierende den Unterricht.
Der Streik am Mittwoch ereignete sich vor dem Hintergrund einer landesweiten Welle von Massenprotesten als Reaktion auf die Verabschiedung des diskriminierenden CAA-Gesetzes. Diese Proteste wurden zwar von muslimischen Jugendlichen angeführt, gingen aber über die Trennungen nach Religion, Kaste und Ethnie hinaus, die die herrschende Elite so lange kultiviert hat, um die arbeitende Bevölkerung gegeneinander auszuspielen.
Erschrocken über den scheinbar plötzlichen, aber in Wirklichkeit tief verwurzelten Widerstand der Massen reagierte die BJP-Regierung mit massiver staatlicher Unterdrückung wie tödlicher Gewaltanwendung der Polizei, allgemeinen Demonstrationsverboten und der Abschaltung des Internets. Außerdem treibt sie den Hindu-Kommunalismus voran.
Ende Dezember stellte sich der Oberbefehlshaber der indischen Armee Bipin Rawat hinter die Regierung. Er bezeichnete die Proteste gegen das CAA als „gewalttätig“ und warf den Studenten vor, sie würden „die Nation in die Irre führen“. Obwohl er sich damit offen über grundlegende demokratische Verfassungsprinzipien hinwegsetzte, hat Modi ihn zum ersten Chef des Verteidigungsstabs befördert.
Letzten Sonntagabend gingen Mitglieder der Studentenvereinigung ABVP, die mit der BJP und ihrem ideologischen Mentor, der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), einer hindufaschistischen Kaderorganisation, verbündet ist, mit brutaler Gewalt auf Studenten der Jawaharlal Nehru University (JNU) in Delhi los. Mehr als 40 Studenten mussten danach ins Krankenhaus, viele von ihnen hatten schwere Verletzungen durch Eisenstangen, Feldhockeyschläger und Steine. Selbst die Zeitung Hindu machte die BJP-Regierung für diese Ausschreitungen verantwortlich.
Die JNU war mindestens seit 2016 besonders heftigen Angriffen durch die BJP-Regierung und die hinduistische Rechte ausgesetzt, da diese Universität seit Langem mit linkem Aktivismus und sozialistischer Politik in Verbindung gebracht wurde.
Gleichzeitig fordern das internationale und das indische Kapital von der BJP-Regierung eine neue Welle neoliberaler Reformen. Sie sollen Investoren anlocken, um die indische Wirtschaft aus einem zunehmenden Abschwung zu holen.
Berichten zufolge hat die BJP beschlossen, diesen Forderungen nachzugeben und ihre jährlichen Ausgaben in den letzten drei Monaten des Haushaltsjahres 2019–2020 um zwei Billionen Rupien (mehr als 25 Milliarden Euro) bzw. jährlich sieben Prozent zu senken. Das Haushaltsdefizit wird wohl aufgrund eines massiven Rückgangs der Steuereinnahmen von 3,3 Prozent auf 3,8 Prozent steigen.
Um sich auf die Bewältigung der wachsenden wirtschaftlichen Turbulenzen und des Widerstands der Arbeiterklasse vorzubereiten, will die Modi-Regierung das riskante und gefährliche Bündnis zwischen der indischen Bourgeoisie und Washington gegen China stärken. Am Dienstag telefonierte Modi mit dem US-Präsidenten Donald Trump, der nach der Ermordung des Generals der iranischen Revolutionsgarde Qassem Soleimani die nächsten Schritte im Kriegskurs der USA gegen den Iran plant. Laut einer Erklärung des Weißen Hauses diskutierten die beiden über „eine weitere Stärkung der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und Indien im Jahr 2020“.
Der wachsende Widerstand der Arbeiterklasse gegen das Modi-Regime ist Teil des globalen Wiederauflebens des Klassenkampfs. Während des letzten Jahres kam es weltweit zu großen Streiks und langen, teils sogar aufstandsartigen Protestbewegungen, u.a. in Chile, Ecuador, Haiti, Mexiko, den USA, Frankreich, Großbritannien, Algerien, dem Sudan, dem Libanon und Sri Lanka.
Genau wie im Rest der Welt ist es auch in Indien die wichtigste Aufgabe, die wachsende Gegenoffensive der Arbeiterklasse mit einem internationalen sozialistischen Programm und einer revolutionären Führung auszustatten.
Die Gewerkschaften und stalinistischen Parteien versuchen, den massiven Widerstand gegen die BJP und die bitteren Ergebnisse des kapitalistischen „Aufstiegs“ Indiens während der letzten drei Jahrzehnte vor den Karren der Kongresspartei und einer Reihe von rechten ethnochauvinistischen und kastenbasierten Parteien zu spannen. Damit stellen sie sich direkt gegen die Bedürfnisse und Forderungen der vielen Millionen Arbeiter und Jugendlichen, die sich an dem Streik beteiligt haben. Für die Gewerkschaften und Parteien war der Streik nur ein Manöver, um ihr „militantes“ Image aufzupolieren und den Widerstand der Arbeiterklasse besser einzudämmen, zu entschärfen und unterdrücken zu können.
Beispielhaft für die Ablehnung eines echten Klassenkampfs ist ihre Entscheidung, die dreizehn Maruti Suzuki-Arbeiter ihrem Schicksal zu überlassen, die nach einem abgekarteten Schauprozess wegen angeblichen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. In Wirklichkeit bestand ihr einziges „Verbrechen“ darin, den Widerstand gegen Leiharbeit und ein brutales Arbeitsregime anzuführen. Die stalinistischen Parteien haben Modi außerdem angebettelt, die regelmäßigen Treffen der Indian Labour Conference wieder aufzunehmen.
Die KPM, die KPI und die ihnen nahestehenden Gewerkschaften CITU und All India Trades Union (AITUC) haben jahrzehntelang rechte Regierungen unterstützt, vorgeblich um die Machtübernahme der hindu-chauvinistischen BJP zu verhindern. Diese Regierungen, von denen viele von der Kongresspartei geführt wurden, haben eine marktorientierte Politik umgesetzt und immer engere Beziehungen zu Washington aufgebaut.
Eine Erklärung der World Socialist Web Site mit dem Titel „Indische Arbeiter brauchen ein revolutionäres sozialistisches Programm für den Kampf gegen Modi, den kapitalistischen Austeritätskurs und die kommunalistische Reaktion“ wurde am Mittwoch an die Streikenden verteilt. Darin heißt es:
„Nur auf Grundlage einer Strategie, die sich auf den internationalen Klassenkampf und die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die überholte kapitalistische Ordnung stützt, können demokratischer Rechte verteidigt und die kommunalistische und faschistische Reaktion in Indien und überall auf der Welt besiegt werden.“