Die politische und wirtschaftliche Krise im Libanon verschärft sich zusehends. Seit mehr als fünf Wochen finden im ganzen Land Streiks und Proteste statt, an denen sich massenhaft Arbeiter und arme Bauern, unabhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit, beteiligen.
Am 12. November rief der libanesische Nationale Gewerkschaftsbund einen Generalstreik aus, der sich gegen die Misswirtschaft der Regierung und ihre Weigerung richtet, die Forderungen der Demonstranten, darunter die Bildung einer neuen Regierung, umzusetzen.
Die Demonstranten strömten auf die Straße, errichteten Straßensperren und riefen „Alle bedeutet alle!“. Es ist der Schlachtruf der Protestbewegung gegen sämtliche Parteien, um die Abschaffung des gesamten, auf Religion beruhenden politischen Systems zu erreichen.
Die Universitäten und Schulen, die letzte Woche kurzzeitig wieder geöffnet wurden, sind bis auf weiteres erneut geschlossen. Schüler und Studenten demonstrieren derweil gegen die korrupte Regierung, fehlende Arbeitsplätze und grundlegende Sozialleistungen, sowie die rasant steigenden Lebenshaltungskosten.
Bei Alfa and Touch, dem staatseigenen Mobilfunkanbieter, streiken die Beschäftigten für Lohngarantien.
Die Bankbeschäftigten setzen ihren Streik aus Angst um ihre Sicherheit fort, nachdem Kontrollen für Transfers ins Ausland, das Abheben von Dollars sowie Einschränkungen bei Krediten eingeführt wurden. Aufgrund dieser Maßnahmen hatten einige private Arbeitgeber die Gehälter bereits gekürzt. Auch der Wert des libanesischen Pfunds auf dem Schwarzmarkt stinkt immer weiter, sodass die Preise für importierte Güter steigen und Lebensmittel gehamstert werden.
Treibstoff wird bereits rationiert, Tankstellen werden geschlossen. Es heißt, dass es in einer Woche keinen Treibstoff mehr geben wird.
In der Zeitung Al-Akhbar wird unter Berufung auf Daten der libanesischen Zentralbank erklärt, die Verbraucherschulden seien auf 21 Milliarden Dollar gestiegen. Dazu kommen Hypothekenschulden in Höhe von 13 Milliarden Dollar, d.h. die Haushalte zahlen Zinsen in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar. Diese Kredite haben wiederum zu einem starken Anstieg der Immobilienpreise geführt, sodass die Wohnkosten einen beträchtlichen Teil der Löhne auffressen. Viele Schuldner können ihren Zahlungsverpflichtungen nun nicht mehr nachkommen oder Kredite zurückzahlen.
Laut einem Szenario der Weltbank könnte durch eine weitere Entwertung der Währung die Hälfte der Bevölkerung unter die offizielle Armutsgrenze fallen. Zumal die Krise den Libanon bereits in die Rezension gestoßen haben könnte.
Das Syndikat der Privatkrankenhäuser kündigte an, dass das medizinische Personal ab dem 15. November in den Streik treten werde, wenn die Regierung weiterhin Zahlungen an die Krankenhäuser verweigert. Durch die Bankenkrise wird es obendrein unmöglich, Dialysefilter, Gefäßstützen zur Behandlung von Herzerkrankungen und andere medizinische Ausrüstung zu kaufen, die in Dollar bezahlt werden müssen.
Die provokanten Äußerungen des libanesischen Präsidenten Michel Aoun in einer Fernsehansprache am Dienstag verstärkten die Wut noch weiter. Er erklärte, der Libanon werde in eine „Katastrophe“ abgleiten, wenn die Demonstranten nicht wieder nach Hause gehen und eine Rückkehr zum Normalzustand im Land ermöglichen. Er fügte hinzu, wenn die Demonstranten „in diesem Staat keine anständigen Menschen in Regierungsämtern sehen, sollen sie auswandern. Sie werden nicht an die Macht kommen.“
Kurze Zeit später zogen Demonstranten vor den Präsidentenpalast in Baabda, einem Vorort von Beirut. Dort wurden sie von Soldaten in Jeeps, Stacheldraht und einer Einheit der Bereitschaftspolizei in voller Schutzausrüstung aufgehalten, die in Dreierreihen aufmarschiert war. Entlang der Demonstrationsroute sprühten die Demonstranten Graffiti, so zum Beispiel den Satz „Wie schlafen Sie nachts, Herr Präsident?“. Aus Wut über Aouns Äußerungen forderten sie die Politiker und ihre Handlanger auf, das Land zu verlassen. In anderen Orten überall im Land zündeten Demonstranten Autoreifen an, warfen Steine auf Soldaten und blockierten Straßen.
Alaa Abou Fakher, ein Mitglied der von den Drusen dominierten Progressiven Sozialistischen Partei, wurde vor den Augen seiner Frau und seines Kindes von einem Soldaten durch einen Kopfschuss getötet, als sie in Khaldeh südlich von Beirut demonstrierten. Ein Sprecher des Militärs erklärte, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Angeblich sei es ein Querschläger gewesen, der abgefeuert wurde, um Demonstranten an einer Straßensperre zu vertreiben. Gegen den verantwortlichen Soldaten läuft vorgeblich ein Ermittlungsverfahren. Fakher ist damit das zweite Todesopfer der grundsätzlich friedlich verlaufenden Proteste.
Nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Saad Hariri, einer Marionette Saudi-Arabiens, am 29. Oktober, hat sich die Protestbewegung etwas abgeschwächt. Er ist jedoch weiterhin der Chef einer Übergangsregierung, bis Aoun die Unterstützung des Parlaments für einen neuen Ministerpräsidenten gewonnen hat, der laut Verfassung ein sunnitischer Politiker sein muss. Hariri hat sich geweigert, erneut das Amt des Ministerpräsidenten anzutreten, solange er keine Technokraten- oder unabhängige Regierung bilden kann. Gemeint ist damit eine Regierung mit wenigen oder keinen Mitgliedern der Hisbollah, die vom Iran unterstützt wird, oder Aouns Freier Patriotischer Bewegung, angeführt von dessen Schwiegersohn und Außenminister, Gebran Bassil.
Hariris Rücktritt erschien zunächst wie ein Zugeständnis an die Demonstranten. Allerdings erlaubt diese ihm und seinen Kumpanen, einige der Forderungen der Demonstranten als ihre eigenen zu übernehmen, etwa die nach einer nicht-konfessionell basierten Regierung und so ihre Position zu stärken.
Hariri wurde kurz vor dem Beginn der Proteste im September nach Saudi-Arabien bestellt, um angeblich über die Wirtschaftskrise im Libanon und einen möglichen Kredit zu sprechen. Er wird jedoch von Riad unter Druck gesetzt, den politischen Einfluss der Hisbollah – und damit des Iran – im Libanon auszuschalten. Allerdings läuft das den Interessen von Aoun und seiner Freien Patriotischen Bewegung, der größten Einzelpartei im Parlament, sowie der Hisbollah zuwider. Letztere verfügt zusammen mit ihrem schiitischen Verbündeten Amal über den größten Koalitionsblock und hat den größten Stimmanteil gewonnen.
Die Hisbollah, Amal und Hariris Zukunftsbewegung haben Mohammad Safadi aus Tripolis als neuen Ministerpräsidenten nominiert. Der 75-jährige Unternehmer und ehemalige Finanzminister hat sein Milliardenvermögen in Saudi-Arabien gemacht. Sollte die Nominierung angenommen werden, hätte seine Regierung die Aufgabe, ein Paket von „Wirtschaftsreformen“ durchzusetzen, die für die ohnehin schon verarmte libanesische Arbeiterklasse weitere, drastische Sparmaßnahmen bedeuten würden. Das Paket wäre die Gegenleistung für einen Kredit in Höhe von elf Milliarden Dollar, der letztes Jahr bei einer internationalen Konferenz versprochen wurde.
Safadi war an einem umstrittenen Immobilienprojekt an der libanesischen Küste beteiligt, an dem sich Proteste gegen die illegale Privatisierung von öffentlichem Eigentum entzündet hatten. Letzten Monat wies er Vorwürfe zurück, er habe seine Position in der Regierung benutzt, um das Land für einem Schleuderpreis zu kaufen. Safadis Ehefrau Violette ist Ministerin in Hariris Übergangskabinett.
Indem die politische Elite des Libanon einen solchen Mann als Ministerpräsidenten vorschlägt, verdeutlicht sie ihren vollständigen Bankrott sowie ihre Isolation. Sie setzt sich damit bewusst über die Hauptforderung der Demonstranten nach einer politischen Säuberung des gesamten korrupten politischen Systems hinweg. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass Safadis Name genannt wurde, um die Reaktionen darauf festzustellen und eine Unterstützung für Hariris Technokratenregierung zu gewinnen. Die Ankündigung führte zu Protesten in Safadis Heimatstadt Tripolis, einer sunnitischen Hochburg.
Die Hisbollah und ihr Verbündeter Amal haben ihrerseits versucht, die bestehende Ordnung zu stärken, die sie selbst miterrichtet haben. 2016 unterstützten sie die Ernennung Aouns zum Präsidenten und Hariris zum Ministerpräsidenten, weil sich auf diese Weise ihre politische Macht und ihr Einfluss erhöhten. Ihren Versprechen, Korruption und Misswirtschaft auszurotten, kamen sie nach.
Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah warnte seine Anhänger, jede Veränderung der Regierung würde die Lage nur noch weiter verschlimmern, da die Bildung einer neuen Regierung und die Lösung der Krise eine lange Zeit in Anspruch nehmen würden. In Anlehnung an seinen iranischen Verbündeten warf er den USA und Israel vor, sie würden die Proteste hinterrücks unterstützen. Er verteufelte die Demonstranten, schickte Hisbollah-Aktivisten, um die von Demonstranten errichteten Straßensperren zu räumen, und attackierte die Gegner der Regierung. Dies provozierte eine Reihe von gewaltsamen Zwischenfällen, aber auch eine Gegenreaktion: einige Journalisten der Hisbollah-nahen Tageszeitung Al-Akhbar sollen aus Protest gegen ihre Hetze gegen die Demonstranten gekündigt haben.
Vor Kurzem hat Nasrallah versucht, sich der Forderungen der Demonstranten anzupassen, lobte diese und forderte die Justiz auf, bei der Verfolgung korrupter Funktionäre „tapfer“ zu sein. Er hat die Richter sogar dazu aufgerufen, mit den Mitgliedern seiner Partei zu beginnen: „Wenn es dabei um jemanden aus der Hisbollah geht, nur zu. Beginnt mit uns, beginnt mit uns.“
Die Protestbewegung im Libanon besteht aus unterschiedlichen sozialen und politischen Schichten und hat keine klare politische Perspektive. Die diversen bürgerlichen Gruppen, Fachkräfteverbände und kleinbürgerlichen improvisierten Gruppen innerhalb der Bewegung bieten den Arbeitern und Armen keinen Ausweg, trotz ihres Widerstands gegen die bestehende politische Ordnung.
Tatsächlich birgt das politische Vakuum enorme politische Gefahren, darunter die sehr reale Gefahr einer Intervention der Regionalmächte oder ihrer lokalen Stellvertreter. Es fällt auf, dass Washington, Tel Aviv, Paris und Riad bisher wenig zu den Proteste gesagt haben – abgesehen von den leeren Anliegen, die „legitimen Forderungen der Demonstranten nach einem Ende von Korruption und Misswirtschaft ernst zu nehmen“ und „die Demokratie zu erhalten“. In Wirklichkeit sind sie dazu entschlossen, die politische Krise zu nutzen, um die Hisbollah als wichtige politische Kraft im Libanon und Syrien auszuschalten, und so den Einfluss des Irans in der Region zurückzudrängen. Der Iran wiederum ist entschlossen, die libanesische Regierung zu ermutigen, die Proteste niederzuschlagen, um dies zu verhindern.
Die Kämpfe im Libanon entwickeln sich vor dem Hintergrund einer wachsenden Welle von Kämpfen der Arbeiterklasse im Nahen Osten und Nordafrika, zu der auch die Streiks und Demonstrationen in Algerien, im Sudan, Ägypten und zuletzt im Irak zählen. Die libanesischen Arbeiter müssen auf diese Kräfte sowie auf die Arbeiter im Rest der Welt zugehen, um gemeinsam für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus zu kämpfen.